Über die Wechselwirkung von Lebensumständen und gebauter Umwelt
Seite 2: Schreckgespenst "Gentrifizierung"
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Dass Architektur im sozialen Sinne keineswegs passiv sei: darauf hat die Philosophin Heike Delitz in aller Entschiedenheit hingewiesen. "Alle Bauten weben mit an dem Stoff, aus dem die Gesellschaft ist; und neue Architekturen bedeuten, einen Unterschied, ein Anders-Werden oder ein Differenz in das Soziale einzuführen." Freilich ist das Verändern weder stets gut noch wohlgelitten. Wenn Stadtteil sich einer neuen Attraktivität erfreuen und aufgewertet werden, geht dies häufig mit einer schleichende Vertreibung der angestammten Bewohner einher.
Begrifflich auf den Punkt gebracht wird dieser Prozess heute gerne mit dem Anglizismus "Gentrifizierung". Das Kunstwort selbst geht auf die britische Soziologin Ruth Glass zurück. Sie bezeichnete mit dieser Herleitung von "gentry" (niederer Adel) die aufstrebenden Londoner Stadtteile, welche sie 1964 dokumentierte. Die "Veredlung" von Quartieren auf Kosten der ärmeren Mieter ist kein neues Phänomen. Neu ist allerdings die Haltung dazu: Wer Gentrifizierung sagt, ist dagegen.
Nicht ohne Grund. Denn was sich abspielt, ist, holzschnittartig gesagt, folgendes: Erst kommen "Pioniere" in ein gemischtes Viertel und stimulieren das Lebensgefühl, dann folgen Bessergestellte als "Gentrifier". Sanierungen heben Wohnungsstandard und Mieten; und die alten Mieter, die entweder die steigenden Kosten nicht mehr tragen können oder ganz einfach zum neuen Typus des Anwohners nicht mehr passen, werden hinausgedrängt. Die soziale Mischung geht zurück. Mit gutem Grund wenden sich viele lokale Initiativen - mal laut, mal massiv, mal kreativ - gegen bauliche Veränderungen.
Andererseits befeuert das Verhindern von Wohnungsneubau wiederum die Gentrifizierung, wovon gerade die Stadt Berlin ein Lied singen kann. Max Thomas Mehr schrieb dazu unlängst: "Während etwa in München oder in Freiburg jeder Quadratzentimeter der Innenstadt immer wieder daraufhin abgeklopft wird, ob da nicht doch Wohnungen gebaut werden könnten, kämpft das grünrote Milieu in Berlins gefragten Innenstadtbezirken um jede Pappel und gegen jede Verdichtung. Im einstigen West-Berlin ist der Widerstand besonders ausgeprägt. Ob es um die Randbebauung des Tempelhofer Feldes oder um eine Baulücke am Kreuzberg geht, ob um eine Brache am Kleistpark oder eine Kleingartenkolonie in Wilmersdorf - wohlgemerkt: beste City-Lage! - es finden sich immer Bürgerinitiativen gegen die Bebauung mit Wohnungen. Und manchmal wird daraus ein Volksentscheid." Und die Spirale der Verdrängung dreht sich immer weiter.
Die Sache ist also verzwickt, denn das, was man als Gentrifizierung bezeichnet, sind die negativen Folgen einer positiven Entwicklung. Kaum jemand hat etwas dagegen, wenn in einem heruntergekommenen Quartier - zumeist als innenstadtnaher Altbaubestand - wieder eine Infrastruktur entsteht und Wohnungen instand gesetzt werden. Doch weil ein "angesagtes" Quartier auch außerhalb desselben attraktiv ist, geraten die angestammten Mieter und die vielzitierten urbanen "Pioniere" angesichts steigender Preise unter Druck, erhalten - und das ist zentral: als Mieter! - den Wertzuwachs des Quartiers nicht als Free-Lunch.
Wer bleiben will, kommt im Laufe der Zeit um saftige Mietsteigerungen nicht herum. Wer sich dies nicht leisten kann oder will, wird dann den Wohnort wechseln. Eine wirtschaftliche Asymmetrie in diesen Prozessen ist virulent: während angestammte Mieter mehr zahlen müssen, profitieren auch angestammte Eigentümer unmittelbar, z.T. auch ohne selbst in den Aufschwung investieren zu müssen.
Lange hielt man das bloß für ein amerikanisches, durch schrankenloses Wirken der Marktkräfte bestimmtes Phänomen, das im europäischen, zumal deutschsprachigen Raum nicht gegeben sei. Die vielfache Sozialbindung des Eigentums stehe dem entgegen. Mittlerweile aber meint man Prozesse der Gentrifizierung in allen hiesigen Großstädten beobachten zu können: Erst kommen die "Pioniere" in ein gemischtes Viertel und stimulieren das Lebensgefühl, danach folgen die Yuppies (Young Urban Professionals), die Dinks (Double Income No Kids), schließlich die Bobos (Bourgeois Bohémien) und Hipster - und die fungieren dann, und sei es ungewollt, als "Gentrifier".
