Über das Ziehen von Grenzen

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Thomas Pynchon, "das einmalige enfant terrible der amerikanischen Literatur", wie er vom Time Magazine genannt wurde, hat ein neues Buch veröffentlicht: "Mason & Dixon". Es ist ein ziemlich dicker historischer Roman, der von den Taten und Aufenthaltsorten des britischen Astronomen Chalers Mason und des Geometers Jeremiah Dixon handelt. Im 18. Jahrhundert wurden sie von der British Royal Society beauftragt, eine Grenze zwischen den britischen Kolonien Pennsylvania und Maryland zu ziehen. Diese Grenze, die man Mason-Dixon-Grenze nennt, wurde ein Jahrhundert später zum blutigsten Schlachtfeld im amerikanischen Bürgerkrieg.

In anderen Teilen der Erde behielt man die internen Grenzen des britischen Kolonialreiches für die internationalen Grenzen zwischen neu gebildeten Staaten (Indien und Pakistan, Irak und Kuweit, etc.) bei, wodurch ähnliche Katastrophen geschaffen wurden. Dasselbe gilt für die anderen Kolonialmächte und ihre Kolonien (Äthiopien, Zaire, Ruanda ...) sowie für die Balkanländer, die zwar keine wirklichen Kolonien, aber doch Provinzen der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und des ottomanischen Reiches waren. Die von ihren früheren Herrschern festgelegten Grenzen wurden von der jugoslawischen Union und dem unabhängigen Staat übernommen. Diese Grenzen wurden von allen beteiligten Parteien bekämpft und vom Krieg überflutet.

Vance-Owen klingt wie Mason-Dixon. Wenn es um das Ziehen von Grenzen auf den Landkarten "unbedeutender" Nationen geht, gibt es immer irgendeinen britischen schmallippigen Lord. Grenzen sind an sich SCHLECHT. Um Grenzen werden immer Kriege geführt. Sie sind wie häßliche Narben auf den Landkarten unseres Planeten, die manchmal bluten und manchmal zeitweilig verheilen, indem sie die normalen Menschen auf beiden Seiten unglücklich sein lassen. Das ist so, als hätten wir nichts besseres mit unserem Planeten zu tun, als Grenzen auf ihm einzuzeichnen.

Es gibt beispielsweise einen Menschen in Mostar, der mir schrieb, daß er selbst ein bosnischer und kroatischer und sein Vater ein kroatischer und slowenischer Staatsangehöriger ist, während seine Stiefmutter slowenische und bosnische und die Großmutter bosnische und jugoslawische Staatsangehörige sind. Das läßt eine Familienvereinigung fast unmöglich werden. Wo immer sie hingehen, wird einer immer ein Fremder sein müssen. Nach seinem Brief könnte er jedoch im selben Haus leben, in dem ich wohne. Um aber körperlich in die USA zu kommen, würde er einen Paß und ein Visum benötigen, was ein junger Mann im Soldatenalter wie er kaum bekommen wird.

Nur ziehen jetzt die Vereinigten Staaten die Grenzen (das Dayton-Abkommen) und nicht mehr der britische Adel. Das ist so ähnlich, wie wenn man sagen würde: Laßt uns ein paar Grenzen mehr machen, damit wir den Wilden zuschauen können, wie sie in einen Krieg geraten. Dann werden wir eine hübsche dicke Grenze um den Krisenherd ziehen, so daß niemand entkommen und unseren Frieden stören kann (das neue Einwanderungsgesetz ...).

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer