"Über den Tod sprechen"
Die Phänomenologie des Todes in der Corona-Krise
Selten zuvor war der Tod so sichtbar wie jetzt. In der Corona-Krise manifestiert sich die Fragilität und Verletzlichkeit des menschlichen Lebens in aller Schärfe. Doch warum wird die Angst vor dem Sterben gerade jetzt so akut erfahren? Und warum nehmen wir gerade jetzt so vieles auf uns, um dem Tod zu entrinnen?
Wir befinden uns in einer Krise - darin besteht kein Zweifel. Der Begriff "Krise" leitet sich - wie übrigens auch das Wort "Kritik" - vom altgriechischen Verb "krínein" ab, was so viel heißt wie trennen, unterscheiden. Doch die jetzige Krise, die zweifellos paradigmatischen Charakter hat, zeichnet dennoch eine neue semantische Dimension.
Im Angesicht von Corona wird "die Krise" - im tatsächlichen Sinne - zu einem Zustand, in dem die Fähigkeit zur Unterscheidung und zur differenzierten Beurteilung abhandengekommen ist. Paradigmatisch ist die Krise dennoch, weil sie eine existentielle und zugleich kollektive Krise ist. Sie betrifft die individuelle Existenz ebenso, wie die Sphäre des Gesellschaftlichen, des Gesundheitlichen, des Ökonomischen und des Politisch-Institutionellen. Sie ist - so könnte man sagen - allumfassend.
Dass in dieser Krise das Vermögen zur differenzierten Unterscheidung und Beurteilung - bei der Bevölkerung ebenso, wie in der Politik - verloren gegangen ist, hat auch damit zu tun, dass eine Epidemie eine sehr neue und für uns quasi unbekannte Situation ist. Denn es ist inzwischen gut 100 Jahre her, dass die spanische Grippe etwa 50 Millionen Menschen das Leben kostete.
Dazu kommt, dass Presse und Medien eine regelrechte Informationsflut über die Öffentlichkeit hereinbrechen ließen, was ein kritisches Filtern der Informationen oft sehr erschwerte und immer noch erschwert. Man zeigte uns Bilder von überfüllten Krankenhäusern, weinenden Pflegekräften und Ärzten, die am Ende ihrer Kräfte waren. Wir sahen Militärkonvois in Bergamo, die laufend zum Abtransport von Särgen herbeibeordert wurden und die Massengräber in New York, die zum Zwecke der Bestattung der Corona-Opfer ausgehoben wurden.
Wie hätte man mit diesen Szenen vor Augen auch glauben können, dass es sich wahrhaft nicht um die Pest handeln könnte?
Die Politik hat nach bestem Wissen und Gewissen reagiert und den staatsweiten Notstand ausgerufen. Sie hat das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit gestillt. Wir haben unsere individuellen Freiheiten für die Gesundheit und für die Sicherheit vor dem Virus aufgegeben. Doch vielleicht ist es auch so, dass dieses starke Bedürfnis nach Sicherheit und die zweifelsohne erstaunlich große Bereitschaft, eigene Freiheiten aufzugeben, schon länger da waren - doch das sei nur am Rande bemerkt.
Angst vor dem Virus ist die Angst vor dem Tod und vor dem Sterben
Der kollektive Notstand und der mediale Konformismus ließen uns glauben, wir befänden uns tatsächlich im Krieg. Dazu passt es, dass in manchen Landesteilen Militärpatrouillen aufmarschierten. Auch viele Staatsoberhäupter und Medien bedienten sich dieser Tage einer martialischen Rhetorik und tun es zum Teil immer noch.
Mittlerweile dürfen wir es wagen zu erahnen, dass es sich bei dem unsichtbaren Feind vielleicht doch nicht um den "schwarzen Tod der Moderne" handeln könnte, so wie er einst im Mittelalter wütete und große Teile der Weltbevölkerung dezimierte. Auch müssen wir vielleicht doch nicht in Bunker gehen oder in entlegene Landhäuser flüchten, wie es jene zehn jungen Leute in Boccaccios famoser Novellensammlung "Dekameron" getan haben, als Florenz um 1348 von der Pest heimgesucht wurde.
Doch die Angst vor dem neuen Virus ist nach wie vor groß. Aber freilich ist es nicht die Angst vor dem Virus selbst, sondern es ist die Angst vor dem Tod und vor dem Sterben.
Natürlich ist das keine sonderlich tiefgründige Erkenntnis, aber ich frage mich, warum der Tod und auch die Angst davor, gerade jetzt und in solch intensiver Weise erfahrbar werden? Auch frage ich mich, warum wir gerade in dieser Krise dazu bereit sind, alles erdenklich Mögliche zu tun, um das Todesrisiko für Andere und uns selbst so beflissen zu minimieren?
Wer es in dieser Zeit wagen möchte, über den Tod zu reden, ist gut beraten, Vorsicht walten zu lassen. Denn er betritt sensibles Terrain. Und doch scheint es mir wichtig zu sein, gerade jetzt über ihn zu sprechen. Denn selten zuvor schien der Tod so präsent wie jetzt.
Die Schriftstellerin Christa Schyboll sagte einmal: "Unsere Endlichkeit liegt so extrem nah vor uns, dass wir sie vor lauter Nähe einfach nicht sehen." Darin liegt sicher etwas Wahres. Obwohl man geneigt sein könnte hinzuzufügen, dass wir den Tod heute gerade aufgrund seiner Nähe vielleicht auch gar nicht sehen wollen.
Und doch ist der Tod ein ständiger und stiller Begleiter. Jeder Moment könnte unser letzter sein. Im Grunde wissen wir nie, ob wir, wenn wir zu Bett gehen, am nächsten Morgen wiedererwachen. Doch für gewöhnlich, bringt uns diese Ungewissheit nicht um den Schlaf. Vielleicht aber auch deshalb, weil wir den Gedanken daran verdrängen. Wir sind recht gut darin, Dinge zu verdrängen, die uns nicht bekömmlich sind. Manchmal gelingt es uns besser, manchmal gelingt es weniger gut.
In dieser Krise ist es zugegebenermaßen schwer, sich die Gedanken an das Sterben vom Leib zu halten. Und obwohl der Tod schon immer da war, kommt es einem fast schon so vor, als würde erst jetzt gestorben. Vor gar nicht allzu langer Zeit wurde noch weitgehend "anonym" gestorben. Doch plötzlich verfolgen wir das Sterbegeschehen auf digitalen Dashboards und zählen die Toten beinahe im Stundentakt. Dabei zeigen wir uns ungewohnt echauffiert darüber, dass nun plötzlich gestorben wird.
Der natürliche Lauf der Dinge und die Seuche, die sich der Kontrolle entzieht
In der Zeit vor Corona wurde von den Medien fast täglich über Verkehrstote, sterbende Kinder in der Dritten Welt, Bürgerkriegsopfer oder Flüchtlingsdramen berichtet. Dennoch betrachteten wir diese Geschehnisse mit einer gewissen Gelassenheit. Ein unbehagliches oder gar empörtes Gefühl flammte nur kurz auf. Freilich, diese Dinge passieren nicht vor unserer Haustür, sondern ereignen sich in sicherer Entfernung - zumindest wird es gemeinhin so empfunden. Jedenfalls schien die empfundene Distanz groß genug, um sich nicht in einem bedrohlichen Sinne verantwortlich zu fühlen.
Doch die lokale Distanz allein kann die vorherrschende Intensität der "neuen" Todes-Phänomenologie auch nicht restlos erklären.
In Italien sterben jedes Jahr ca. 600.000 Menschen. Auch dieses Jahr wird die Zahl der Gestorbenen - wenn sich Corona nicht doch noch als die Pest entpuppt -, mehr oder minder gleich ausfallen. Doch zeigen wir uns auch davon meist nur wenig beeindruckt. Und das, obwohl bei weitem nicht jeder aufgrund einer "natürlichen" Todesursache sein Leben lässt. Es gibt in Italien jährlich etwa 700.000 Haushaltsunfälle und 200.000 Verkehrsunfälle mit Verletzten oder Toten. Viele Menschen sterben aufgrund von Alkohol- und Drogenbissbrauch, an den indirekten oder direkten Folgen der Luftverschmutzung und an chronischen oder akuten Krankheiten.
Sicherlich, diese Dinge geschehen meist im stillen Hintergrund und doch wissen wir darum - wenn auch oft nur vorbewusst. Aber aus irgendeinem Grund scheinen wir das bereits als "natürlichen Lauf" der Dinge akzeptiert zu haben. Wir haben uns - wenn man so will - daran gewöhnt. Das mediale Echo ist moderat, die Bestürztheit hält sich in Grenzen.
Doch warum ist das bei Corona so anders?
Irgendwie, so scheint es, klammern wir das Virus aus dem Kontext des Natürlichen aus. Das Virus erscheint als eine neue Bedrohung, eine unsichtbare Gefahr mit einer ganz eigentümlichen Dynamik. Wir fühlen uns hilflos und ausgeliefert. Die Seuche entzieht sich - so empfinden wir es zumindest - unserer Kontrolle. Und vielleicht schaffen wir es, angesichts der medialen und gesellschaftlichen Omnipräsenz des Virus, auch einfach nicht mehr, die Augen davor zu verschließen, was die Seuche hinterlässt. Wir sind die Gegenwart dieses Erregers nicht gewohnt und wollen uns ihm nicht beugen. Und das, obwohl jedes Jahr sehr viele Menschen an anderen - uns bereits bekannten - Viren sterben.
