Über die Wechselwirkung von Lebensumständen und gebauter Umwelt

Daimler-Benz Museum von Ben Berkel. Bild: Julian Herzog / CC-BY-SA-4.0

Die Architektur der Gesellschaft - Eine Annäherung

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In einem seiner bekanntesten Werke beschreibt der Dichter John Godfrey Saxe, wie sich sechs blinde Wissenschaftler aufmachen, um das wahre Wesen des Elefanten zu erforschen. Der erste rennt gegen die Flanke des Rüsseltieres und behauptet, ein Elefant sei wie eine Wand. Der zweite bekommt einen Stoßzahn zu fassen und widerspricht: Nein, er sei wie ein Speer. Wie eine Schlange, beharrt der dritte, der den Rüssel in Händen hielt. Wie ein Baumstamm, widerspricht der vierte, denn er berührt ein Bein, und so weiter und so fort: Jeder greift und begreift nur seinen Teil und macht sich daraus seinen - falschen - Reim aufs Ganze.

Ist die Architektur, in und mit der wir leben, ist die gebaute Umwelt auch so ein Elefant, um den sich die Blinden kümmern? So direkt wird das zwar vermutlich niemand behaupten. Aber wenn man das Stichwort "problematische Wirklichkeitskonstruktionen" ernst nimmt, muss man wohl einräumen, dass unterschiedliche Beteiligte jeweils vor allem das wahrnehmen, was sie auch sehen wollen. Fraglos bietet die zeitgenössische Architektur viele Höhepunkte: In den Bann ziehende Kulturbauten (etwa die Hamburger Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron), spektakuläre Hochhäuser (beispielsweise das "1 Bligh" von Christoph Ingenhoven als jüngster Akzent in Sydneys Skyline) oder ambitionierte Stadien (etwa das Aquatic Center von Zaha Hadid in London), um nur einige hervorgehobene Beispiele und Bauaufgaben zu benennen. Gleichwohl scheint das Terrain durchaus vermint.

Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron. Bild: Robert Katzki / Public Domain

Was damit zusammenhängt, dass die Architektur im Alltag nicht besonders viel gilt. Auch in der Politik ist die Raumbezogenheit des Menschen kaum von Belang. Es hat den Anschein, als sei "Bauen" so etwas wie "very old school" - mithin ein gesellschaftliches Aufgabenfeld des 19. Jahrhunderts, wohingegen heute Nanotechnologie und Internet, Nuklearmedizin oder E-Commerce relevant sind.

Aquatic Center (London) von Zaha Hadid. Bild: Cmglee / CC-BY-SA-3.0

Auffällig ist zudem, dass die meisten Architekten sich gegenüber den Gründen und Folgen der gesellschaftlichen Großkrisen der Finanzwirtschaft und des Klimawechsels recht lethargisch verhalten. Eine Indifferenz, die, wenn man sie in konkrete Projekte übersetzt, entweder sogenannte Signature Buildings (wie das futuristische Daimler-Benz Museum von Ben Berkel in Stuttgart oder das ikonisch-verschlungene CCTV-Hochhaus in Peking von OMA/Rem Koolhaas) zu erzeugen scheint oder aber eine große Masse stumm und bieder wirkender Hausmannskost, die mal nur technizistisch-abstrakt, mal neoklassizistisch oder historisierend auftritt.

CCTV-Hochhaus in Peking von OMA/Rem Koolhaas. Bild: Dmitry Fironov / Public Domain

Allein, wenn es nach Aristoteles ginge, dann läge der überzeitliche Wesenskern der Architektur in der baulich-poetischen Reflexion dessen, "was sein kann", und nicht allein die technische Abbildung dessen, "was ist". Doch an die Stelle des Nachdenkens darüber, was ein gutes Leben sein könnte und nach welchen Räumen es riefe, ist der Gedanke des Bauens um jeden Preis getreten, egal welchen Inhalts. Dem soll hier anhand einiger Stichworte, die im gegenwärtigen Diskurs über Stadt, Urbanität und Architektur relevant sind bzw. zentrale Defizite aufzeigen, nachgespürt werden.

Immobilien: Heimat oder Betongold?

Im Streit über die Erscheinungsformen von Architektur werden die harten Realitäten eines immer anonymer werdenden Marktes häufig ausgeblendet. Das Metier selbst beklagt zwar, dass es hinterrücks seiner Gestaltungshoheit beraubt wird, gibt sich aber keine Rechenschaft über die tiefergehenden Ursachen. Es sind deren zwei. Die eine hat mit einem strukturellen Konservatismus der Bauherrschaft zu tun. Die andere mit den Wertvorstellungen der Nutzer. Die Architektur wird damit gleichsam in die Zange genommen.

Einerseits von den Investoren: Im Büro- und Verwaltungsbau, wo immer schnellere Nutzungszyklen und technische Veränderungen die Ansprüche verändern, setzt man auf möglichst viel Fläche, und die möglichst flexibel gestaltbar; und drum herum meist die ewig gleiche Glas- und Stahlhülle. Die Eintönigkeit liegt freilich nicht nur an der Einfallslosigkeit der Planenden, sondern auch an den Brandschutzbestimmungen, an den Achsrastern, die etwas mit einer flexiblen Nutzung der hinter der Fassade liegenden Büroräume zu tun haben, um unter dem Druck des Marktes das Letzte aus jedem Winkel herauszuholen. Und welcher Developer entscheidet sich unter Verzicht eines zusätzlichen Geschosses für gut proportionierte Räume mit Raumhöhen, die ihren Namen verdienten?

