Überwachen und Impfen: Corona, Kolonialismus und Biopolitik
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Die Erfindung des Impfens wird gern als Meilenstein medizinischen Fortschritts und zugleich als Beweis der Überlegenheit westlicher Rationalität betrachtet. Eitler Eurozentrismus spielt auch mit
Derzeit läuft die vermutlich umfangreichste Impfkampagne der Medizingeschichte. Die Erfindung des Impfens wird gern als Meilenstein medizinischen Fortschritts und zugleich als Beweis der Überlegenheit westlicher Rationalität betrachtet. Das macht sie zu einem Kernstück imperial-kolonialistischer Weltanschauungen, doch deren Blick auf die Geschichte ist getrübt von eitlem Eurozentrismus. Skepsis ist angebracht.
Am Beginn des Impfens stand die Geißel der Pocken, die man seit 1796 durch Verimpfen von harmlosen Kuhpocken bekämpfte (daher "Vakzination" von Vacca, lat. Kuh). 1871 brach die letzte schwere Pockenepidemie in Deutschland aus, 170.000 Menschen starben. Ein Reichsimpfgesetz sollte Rettung bringen. Fünf Sitzungen lang wurde im wilhelminischen Reichstag darüber gestritten, ob der Staat bestimmen darf, ob man geimpft wird, 1874 wurde die Pockenimpfung zur Pflicht.
Staatliche Impfpflicht ist Biopolitik
Jede Impfung ist ein Eingriff in den menschlichen Körper, den moderne Staaten seit Beginn der wissenschaftlichen Revolution auch zwangsweise anordnen. Ihre segensreiche Anwendung ist prototypisch für das, was Foucault Biopolitik nannte (Das Netz der Macht), und berührt das Verhältnis des Individuums zur Staatsmacht. Impfgegner, die dem Staat in die Quere kommen, gelten daher schnell als irrationale Querulanten. Denn wo, wenn nicht bei den durch Massenimpfungen besiegten Seuchen, hat der moderne Staat seine Rationalität je einleuchtender erwiesen?
Im Feudalstaat legitimierte sich die adlige Machtelite durch "blaues Blut" und Gottesgnade. Die Aufklärung stellte dies infrage und entmachtete Adel und Klerus seit 1789. Der bürgerliche Staat machte biologische Prozesse wie Fortpflanzung, Geburt, Sterben und Gesundheit zum Ziel regulierender Kontrolle.
Laut Foucault legitimiert sich diese "Biopolitik" moralisch: Die Verwaltung der Körper und Planung des Lebens behauptet, einer "Verantwortung für das Leben" zu folgen, die Soziologie, Demografie und Medizin auf den Plan treten lässt. In einer wissenschaftlich begleiteten "Wertsteigerung des Körpers" konstituiert sich eine Biopolitik der Bevölkerung, die ökonomisch auf Effizienz zielt (vgl. Heike Knops: Selbstbeherrschung als staatliches Machtinstrument).
Damit einher geht wachsende soziale und staatliche Kontrolle: Vom Ultraschallfoto für die werdenden Eltern bis zum Totenschein für die trauernden Hinterbliebenen kontrolliert die Medizin das Leben. Seit der Gründung des Collegium Sanitare in Preußen 1685 und der Société Royale de Médecine 1776 in Frankreich gilt moderner Politik, so Ludger Schwarte, die Gesundheit der Population als staatliches Ziel.
Foucault leitet die 'biologische Modernitätsschwelle' einer Gesellschaft aus der Entstehung einer empirischen Politikwissenschaft ab, die sich auf die Ökonomie und Demografie stützt. Dazu kommt, so Heike Knops, das "Sicherheitsdispositiv", welches Sozialhygiene, Medizin, den Diskurs der Sexualität und biologisches Wissen meint. Die Übertragung des Gefängnis-Dispositivs einer panoptischen Überwachung auf immer mehr Bereiche der Gesellschaft kann man hier anfügen.
Eine Pandemie legitimiert weitere Ausdehnung überwachender Kontrolle, die man kritisch sehen muss. Machthaber, die sich mit ideologisierter Medizin legitimieren, sind nichts Neues. Aber schon die historische Basis ist zweifelhaft: Westliche Machtansprüche schmücken sich gerade in der medizinischen Technik des Impfens mit fremden Federn. Koloniale Verbrechen wurden mit dem Glorienschein der "Zivilisierung" fremder Völker bemäntelt.
Das Impfen kam aus Indien
In Indien wurde schon Fünfzehnhundert vor Christus Bläscheninhalt von Pocken auf gesunde Menschen übertragen, um sie durch diese "Inokulation" vor der Krankheit zu schützen. Bei diesem Lebendimpfstoff kam es zu Infektionen und Todesfällen, doch man konnte immerhin den Zeitpunkt der Erkrankung kontrollieren.
