USA wussten, dass man Russlands rote Linien bei Nato-Expansion überschritt
Seite 2: Verbündete mischen sich ein
- USA wussten, dass man Russlands rote Linien bei Nato-Expansion überschritt
- Verbündete mischen sich ein
- Auf einer Seite lesen
Mitte der 2000er Jahre verschlechterten sich die amerikanisch-russischen Beziehungen, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass Putin auf die US-Kritik an seinem wachsenden Autoritarismus im eigenen Land wütend reagierte und sich die USA gegen seine Einmischung in die ukrainischen Wahlen 2004 wehrten.
Doch wie der damalige Präsident der New Eurasia Foundation, Andrej Kortunow, der heute Generaldirektor des Russian International Affairs Council ist, in einer diplomatischen Depesche vom September 2007 erklärte – Kartunow hat sowohl die Politik des Kremls als auch den gegenwärtigen Krieg öffentlich kritisiert –, waren auch Fehler der Vereinigten Staaten dafür verantwortlich, darunter Bushs Invasion im Irak und die Tatsache, dass für Putins Zugeständnisse wenig Gegenleistung erbracht wurde. Kortunow sagte laut Depesche:
Putin hatte sich zu Beginn seiner zweiten Amtszeit eindeutig für eine "integrative" Außenpolitik entschieden, die durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 und gute Beziehungen zu führenden Politikern wie Präsident Bush
… sowie anderen führenden Nato-Verbündeten beflügelt wurde. "Allerdings machte eine Reihe vermeintlich antirussischer Initiativen", zu denen auch Bushs Ausstieg aus dem ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) und "die weitere Ausdehnung der Nato" gehörten, "Putins Hoffnungen letztlich zunichte".
Was folgte, war ein anhaltender Trommelwirbel an Warnungen vor der Nato-Erweiterung, insbesondere im Hinblick auf die benachbarten Länder Ukraine und Georgien, die größtenteils von Washingtons Nato-Verbündeten ausgesprochen wurden.
Der ehemalige diplomatische Berater des französischen Präsidenten, Maurice Gourdault-Montagne, warnte, dass die Frage des ukrainischen Nato-Beitritts für Moskau nach wie vor äußerst heikel sei, und kam zu dem Schluss, dass, wenn es in Europa noch einen potenziellen Kriegsgrund gebe, es die Ukraine sei,
… heißt es in einer Depesche vom September 2005.
Er fügte hinzu, dass einige in der russischen Regierung das Gefühl haben, wir würden zu viel in ihrer Hauptinteressenzone hineinwirken. Die Frage könnte sein, ob die Russen einen ähnlichen Schritt wie 1968 in Prag unternehmen, um zu sehen, wie der Westen reagieren wird.
Dies ist nur eine von vielen Warnungen französischer Offizieller, dass die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die Nato "russische 'Stolperdrähte' durchqueren würde". In einer Depesche vom Februar 2007 berichtet der damalige französische Generaldirektor für politische Angelegenheiten, Gérard Araud, von "einer halbstündigen Anti-USA-Rede" Putins, in der er "alle Punkte" der russischen Unzufriedenheit mit dem Verhalten der US-Führung miteinander verknüpfte, darunter "der Unilateralismus der USA, ihre Verleugnung der real vorhandenen Multipolarität [und] die antirussische Stoßrichtung der Nato-Erweiterung".
Deutschland äußerte ebenfalls wiederholt Bedenken über eine drohende russische Gegenreaktion auf einen Aktionsplan zur Nato-Mitgliedschaft (MAP) für die Ukraine und Georgien, wobei der damalige stellvertretende nationale Sicherheitsberater Rolf Nikel betonte, dass der Beitritt der Ukraine besonders heikel sei.
Während Georgien "nur ein Insekt auf der Bärenhaut" darstelle, sei die Ukraine untrennbar mit Russland verbunden und gehe auf Großfürst Wladimir von [Kiew] im Jahr 988 zurück,
… so Nikel laut der Depesche.
Andere Nato-Verbündete wiederholten ähnliche Bedenken. In einer Depesche vom Januar 2008 bekräftigte Italien, man sei ein "starker Befürworter" des Beitritts anderer Staaten zum Bündnis, "sei jedoch besorgt darüber, Russland durch eine übereilte Integration Georgiens zu provozieren". Der damalige norwegische Außenminister (und heutige Ministerpräsident) Jonas Gahr Støre äußerte sich in einer Depesche vom April 2008 in ähnlicher Weise, auch wenn er darauf bestand, dass Russland kein Veto gegen Entscheidungen der Nato einlegen dürfe.
Gleichzeitig sagt er, dass er die Einwände Russlands gegen die Nato-Erweiterung verstehe und dass das Bündnis darauf hinarbeiten müsse, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren,
… heißt es in dem Telegramm.