Aber die Angst vor Corona - das sagte ich bereits - ist ja in Wahrheit die Angst vor dem Tod selbst. Also müssen wir uns fragen - und darauf will ich eigentlich hinaus - warum haben wir denn eine solch große Angst vor dem Sterben? Und warum wollen wir es mit solchem Aufwand bekämpfen?
Eine abschließende Antwort auf diese Fragen zu finden, ist natürlich schwer. Viele kluge Geister haben sich darüber bereits den Kopf zerbrochen und sind teils zu ähnlichen, teils zu divergierenden Antworten gekommen. Ist es die Ungewissheit, was nach dem Tod kommt? Ist es die Liebe zum Leben? Ist es das Nicht-akzeptieren-Wollen der eigenen Endlichkeit? Ist es die Angst vor dem ewigen Nichts? Ist es die Furcht vor dem Kontrollverlust?
Diese Fragen sind existentieller Natur. Sie treiben uns, seitdem wir ein Bewusstsein vom Tod haben. Was sich allerdings geändert haben dürfte, ist der Umgang mit den möglichen Antworten auf diese Fragen.
Dass wir als Individuen einer modernen Gesellschaft den Umgang mit dem Tod und der eigenen Endlichkeit verlernt haben, ist schwer zu leugnen. Wir erkennen den Tod - auch wenn wir häufig Gegenteiliges behaupten - nur sehr widerwillig als Teil unseres Lebens an. Und genau genommen ist er das auch nicht. Denn den Tod erleben wir nicht. Er ist - wenn man es in philosophischer Terminologie sagen möchte - ein Nicht-Phänomen. Dennoch ist er für das Leben in einem gewissen Sinne konstitutiv. Das Verhältnis von Leben und Tod ist ein genuin dialektisches. Ob der Tod auch im ontologischen Sinne konstitutiv für das Leben ist, weiß ich nicht zu beantworten. Aber das Leben lässt sich wohl kaum ohne das Bewusstsein zum Tode denken. Und doch haben wir Schwierigkeiten, dies zu akzeptieren. Das war, so glaube ich, nicht immer so.
Der französische Historiker Philippe Ariès formulierte in den 1970ern eine erhellende historische Analyse des Todes. Darin beschreibt er ältere Gesellschaften, die es pflegten, jeden Abend im Sterbekleid zu Bett zu gehen, weil man sich des nächsten Tages nicht gewiss sein konnte.
Entfremdung zum Tod und Abkehr von einem spirituellen Glauben
Dass wir den Tod nicht mehr akzeptieren können, ist ein typisches Phänomen der Moderne. Es ist aber vielleicht auch so, dass uns ein spiritueller Glaube abhandengekommen ist - ein Glaube daran, was danach kommt oder kommen könnte. Stattdessen haben wir die Wissenschaft - im weitesten Sinne - zu unserer neuen Religion gemacht. Vielleicht auch, weil wir meinten, evidenzbasiertes empirisches Wissen sei zuverlässiger als die metaphysische Schatzkiste einer christlichen Theologie.
Normalerweise erleben Kirche und Religion in Krisenzeiten eine Hochkonjunktur. Die Menschen suchen in Krisen gemeinhin nach Halt. In dieser Krise allerdings, konnte die Kirche dieser Aufgabe nicht gerecht werden. Es wäre ja gerade ihre Aufgabe gewesen, in dieser Zeit des Sterbens, Trost zu spenden und den Tod zu thematisieren. Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, die Nähe zu ihrer Glaubensgemeinschaft zu suchen und den Sinn für Glaube und Spiritualität zu stärken. Stattdessen kam der Ostersegen "Urbi et orbi" vor leerem Schauplatz und hinter verschlossenen Türen im Petersdom - ex cathedra.
Dieses Szenario passt symbolisch gut zu der Entfremdung zum Tod und der Abkehr von einem spirituellen Glauben, die in der Moderne im Allgemeinen, und in dieser Krise besonders sichtbar zu werden scheinen. Die ideengeschichtlichen Voraussetzungen dafür, sind allerdings - so meine ich - bereits im griechischen Denken der Antike angelegt - denn es war eine Metaphysik des Verobjektivierens und des Präsentischen. Das Unverfügbare war den alten Griechen unheimlich. Daher beschränkte sich ihr Wahrheitsbegriff auch auf das Unverborgene (alt-griechisch Ἀλήθεια). Diese Vorliebe für das Präsentische und das haptisch Fassbare scheint in der heutigen Gesellschaft zentraler denn je.
Lebensrettung wird zur Industrie
In früherer Zeit unterstand der Tod weit weniger unserer aktiven Kontrolle. Wir betrachteten ihn als Teil eines unverfügbaren Fatums. Heute haben wir, aufgrund intensivmedizinischer Ressourcen und der Technik, die Möglichkeit, den Zeitpunkt unseres Todes quasi ad libitum hinauszuzögern. Man könnte auch von einer "Hegemonie eines technologischen Machbarkeitswahns" oder einer "Ideologie des Verfügbarmachens" sprechen. Lebensrettung wird zur Industrie.
Gerade in der Corona-Krise zeigt man sich bemüht, die Grenzen des Machbaren auszuloten. Wir sind bestrebt, jedes Leben zu retten und zu verlängern - und das um jeden Preis. Und dies auch - oder vielleicht gerade - bei Patienten, deren Lebensfaden aufgrund ihrer Krankheitsgeschichte und ihres Alters bereits besonders dünn ist. Das Virus wäre in solchen Fällen oft nur noch der letzte Todesstoß für meist schon moribunde Personen in Agonie.
Wissenschaftstheoretisch, oder genauer, kausaltheoretisch betrachtet, wäre das Virus dann ein "nicht hinreichender, aber notwendiger Teil einer nicht notwendigen, aber hinreichenden Bedingung" für den Tod dieser Person. Dennoch bemühen wir einen enormen medizinischen Kraftakt, um die Vitalparameter des Patienten noch etwas länger am Flackern zu halten.
Das mag zwar tugendhaft anmuten, doch frage ich mich, ob dieser auf die Spitze getriebene Humanismus ein würdevolles Sterben in Wahrheit nicht verbietet? Ich frage mich, ob wir womöglich nicht dem rein quantitativen Aspekt des Lebens, um den Preis des Qualitativen, den Vorzug geben? Wir wollten ja mit den strengen Schutzmaßnahmen die Würde des Menschen eigentlich wahren. Doch stattdessen hören wir von älteren Menschen in Altersheimen oder Krankenhäusern, die einsam und getrennt von ihren Liebsten dem Tod entgegenschauen. Wir sehen Menschen, die Angst haben und sich nach der Nähe zu ihren Kindern und Enkelkindern sehnen. Sind wir angesichts dieser Umstände nicht eher im Begriff, die Würde des Menschen zu verspielen?
Der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble äußerte unlängst in einem vielbeachteten und zugleich stark polarisierenden Interview, dass nicht alles dem Schutz des Lebens untergeordnet werden könne. Zugleich hat Schäuble auf einen sehr wichtigen Punkt hingewiesen, der bis dato weitgehend unbeachtet blieb. Er sagte: "Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen." Schäuble weist auf eine wichtige semantische Divergenz zwischen der Verabsolutierung des Lebenswertes und der Achtung der Menschenwürde hin. Insofern schließen sich die Inkaufnahme eines erhöhten Risikos zu sterben und die Achtung der menschlichen Würde nicht per se aus.
Mir scheint es in diesem Zusammenhang besonders wichtig, eine Frage in den Raum zu stellen, die bisher - medial zumindest - noch wenig Beachtung fand: Ist es überhaupt im Interesse einer jeden älteren Person, die womöglich gesundheitlich stark vorbelastet ist, in Abwesenheit ihrer Lieben und am Schlauch eines Intubationsgerätes hängend das Zeitliche zu segnen? Denn auch das hat mit der Würde und der Autonomie des Patienten zu tun. Die Würde des Menschen zu achten, heißt auch, den Willen des Patienten zu respektieren und danach zu verfahren.
Der Arzt sollte also nicht nur die bloß quantitative Verlängerung des Lebens omni ratione im Sinn haben, sondern immer auch das qualitative Wohl des Patienten auf Basis seiner Autonomie. Denn das ist es auch, was der Hippokratische Eid zum Ziel hat.
Schäubles Aussage impliziert aber auch, dass die gesellschaftliche Verantwortung zur Risikominimierung nicht überstrapaziert werden darf. Denn die mittlerweile abgegriffene Frage der Verhältnismäßigkeit, wird sich in dieser Krise kaum ausräumen lassen.