In westlichen Darstellungen gebührt der Ruhm der Erfindung der Impfung jedoch nicht der Kulturnation Indien, sondern der damaligen kolonialen Besatzungsmacht Indiens, den Briten. Denn in der westenglischen Stadt Berkely hatte der Landarzt Edward Jenner einen Knaben erst mit harmlosen Kuhpocken, dann mit echten Pocken infiziert. "Das Ergebnis: Der Junge ist gegen Pocken immun. Ein moralisch fragwürdiger Menschenversuch, doch der 1.Juli 1796 wird zum Meilenstein der Geschichte des Impfens." (ARD-Doku "Immun! Geschichte des Impfens")
Weniger glorios stellt sich die Geschichte des britischen Impfens für den Zürcher Historiker Harald Fischer-Tiné dar, der die Zirkulation von Wissen zwischen Kolonien und britischer Kolonialmacht untersuchte. Am Beispiel der Pockenimpfung zeigt er, dass noch im 18. Jahrhundert die indische Medizin durchaus Beachtung in England fand, als etwa im Jahr 1767 John Z. Holwells Abhandlung "On the Manner of Inoculating for the Smallpox in the East Indies" erschien.
Mit Inoculation (auch Variolation) war zwar die nicht unbedingt die von der ARD berichtete Kuhpocken-Übertragung auf den Menschen gemeint, deren Erfolg dort als "mäßig" abqualifiziert wurde. Es ging vermutlich um abgeschwächte Pockenerreger aus Pusteln von genesenen Pockenkranken, die durch Ritzung übertragen wurden. Etwa jeder 30. Inoculierte starb, an den Pocken oder auch an unabsichtlich mit übertragenen anderen Krankheiten. Aber bei einer der häufigen Pockeninfektionen war die Todesrate ca. fünfmal größer.
Der Punkt ist dabei nach Fischer-Tiné, dass die imperiale Wissenschaft der Briten sich ein paar Jahrzehnte später selbstherrlich mit den fremden Federn der indischen Medizin schmückte. Dies entsprach einer rassistischen Haltung, die das kolonisierte Volk und seine Kultur abqualifizieren wollte - auch, um die Unterdrückung als huldvollen Gnadenakt der Zivilisierung verstehen zu können.
Ein "diskursives Manöver" war dabei, die notgedrungen zuzugestehenden Vorzüge der Ayurveda-Medizin einem weit zurückliegenden "goldenen Zeitalter" der Inder zuzuschreiben. Der zitierte Holwell "...verlegt den historischen Ursprung aller Pockentherapie auch kurzerhand ins vedische Indien (ca.1500-600 v.Chr.)" (Fischer-Tiné S.33, siehe "Literatur" am Ende des Artikels).
Viktorianische Überlegenheitsgefühle
Hintergrund war die voranschreitende Kolonialisierung Indiens, spätestens seit 1764 unter Führung der Eastindia Company, die als Vorläuferin heutiger multinationaler Konzerne ab dem Sieg der Briten über die Moguldynastien selbst Territorien besetzen durfte.
Nachdem das kleine Britannien mit seinen fünf Millionen Einwohnern die Herrschaft über 150 Millionen Inder erlangte, wobei man noch die Konkurrenz von Portugiesen, Holländern und Franzosen aus dem Feld geschlagen hatte, war ein gewisses Überlegenheitsgefühl verständlich.
Das viktorianische England sah sich zweifellos als führende Nation einer modernen europäischen Zivilisation. Fischer-Tiné betont jedoch eine koloniale Aneignung von indischem Wissen, welches dann, mit europäischer Wissenschaft weiterentwickelt, als segensreiche Zivilisation den "Wilden" (zurück-) gebracht wird.
Die Inder hatten schon lange ihre Inoculation (deren Ursprünge neben Indien auch in China, Persien oder dem Sudan vermutet wurden), die Briten lernten von ihnen - ohne es wirklich zugeben zu wollen. Bis in heutige Zeit debattiert die Royal Society of Medicine verbissen, ob die Kuhpocken-Vakzination in Indien vor jener britischen 1796 in Berkely existiert haben kann (Boylston 2012, Wujastyk 1987).
Als dann im 19. Jahrhundert von der kolonialen Regierung in Indien Zwangsimpfungen gegen die Pocken eingeführt wurden, gab es Misstrauen und Widerstand dagegen - der nicht unbedingt allein auf kultischem Aberglauben beruht haben muss. Etwas Misstrauen erscheint rückblickend nicht völlig unberechtigt, bedenkt man, dass dieselbe Kolonialmacht in ihren nordamerikanischen Kolonien pockenverseuchte Decken verteilen ließ, um indigene Völker auszurotten.
1880 wurde die einheimische Inoculation durch den Indian Vaccination Act verboten, wobei es zu einfach wäre, dies allein als rationale Politik einer überlegenen Kultur zu sehen. Sicher war die Vaccination der Inoculation überlegen. Es war aber zugleich ein Akt kolonialer Machtausübung, bei dem das ökonomische Interesse an der Ausbeutung des besetzten Landes sich ins Gewand des zivilisatorischen Heilsbringers kleidet.
Dazu kommentierte eine zeitgenössische Karikatur einer in Sanskrit erscheinenden Zeitschrift: "Der europäische Arzt ruiniert den indischen Patienten mit teuren Medikamenten" (Fischer-Tiné, S. 50). Unter der aktuellen Not der Covid-Pandemie wurde, nebenbei bemerkt, auch bereits die Rückkehr zur Inokulation als Übergangslösung vorgeschlagen (Gandhi 2020).