Ziel sind hocheffiziente Gebäude, die hohe Mieten erwirtschaften und in immer kürzeren Zeiträumen umgeschlagen werden können. So kommt es nicht von Ungefähr, dass bei den meisten Bauherrn die Mentalität eines Bankers aufscheint, der idealtypisch unter Baukultur bloß die Einheit von Baugenehmigung, Festpreis, Abnahme und Vollvermietung versteht.

Etwas anders liegt die Sache bei den Trägern des Wohnungsbaus. In der Regel sind sie - oder verstehen sich als - Teil eines Milieus, das Wohnen habituell buchstabiert. Sie folgen vermeintlich abgesicherten und tendenziell retroaktiven Vorstellungen von Behausung. Sie sind damit in den wenigsten Fällen die Träger von Innovation. Und da treffen sie sich, andererseits, mit den Bewohner und Nutzern: Mag man das bürgerliche Familien- und Wohnmodell auch als ein "hegemoniales" Kulturkonzept werten, so muss man doch sehen, dass die in diesem Modell implizierten Vorstellungen von Lebensqualität sich de facto bis heute als außerordentlich attraktiv erwiesen haben.

Dieser Befund überlagert sich nun leider mit einer anderen Entwicklung: Dass sich nämlich unser Kulturkreis im Übergang befindet von einer politisch motivierten, nicht-monetären Stadtentwicklung hin zu einer stärker privaten, an Gewinn und Rendite orientierten Steuerung. Für Architektur und Städtebau resultiert daraus eine starke Abhängigkeit von mobilen, stets abziehbaren Kapital.

Wenn die Renditen in anderen Anlagebereichen bzw. an anderen Standorten aussichtsreicher sind, dann kann abrupt ein Abzug der Finanzmittel erfolgen. Mit möglicherweise unübersehbaren Effekten in der konkreten Lebensumgebung. "Die enge Verflechtung der Finanzmärkte mit Architektur und Stadt wurde spätestens seit den 1990er Jahren weltweit zur Voraussetzung für die Entwicklung und Gestaltung von Raum", heißt es eingangs in einer Broschüre, die die Stiftung Bauhaus Dessau vor einiger Zeit anlässlich einer internationalen Konferenz auflegte. Allerdings: "Ursachen und Folgen dieser Verflechtung wurden in den letzten Jahrzehnten nur unzureichend untersucht. Erst die Immobilien- und Finanzmarktkrise scheint zumindest in Teilen der raumgestaltenden Disziplinen eine kritische Reflexion der Bedingungen und Möglichkeiten von Architektur und Planung zu befördern."

In der Tat ist kaum zu übersehen, dass Developer und Immobilientrusts den Städtebau heute massiv beeinflussen. Sie und ihre profitorientierten Malls, Bürotürme und Entertainment-Center setzen die Maßstäbe. Agieren kommunale Institutionen, denen Gemeinwohl vor Eigenwohl gehen müsste, als Bauherren, so erweisen auch sie sich zunehmend gesteuert von der Ellenbogenmentalität des internationalen Städte- und Standortwettbewerbs: Kultur- und Behördenbauten ebenso wie Wohnungsbau wetteifern in erster Linie um spektakuläre Wirkungen.

Und die vielzitierte "Festivalisierung" der Stadtentwicklung, die vornehmlich auf Großereignisse fokussiert und Manpower, Fach- und Entscheidungskompetenz sowie finanzielle Ressourcen in der Hoffnung bündelt, Synergieeffekte und sichtbare, exemplarische Erfolge zu erzielen, schwebt permanent in der Gefahr, zu Lasten einer notwendigerweise breiter angelegten urbanistischen Intervention zu gehen. Mit der Konsequenz, dass bestimmte Fragen, etwa nach Langfristperspektiven oder dem Verhältnis von symbolischem Ertrag zu realem (stadtgesellschaftlichem) Nutzen, lieber gar nicht erst gestellt werden.

Gleichwohl darf man - auch und gerade unter solchen Bedingungen - den Beitrag von Architektur und Städtebau für den "Produktionsversuch menschlicher Heimat" (Ernst Bloch) nicht unterschätzen. Die einzelnen Gebäude, ihr Herstellungsprozess ebenso wie ihr Zusammenspiel sind Indikatoren für den Lebenswert eines Ortes. Er wird in dreifacher Weise wahrgenommen: funktional im alltäglichen Gebrauch (als Gebrauchswert), ökonomisch über die Nachfrage als Wohn- und Arbeitsort (als Tauschwert) und emotional über das Erscheinungsbild und die Atmosphäre des Ortes (als Inszenierungswert). Schon deshalb ist eine Immobilie, ist Architektur weit mehr als eine (vermeintlich) sichere Anlageform (Betongold!) in Zeiten volatiler Finanzmärkte und Euro-Währungskrise.

Nun ist derzeit viel vom "Recht auf Stadt" die Rede. Gemeint sind damit Modelle der Planung und Stadtentwicklung, die sich emanzipieren von jener Logik der Finanzmärkte, die sich an Maximalrenditen orientiert; die lassen sich in der Bau- und Immobilienwirtschaft höchstens in Ausnahmefällen und an Ausnahmestandorten erzielen. Stichwort "Nachhaltigkeit": Es wäre an der Zeit, über neue Planungs- und Baufinanzierungsmodelle nachzudenken, mit denen privates und öffentliches Geld in einen sozial verträglichen, ressourcenschonenden und ökologisch korrekten Umbau der Städte gelenkt werden könnte - mit den Banken oder auch an ihnen vorbei, wenn die Rendite für sie nicht üppig genug ausfällt.