Über den Verfall der Kunst des politischen Lügens

Die Bush-Regierung soll systematisch (natur)wissenschaftliche Erkenntnisse manipuliert haben, wenn es ihrer Politik dienlich war

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Wirklichkeit ist Konstruktion. Zu unterscheiden ist jedoch etwa zwischen der Wirklichkeitskonstruktion unseres virtuellen Wahrnehmungsapparats und politischen Konstruktionen, bewussten Verzerrungen von Wirklichkeit hin zur Wünschbarkeit der Verhältnisse. Ortega y Gasset meinte, dass es sogar eine Pflicht des Politikers werden könnte zu lügen. Innerhalb gewisser Grenzen, wie der Philosoph einschränkte.

Der im juristischen Blitzverfahren liquidierte rumänische Diktator Nicolae Ceausescu verließ eindeutig diese Grenzen, als er die amtlichen Wetternachrichten fälschen ließ. Es war einfacher, dem fröstelnden Volk amtlich höhere Temperaturen zu verkünden, als mehr Brennstoffe zu beschaffen. Wer in Rumänien fror, litt so oder so an Verblendung. Nicht nur Stalin ließ Fotografien fälschen, wenn politische Gegner auch in effigie verschwinden sollten. Jene berühmte Fotografie, die den Sieg der großen vaterländischen Armee mit dem Hissen der Sowjetfahne auf dem Reichstag dokumentierte, war zwei Tage nach der glorreichen Tat entstanden (vgl. Ein Bild lügt mehr als tausend Worte). Die Kunst der politischen Lüge, das Glattbügeln der Fakten wider die Wirklichkeit hat die älteste Tradition. Ist nicht die höhere Staatskunst respektive Diplomatie darauf angewiesen, durch geschicktes Lügen die Sache des Staates und vielleicht auch die der Gesellschaft zu fördern? Und besteht politische Kreativität nicht gerade darin, das Wirkliche mit dem Möglichen zu konfrontieren, um die Verhältnisse zum Besseren hin zu gestalten? Für uns ist es gleichwohl ein fundamentales Prinzip der Demokratie, dass die Bürger einer Gesellschaft sich ihre Meinung auf Grund richtiger Informationen bilden. Nur so können sie unserem offiziellen Glauben nach ihre Macht richtig und verantwortungsvoll ausüben. Demokratie ohne den festen Grund von Fakten unter den Füßen des Wählers wäre eine Scheindemokratie.

Kriegerisches Spiel mit Fakten

Die Bush-Regierung ist wegen ihres kriegerischen Spiels mit Fakten in das Fadenkreuz einer kritischen Öffentlichkeit geraten. Dabei waren die irakischen, Amerika unmittelbar bedrohenden Massenvernichtungswaffen nach neuesten Erkenntnissen wohl nur eine von diversen politischen Zweckkonstruktionen, vulgo: Lügen, um die Akzeptanz der Bürger zu sichern. Mehr als 60 bekannte Wissenschaftler, darunter 20 Nobelpreisträger, werfen der Bush- Regierung in einer gemeinsamen Erklärung nun vor, systematisch wissenschaftliche Fakten entstellt bzw. manipuliert zu haben, wenn es politischen Interessen in zahlreichen hochbrisanten Entscheidungsbereichen wie Umwelt, Gesundheit, biomedizinischer Forschung und Atomwaffen dienlich erschien.

Die Union of Concerned Scientists hat einen 38-Seiten Report vorgelegt, in dem die Vorwürfe gegen den politisch willkürlichen Umgang mit naturwissenschaftlichen Fakten detailliert werden. Danach soll die Regierung wiederholt unabhängige Forschungsberichte durch eigene Wissenschaftler zensiert und unterdrückt haben. In diversen Fällen wissenschaftlicher Politikberatung seien unabhängige wissenschaftliche Gutachten abgelehnt worden. Wissenschaftliche Beiräte bzw. Sachverständigengremien seien mit zweifelhaften politischen Angestellten oder Industrielobbyisten durchmischt worden, wenn man sie nicht sogar aufgelöst habe.

Politik der Ignoranz

Den erzürnten Wissenschaftlern ist klar, dass solche Praktiken auch anderen US-Regierungen nicht fremd waren. Zuvor seien jedoch wissenschaftliche Erkenntnisse weder so systematisch noch so umfassend manipuliert worden und auch nicht die Öffentlichkeit so weitgehend über die Folgen einer solchen Politik der Ignoranz im Unklaren belassen worden. Kurt Gottfried, Vorsitzender der Gruppe und emeritierter Physikprofessor, wirft der Regierung vor, Praktiken an den Tag zu legen, die fundamental im Konflikt mit dem Geist der Wissenschaft und ihrer Methoden stünden. Schwerwiegende Risiken für die langfristigen Lebensbedingungen der Nation, wenn es um Wohlstand, Gesundheit und militärische Stärke geht, würden ignoriert, relativiert oder totgeschwiegen. Wohl und Wehe der Öffentlichkeit hänge jedoch von der Genauigkeit und Zuverlässigkeit solcher Daten ab und die steht und fällt mit der Integrität der Wissenschaftler, die sie analysieren.

John H. Marburger III, Wissenschaftsberater von Präsident Bush und Chef des Office of Science and Technology Policy im Weißen Haus, wiegelt ab. Der Report bestünde aus einer weitgehend unzusammenhängenden Liste von Vorwürfen. Marburger mag darin kein großes Muster politischer Willkür und Ignoranz zu erkennen. Auch Allan Bromley, ehemaliger Wissenschaftsberater von Bushs Vater, sieht in dem Report nicht mehr als ein politisch motiviertes Statement, um Stimmung im Wahlkampf zu machen.

Das streiten die Unterzeichner vehement ab, da der Bericht bereits seit einem Jahr in Arbeit sei und ohnehin wesentlich nur solche Erkenntnisse verbreite, die bereits in weitem Umfang von den Medien und Non Governmental Organizations verbreitet worden seien. Einer der in der Tat alten Vorwürfe gegenüber der Bush Regierung ist die Anklage, die globale Aufwärmung zu ignorieren. So sei ein nicht genehmer Bericht über den Klimawechsel einfach zensiert worden. Erkenntnisse über die Emission von Quecksilber durch Kraftwerke seien genauso unterdrückt worden wie - Bushs puritanischen Auffassungen über die Verzichtbarkeit vorehelichen Geschlechtsverkehrs sei Dank - Informationen über den Kondomgebrauch. Auch Sidney Drell, ein ehemaliger Physikprofessor von Stanford und Nichtunterzeichner, hält die Ergebnisse nach seinen Erfahrungen für plausibel. Alles was nicht mit der Politik dieser Regierung harmoniere, sei nicht willkommen.

Freiheit der Wissenschaft malträtiert

Dabei hatte noch Bushs Vater zumindest öffentlich verlautbaren lassen, dass Wissenschaft auf freier Forschung und der Objektivität im Umgang mit Fakten beruhe. Doch Bush I und auch der frühere Präsident Richard M. Nixon hätten eine gefährliche Praxis eingeführt, um politischen Zielsetzungen und Interessen Vorrang zu geben. Russell Train, Chef der Environmental Protection Agency unter Nixon und Ford, wirft der gegenwärtigen Regierung vor, diese Freiheit der Wissenschaft in noch umfassenderer Weise malträtiert zu haben. Auch Bill Clinton hat unter Eid gelogen. Aber sein "nicht-sexuelles Verhältnis" zu einer Praktikantin ist eine Lachnummer des politischen Integritätsverlusts gegenüber den Bush-Praktiken, jedes verantwortliche Risk-Management zur Farce werden zu lassen.

Ein Beispiel ist die Unterdrückung einer Studie der Environmental Protection Agency, um die Änderung des "Clear Air Act" von 1990 durch den von der Bush-Regierung propagierten Clear Skies Act zu forcieren. Kevin Knobloch, Präsident der Union of Concerned Scientists, beschreibt den Vorgang, der fatal an Ceausescus originelle Wetterpolitik erinnert: Was sich heute die Bush-Regierung leiste, wäre ähnlich dem Fall, dass das Weiße Haus den amtlichen Wetterdienst anweisen würde, eine Hurrikan-Vorhersage zu unterdrücken, um einen klaren Himmel zu prophezeien. So komme der Hurrikan, ohne dass die Bürger rechtzeitig gewarnt worden wären.

In der Erklärung insistieren die Wissenschaftler darauf, dass die Verzerrung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Interesse einer einseitigen Politik nun ein Ende haben müsse. Jetzt müsse sich der US-Kongress mit dieser staatlichen Informationsunterdrückungspolitik ernsthaft befassen und die Integrität der Wissenschaft im politischen bzw. gesellschaftlichen Entscheidungsprozess wieder herstellen.

Die Doppelnatur von Medien

Mediendemokratien produzieren die Fakten, die sie brauchen. Hier wird die Doppelnatur von Medien, einerseits Wirklichkeit zu vermitteln, andererseits Wirklichkeit zu konstruieren und zu manipulieren, besonders deutlich. Politiker haben daraus gelernt, in einem Gelände ohne saubere Markierungen das Verhältnis von Wirklichkeit und Wünschbarem nach partikularen Interessen zu bestimmen. In einer Welt, in der man mit Tatsachen nach Belieben umspringt, ist die einfachste Tatsachenfeststellung bereits eine Gefährdung der Machthaber, meinte Hannah Arendt. Doch an Hartnäckigkeit seien Tatsachen allen Machtkombinationen überlegen. Sollte Arendt damit Recht haben, besteht also noch Hoffnung, dass die Faktenverdreher des Weißen Hauses mit diesem Politikmodell langfristig nicht erfolgreich sind.