Eine Politik der Risikominimierung kann niemals die Grundlage für eine humane Gesellschaft sein
Man könnte diese unbequeme Thematik auch anhand folgender Fragen konkretisieren: Kann es eine moralisch zwingende Norm sein, unsere grundlegendsten Freiheiten zugunsten kollektiver Sicherheit zu opfern? Gilt der gebotene Schutz für das Leben absolut? Müssen alle Interessen hinter die Beförderung eines maximalen gesundheitlichen Schutzes zurückgestellt werden? Oder werden wir womöglich, aufgrund eines heute allenthalben waltenden biologischen Protektionismus, - in Umkehrung zu Goethes Mephistopheles - eher zu einer Kraft, die zwar das Gute will, aber Böses schafft?
Diese Fragen sind heikel, wie vieles in dieser Krise. Doch kann und darf es in einer demokratischen Gesellschaft niemals eine vertretbare Maxime sein, über einen längeren Zeitraum unsere Grundfreiheit zugunsten der Sicherheit zu opfern und sei es auch zum Zwecke der Gesundheit. Denn, wie auch der italienische Philosoph Giorgio Agamben bemerkt, "ist eine moralische Norm, die besagt, dass man auf das Gute verzichten müsse, um das Gute zu retten, ebenso falsch, wie die, welche verlangt, dass man auf die Freiheit verzichten müsse, um die Freiheit zu retten".
Die Lockdown-Politik ist eine Politik der Risikominimierung. Doch kann eine Politik, die sich kollektive Sekurität auf die Fahne schreibt und in einem paternalistischen Sinne meint, das Risiko für gesellschaftliche Akteure stets minimieren zu müssen, konsequent zu Ende gedacht, niemals die Grundlage für eine humane Gesellschaft sein. Sie wird, so meine ich, das Gegenteil bewirken.
Wären wir stets bemüht, alles zu verbieten, was Leib und Leben gefährden könnte, dann müssten wir auch das Automobil verbieten, den Tabakkonsum, den Genuss alkoholischer Getränke. Ja, wir müssten - in letzter Konsequenz - sogar das Bergsteigen, das Sonnenbaden oder das Benutzen einer Haushaltsleiter untersagen, weil es unserer physischen Gesundheit abträglich sein könnte.
Das mag für viele Ohren trivial klingen, doch eine konsequente Politik der Sekurität unterschlägt die Tatsache, dass wir in unserem Selbstverständnis als autonome und eigenverantwortliche Akteure solche Gefahren als Alltagsrisiken akzeptieren, gerade weil wir uns auf unsere Mündigkeit und Verantwortungsautonomie berufen. Und dabei ist es längst nicht so, dass wir bei all diesen Dingen des Alltags nur uns selbst in Gefahr brächten. Und doch geben wir diese Freiheiten nicht auf, weil uns der Preis dafür viel zu hoch erschiene. Vielleicht auch, weil wir das Risiko für uns selbst und andere für überschaubar und kalkulierbar halten. Auch wenn das in Wahrheit weder im Straßenverkehr, noch bei vielen anderen alltäglichen Aktivitäten der Fall ist.
Und deshalb kann eine Politik der individuellen Entmündigung und der biologischen Sicherheit, eine funktionierende und für bürgerliche Autonomie eintretende Demokratie niemals moderieren. Und es ist wichtig, diesen Aspekt im Auge zu behalten, denn er ist das Elixier unserer Demokratie.
Ob wir aus der Corona-Krise auch Lehren für die Zukunft ziehen werden ist nicht ausgemacht. Doch sicher ist, wir sollten lernen, über den Tod zu sprechen - gerade in dieser Krise. Ob es uns helfen wird, die vorherrschende Todesaversion ein wenig zu relativieren, wird sich zeigen. Aber es könnte wenigstens ein Anfang sein, eine etwas versöhnlichere Sicht auf den Tod zurückzugewinnen.
Valentin Widmann hat Geschichte und Philosophie an der Universität Wien und Innsbruck studiert. Daneben studierte er an der Karl-Franzens-Universität in Graz "Political, Economic and Legal Philosophy (PELP)". Seine Abschlussarbeit "Die Aktualität des aristotelischen Seelenbegriffes für die moderne Körper-Geist-Debatte" verfasste er im Bereich der analytischen Philosophie des Geistes und der normativen Ethik. Drei Jahre unterrichtete er in den Fächern Geschichte und Philosophie am Humanistischen Gymnasium "Walther von der Vogelweide" in Bozen. Nun arbeitet er an Forschungsprojekten zur Humanismus-Transhumanismus-Debatte und zur Thematik "Künstliche Intelligenz und Ethik". Daneben publiziert er verschiedenste Beiträge zu gesellschaftspolitischen und ethischen Themen. Mail: valentinwidmann@hotmail.de