Über Impfstoffe zur digitalen Identität?

Seite 2: Argumentation mit Menschenrechten

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Laut der Unternehmensberatung Accenture geht es dabei in erster Linie um den Artikel 6 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in dem es heißt, dass jeder Mensch das Recht hat, überall als rechtsfähig angesehen zu werden.

Als PR-Maßnahme liefert der Konzern auch gleich ein Video mit, in dem mit eingängigen positiven Beispielen gezeigt wird, wozu digitale Identitäten dienen können. So steht ein Flüchtling ohne Ausweisdokumente an der Grenze und kann seine Identität nicht nachweisen, eine Mutter bekommt keine Impfung (!) für ihr Kind, da sie keine Geburtsurkunde vorlegen kann, und ein Tourist verliert seinen Pass im Ausland, muss aber dringend nach Hause zurückkehren. Weitere Beispiele auf der Internetpräsenz von ID2020 verweisen auf den Nachweis von Impfungen über Grenzen hinweg, den Identitätsnachweis einer Flüchtlingsfamilie unabhängig von ihrem Heimatland sowie auf chronisch Kranke, die immer eine Kopie ihrer Akte zur besseren Behandlung bei sich haben könnten.

Die Logik: Eine digitale Identität ist praktisch, kann nicht vergessen werden, ist notwendig zur Ausübung grundlegender Rechte und kann im Ernstfall sogar Leben retten.

Staatliche Datenverwaltung als Gefahr

Entsprechend sehen ID2020-Mitarbeiter unsere Daten in großen, zentralisierten Datenbanken gefährdet, da Beamte mit Zugriff darauf die Daten missbrauchen, Unterlagen verlegen oder sie ohne Erlaubnis weitergeben könnten. Stattdessen sei eine digitale Identität im Sinne der Menschenrechte nötig, deren individuelle Strukturen im Besitz und unter der Kontrolle der Nutzer seien und die international akzeptiert und vertrauenswürdig sei. Allerdings sei Technologie nicht alles und Gesetze und Regelwerke müssten erlassen werden, um Benutzung und Abruf der Daten zu regeln. Beispielsweise seien rechtliche Rahmen notwendig, die den Zusammenbruch der Regierungskontrolle in Katastrophengebieten (!) einbeziehen.

Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie die Kontrolle der Benutzer über ihre Daten transparent gestaltet werden soll und ob eine demokratische Einbindung der Menschen bei der Schaffung und Gestaltung solcher Systeme vorgesehen ist. Bisher ist dahingehend nichts in den Verlautbarungen der Initiative zu finden. Eine dezentralisierte Datenspeicherung wäre prinzipiell auch in den heutigen Systemen vorstellbar, ohne dafür transnationalen Konzernen die Hoheit über unsere Identitäten zu überlassen, zumal noch nicht einmal klar ist, ob die Daten bei den teilnehmenden Unternehmen tatsächlich dezentral gespeichert würden und welche Kontrollmöglichkeiten die Menschen dahingehend ausüben können.

Sollten keine Bemühungen seitens der Initiative zur Herstellung von mehr Transparenz und Partizipation folgen, stellt sich die Frage, weshalb man transnationalen Unternehmen wie Microsoft, Accenture oder der Rockefeller Stiftung blind vertrauen sollte. Das gilt besonders angesichts der Tatsache, dass es sogar Staaten Schwierigkeiten bereitet, sich gegen die globale Konzernmacht zu behaupten. Wie sollten das Bürger im Fall von Missbrauch tun? Warum nicht die Einführung von demokratischen Strukturen, die kommerzielle Firmen mit der Lösung von Problemen beauftragt, ohne ihnen die Kontrolle über das Gesamtsystem zu überlassen? Und wozu der dezidierte Hinweis auf die gesetzliche Regelung in Katastrophensituationen (wie derzeit)? Zur Klärung solcher Fragen benötigt man Zeit. Zeit, die wir laut ID2020 nicht haben.

Notwendigkeit, schnell zu handeln

In einer Übersicht zum ID2020-Projekt mahnt die Interessengemeinschaft zur Eile, da es ein dringendes drei- bis fünfjähriges Zeitfenster ("an urgent three- to five-year-window") zur Umsetzung digitaler Identitäten gebe. Eine nicht-digitale Lösung des Identitätsproblems könne zum Ausschluss von Personen [ohne Identitätsnachweis, d.V.] sowie zu Identitätsdiebstahl und Genozid (!) führen.

Dementsprechend stelle sich nicht die Frage, ob digitale Identitäten einführt werden, sondern wie ("The Question isn't 'if' digital ID will be implemented and ultimately supplant what we have today, it's already happening. The real question is how").

Die heraufbeschworenen Negativszenarien sowie der Nachdruck zu schnellem Handeln geben Anlass zur Skepsis. Parallelen zum Umgang mit der aktuellen Coronakrise tun sich auf. Auch hier gehe es nicht darum, ob ein Impfstoff kommt, der allen Menschen dieser Erde verabreicht werden soll, sondern nur wie und wann. Alternativen werden mit Verweis auf ähnliche Negativszenarien und Zeitdruck aus der Debatte gedrängt und als gefährliche Verschwörungstheorien gebrandmarkt, um sie ohne Sachdiskussion abschmettern zu können. Doch während man die Menschen in Europa noch in Richtung digitaler Identitäten unter Konzernkontrolle schubsen muss, ist man anderenorts bereits einen Schritt weiter.