Sanierungen heben Wohnungsstandard und Mieten, die soziale Mischung geht zurück. Was in Zürich im "In-Quartier" Seefeld geschieht, hat seine Entsprechung in ausgesuchten Stadtteilen von Köln, Frankfurt, Stuttgart oder in Berlin, wo Prenzlauer Berg kaum aus den Schlagzeilen herauskommt und Kreuzberg, einst zweite Heimat der Migranten und Spielwiese der Alternativen, mittlerweile zum teuersten Bezirk aufgestiegen ist.
Aber sind soziale Polarisierung, Segregation und Gated Communities exakt das, was allenthalben passiert bzw. errichtet wird? Fraglos wird zwar an einzelnen Ecken das kulturelle Kapital der Pioniere in Wirtschaftskapital umgewandelt. Und man darf zurecht auch von der "Lattemacchiatisierung" manch einst verkommener Straße sprechen. Gleichwohl, dass unsere zukunftsorientierten Städte, was die Wohngebiete anbelangt, aus einem zirkulären System von Gentrifizierung und Vernachlässigung entstehen, scheint unsere Gesellschaft doch längst geschluckt zu haben, ohne nennenswerte Gegenwehr.
Und eigentlich wollen ja alle nur das Beste. Stichwort: "Bionade-Biedermeier". Jene Klientel, die in aufgewertete Viertel zu ziehen gedenkt, will zwar eine chic sanierte Wohnung, aber auch Authentizität, nicht bloß eine gründerzeitliche Stadt-Attrappe mit legendenumrankter Historie. Pech, wenn sich das erwartete Lebensgefühl dann nicht recht einstellen will.
Man kann sich - Land auf, Land ab - des Eindrucks nicht erwehren, dass aus Städten überall dort, wo renoviert, modernisiert und für zahlungskräftiges Publikum neu gebaut wird, zunehmend sauber geputzte Knoten werden, die nur noch im funktionalen Sinne interessant sein sollen. Und die dazugehörigen Tragödien kennen wir auch: Ein Viertel wird saniert, die alten Mieter, die entweder die steigenden Kosten nicht mehr tragen können oder ganz einfach zum neuen Typus des Anwohners nicht mehr passen, werden hinausgedrängt. In derselben Logik und in denselben Strukturen, in denen man ein Viertel sozial und kulturell "sanieren" kann, kann man ein anderes "verkommen lassen".
Beide Strategien sind für die Immobilienbesitzer und ihre Nutznießer (auch in der Politik) profitabel. Zudem machen sie die Dynamik des Systems aus, denn der Wert einer Immobilie ist kein absoluter, sondern ein relationaler. So erhält das Spekulieren mit dem Gebäude als Handelsobjekt seinen entscheidenden Antrieb.
Es handelt sich um einen vertrackten Prozess, der unterm Strich entweder die Schickimickisierung eines Stadtviertels für Auserwählte vorantreibt oder im Gegenteil die Möglichkeit eröffnet, eine Stadt kulturell und sozial verdichteter Unterschiedlichkeit leben, gar wiederaufleben zu lassen. Solche Widersprüche sind für die Stadt konstitutiv - und nicht aufhebbar. Prinzipiell stehen stets beide Optionen offen. (Das Förderprogramm "Soziale Stadt" wie auch das Quartiersmanagement in vielen Städten versuchen sich ja an einer dezidierten Aufwertung!)
Es braucht also ein Bewusstsein um die Grenze, an der die Chose zu kippen droht. Dann aber wäre das Arsenal der zur Verfügung stehenden Mittel - die ihre Wurzeln nachvollziehbarer-, doch vielleicht unzulänglicherweise in unserem Bau- und Planungsrecht haben - konsequenterweise auch einzusetzen: das Zweckentfremdungsverbot beispielsweise, der qualifizierte Mietspiegel oder die Erhaltungssatzung.
Geht man zu weit, wenn man behauptet, dass eine vitale Stadtgesellschaft von pulsierenden Ökonomien und deren schöpferischer Zerstörung lebt? Die viel gerühmte Kreuzberger Mischung bestand ja gerade in der Fähigkeit, wirtschaftliche Dynamik mit kreativen Prozessen zu verknüpfen und Neuankömmlinge mit einzubinden. Klar aber ist: Das verläuft nicht immer kampflos. Tatsächlich weist diese Entwicklung einen eisernen Kern auf, an dem man sich reiben muss, bis die Funken fliegen: Weil nur so - irgendwann - eine gesellschaftliche Übereinkunft darüber getroffen werden kann, was die Architektur für die Gesellschaft ausmacht.