Fast vollständiger Konsens
Die Fachleute und Analysten, mit denen sich die US-Beamten austauschten, machten ebenfalls deutlich, dass die russischen Eliten über die Nato und ihre Erweiterung besorgt seien. Man fragte sich, was diese unternehmen würden, um ihr entgegenzuwirken. Viele der Einwände wurden vom damaligen US-Botschafter in Russland William Burns übermittelt, der heute Bidens CIA-Direktor ist.
Nach Gesprächen mit verschiedenen "russischen Beobachtern" aus regionalen und US-amerikanischen Denkfabriken kam Burns in einer Depesche vom März 2007 zu dem Schluss, dass "die Nato-Erweiterung und die Stationierung von US-Raketenabwehrsystemen in Europa die tiefe russische Angst vor einer Einkreisung nähren".
Der Beitritt der Ukraine und Georgiens "stellt für Russland ein 'unvorstellbares' Dilemma dar", berichtete er sechs Monate später und warnte, dass Moskau "in Georgien genug Unruhe stifte" und darauf baue, dass "anhaltende politische Unruhen in der Ukraine" das verhindern würden. In einer besonders weit vorausschauenden Serie von Depeschen fasste er die Ansichten von Wissenschaftlern zusammen.
Danach seien die sich abzeichnenden Beziehungen zwischen Russland und China größtenteils "das Nebenprodukt einer 'schlechten' US-Politik". Die Annäherung sei wenig nachhaltig – "es sei denn, die unablässige Nato-Erweiterung bringe Russland und China noch näher zusammen".
In der diplomatischen Kommunikation wird auch mitgeteilt, dass sich russische Intellektuelle aus dem gesamten politischen Spektrum immer wieder in dieser Weise äußerten. In einer Depesche vom Juni 2007 werden die Worte des "liberalen Verteidigungsexperten Aleksej Arbatow" und des "liberalen Herausgebers" einer führenden russischen außenpolitischen Zeitschrift, Fjodor Lukjanow, wiedergegeben, wonach Russland – nachdem es "alles getan hat, um den USA nach dem 11. September zu 'helfen', einschließlich der Erschließung Zentralasiens bei den Anti-Terror-Einsätzen der Kriegskoalition" –, erwartet habe, "dass Russlands 'legitime Interessen' respektiert werden".
Stattdessen, so Lukjanow, sei man konfrontiert worden "mit der Nato-Erweiterung, einem Nullsummen-Wettstreit in Georgien und der Ukraine und dem Bau von US-Militäreinrichtungen in Russlands Hinterhof".
Die Ukraine war auf lange Sicht der potenziell am stärksten destabilisierende Faktor in den amerikanisch-russischen Beziehungen, angesichts der tiefen Emotionen und der Nervosität, die das ukrainische Streben nach einer Nato-Mitgliedschaft auslöst,
… so der Ratschlag von Dmitri Trenin – dem damaligen stellvertretenden Direktor des russischen Zweigs des in den USA ansässigen Carnegie Endowment for International Peace – in einem von Burns verfassten Telegramm im Februar 2008.
Für die Ukraine, so seine prophetische Einschätzung, würde es bedeuten, "dass Elemente innerhalb des russischen Establishments ermutigt würden, sich dort einzumischen. Das wiederum würde die USA dazu veranlassen, feindlich gesinnte politische Kräfte zu befördern, was die Vereinigten Staaten und Russland in eine klassische Konfrontation zueinander brächte".
Tatsächlich war die Ablehnung der Nato-Osterweiterung, insbesondere was die Ukraine und Georgien betrifft, "einer der wenigen Bereiche in Sicherheitsfragen, in denen unter den russischen Entscheidungsträgern, Experten und der informierten Bevölkerung fast völliger Konsens herrscht", heißt es in einer Depesche vom März 2008, in dem Verteidigungs- und Sicherheitsexperten zitiert werden.
Die Ukraine sei die "letzte Bastion", mit deren Fall Russlands Einkreisung vervollständigt würde, so ein Verteidigungsexperte. Der Beitritt des Landes zur Nato werde von der russischen politischen Elite allgemein als "feindlicher Akt" betrachtet.
Andere Experten warnten davor, "dass Putin gezwungen wäre, auf die nationalistischen Gefühle Russlands zu reagieren, die sich gegen die Mitgliedschaft Georgiens richten". Ein Angebobt zur Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine oder für Georgien würde dazu führen, dass der genuine Wunsch des russischen Militärs nach Zusammenarbeit mit der Nato verschwindet.
Dieser Artikel wird in Kooperation mit Globetrotter in Zusammenarbeit mit dem American Committee for U.S.-Russia Accord veröffentlicht. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann