Überwachungskapitalismus und Wissenschaftssteuerung

Seite 2: Vom Verlag zum Betriebssystem - Dependence through Convenience

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Allein diese, nicht abschließende Liste der Angebote Elseviers zeigt: Elsevier hat ein Betriebssystem mit hoch-integrierten Diensten erschaffen, das ein Wissenschaftler in jeder Arbeitsphase nutzen kann.

Man tauscht sich mit seinen Kontakten in Mendeley aus, dort sammelt und verwaltet man zugleich seine Literatur. Preprints oder andere Dokumente stellt man in SSRN-ähnliche Repositories ein, die (wie bei SSRN teils der Fall) mit einschlägigen Journalen gekoppelt sind, oder auf einen lokalen Bepress-Server. Artikel erscheinen in Elsevier-Journalen, die in ScienceDirect nachgewiesen werden und deren Zitationen in Scopus erfasst sind. Wird eine wissenschaftliche Leistung dann bewertet, gehen darin Informationen aus Scopus und PLUM X ein.

Sogar Herausgeber eines nicht bei Elsevier erscheinenden Journals bemühen sich darum, dass dieses in Scopus indexiert oder via PLUM X ausgewertet wird. Forschungsdaten verwaltet man mit Hivebench und publiziert sie mit Mendeley Data, ihr Impact wird mittels PLUM X erfasst. Literatur, Forschungsdaten und Forschungsinformationen verwalten, teilen, publizieren, indexieren, analysieren, bewerten und jede dieser Tätigkeiten verkaufen - das alles bietet Elsevier. Die Resonanz und Bewertung der Forschung innerhalb der Wissenschaft messen Scopus und PLUM X, außerhalb der Wissenschaft erledigt dies Newsflo. Allerdings, man ahnt es, muss man das System nicht nur nicht verlassen, man kann es nicht umgehen und seine Apps nicht ignorieren.

Googleisierung?

Wer angesichts Elseviers beeindruckender Datensammlung auf den Vergleich mit Google verfällt, darf beunruhigt sein. Jedermann kann Googles Sammeleifer (durch Verlust auf Komfort) einigermaßen entgehen und alternative, starken Wert auf Privatsphäre setzende Suchmaschinen wie DuckDuckgo nutzen oder auf Android-Smartphone und GoogleMail verzichten.

Ein Wissenschaftler kann allerdings nicht verhindern, dass ein Dienstanbieter wie Elsevier ihn ausmisst. Selbst wer nicht in Elsevier-Journalen publizieren will, wird nicht verhindern können, dass seine Artikel in Scopus indiziert werden - besser noch: Er wird, sogar als etwaiger Anhänger eines der vielen Elsevier-Boykotte , die Indizierung in Scopus begrüßen, ist diese doch allein schon ein Zeichen von Reputation. Überdies erlaubt diese Indizierung, dass der Zitationsimpact (als vermeintlicher Qualitätsindikator) für seine Publikationen ermittelt wird und die Datenbank einen Hirsch-Index für ihn ermitteln kann.

Und sind die Publikationen erst einmal in der Welt, werden sie in einem der Elsevier-Dienste früher oder später wie von selbst Spuren hinterlassen: Etwa, wenn Leser sie in ihre Mendeley-Bibliotheken speichern oder sie in einer der vielen Datenquellen des Altmetrics-Dienstes PLUM X erwähnen. Wer sich als Wissenschaftler ehedem gegen die Nutzung der Literaturverwaltung Endnote entschloss, weil er seine Daten partout nicht dem Elsevier-Konkurrenten und Endnote-Anbieter Thomson Scientific anvertrauen wollte, sondern sich für Mendeley entschied, musste sich eingestehen, dass alle gutgemeinten Überlegungen und die Nutzung innovativer Software kleiner Anbieter angesichts Elseviers geschickter Akquise-Strategie irgendwann obsolet sind.

Derartiger Fatalismus dürfte sich genauso unter Hochschulen verbreitet haben, die sich aus ähnlichem Dafürhalten gegen die Nutzung des Forschungsinformationssystems CONVERIS, ebenfalls eines Produkts von Thomson Scientific, aussprachen und lieber auf das später von Elsevier gekaufte System PURE setzten. Schlimmer noch dürfte es die Open-Access-Community getroffen haben, die den Dienst SSRN und zahlreiche Bepress-Server bewarb und aktiv nutzte, um den nicht-kommerziellen Zugang zu wissenschaftlichen Informationen zu fördern - nur um eines Tages verdutzt festzustellen, dass man jahrelang sehr eifrig Content-Akquise für Elsevier betrieben hatte.

Und genau wie Android-Handys mit vorinstallierten Google-Apps wie Maps oder Mail ausgeliefert werden, geht Elsevier auch dazu über, Scopus und SciVal bei landesweiten Konsortien in einem Bundle mit seinen Publikationen zu vermarkten, so aktuell in Ungarn und kürzlich in Polen. Warum sich also als Wissenschaftsbürokrat den Kopf über angemessene Leistungsbewertung zerbrechen, wenn Elsevier doch ein Instrumentarium vermeintlich frei Haus liefert?

Data is King

Elsevier hat offensichtlich die Zeichen der Zeit früher erkannt und besser gedeutet als andere Anbieter, wie z.B. Wiley oder Springer Nature, die dem Motto Content is King verhaftet scheinen, und versteht sich lange nicht mehr Verlag, sondern als "global information analytics business". Erklärte Dienstleistung Elseviers sind "Information analytics" und damit längst nicht mehr der Vertrieb und Verkauf wissenschaftlicher Publikationen.

Die systematische Aufbereitung der in den oben erwähnten Services gesammelten Daten leistet in erster Linie das Angebot SciVal. Schon jetzt erweisen sich dessen Funktionalitäten als - je nach Sichtweise - verführerisch oder gefährlich: Für das Benchmarking sowie für Empfehlungen der Ausrichtung zukünftiger Forschung können zahlreiche Parameter ausgewertet und vielfältige Aussagen getroffen werden. Elsevier macht Einrichtungen SciVal unter anderem durch folgende Funktionen schmackhaft:

* "Create and select research entities: Test scenarios by modeling any Research Areas or groups such as newly evolving interdisciplinary Research Areas, groups of researchers to apply for a large-scale grant program, and departmental renovations"

* "Select metrics: Select and combine any set of metrics to measure an institution's or a country's productivity, citation impact, collaboration, subject disciplinarity, visibility and more."

* "Benchmark your progress: View the relative performance of your institution, specific departments, research groups or selection of researchers."

*"Develop collaborative partnerships: Identify and analyze existing and potential collaboration opportunities based on publication output and citation impact."

* "Analyze research trends: Analyze the research trends of any Research Area with citation and usage data, to discover the top performers and rising stars."

Auch die Weiterentwicklung SciVals wird skizziert: "We are expanding SciVal from being a purely evaluative and analytical tool to being an integral part of your research planning process." SciVal soll eine Planungsinstanz mit Eigenschaften der Predicitve Analysis sein: "You are now able to run a complete portfolio analysis to see which Topics your institution is currently active in, and which Topics have high momentum, those therefore more likely to be well-funded. It will provide insight into which researchers are active in those Topics, which Topics your peers and competitors are active in and the related Topics of which you should be aware."

Eine derartige Integration der Dienste schafft jedoch Abhängigkeit verschiedenster Art, z.B. auf Ebene der Konsumenten (sprich der Leser und wissenschaftlicher Nutzer der Dienste), allerdings auch der individuellen und institutionellen Entscheidungsprozesse (die implizit aus der öffentlichen Hand gegeben werden) und der Produzenten, sprich der Wissenschaftler, die die Dienste zur Verbreitung ihrer Inhalte nutzen müssen, wenn sie nicht durch nachteilige Bewertung gestraft werden wollen.

Abhängigkeit: Na und?

Ein Angebot wie SciVal kann als Werkzeug verstanden werden, das in Zeiten knapper Mittel und der Vorstellung von Hochschulen als Unternehmen Mittel und Personal ökonomisch einzusetzen hilft. Dass Elsevier diese Randbedingungen nutzt, um Angebote zu entwickeln, zu kaufen und zu vermarkten, ist nicht zu kritisieren, denn die RELX-Gruppe als Mutterkonzern Elseviers muss als Wirtschaftsunternehmen das erklärte Ziel haben, möglichst viel Geld zu verdienen.

Auch der Anbieter Digital Science (im Besitz der Holtzbrinck Publishing Group, die 53 % der Anteile an SpringerNature hält) bietet ein ähnliches Angebotsportfolio z.B. mit Figshare als Repository zur Publikation von Texten, Daten, Software, etc., Symplectic als System zu deren Sammlung, Verwaltung und Analyse, Labguru zur Labordatenverwaltung, Readcube als Literaturverwaltungs- und -recherche-Tool, Overleaf als kollaborativem Schreibwerkzeug, Altmetric.com zur Messung alternativen Impacts, ÜberResearch als Entscheidungshilfe für Wissenschaftsförderer und Dimensions als SciVal-Pendant.

Gleiches gilt für Clarivate Analytics, das unter anderem diese, teils von Thomson erworbene Dienste anbietet: Das Web of Science als Impact-/Zitationsdatenbank, die Journal Citation Reports als Datenbank zur Bestimmung des Journal Impact Factors, Endnote als Literaturverwaltungssoftware, Converis als Forschungsinformationssystem, Publons zum Tracking von Peer-Review-Aktivitäten, Authorea als kollaboratives Schreibwerkzeug und Professional Services & Essential Science Indicators als SciVal-Pendants mit Außen- und Innenperspektiven inklusive Recruiting-Funktionalitäten.

Man mag nun konstatieren, dass kommerzielle Anbieter, ganz gemäß der Marktlogik, die Nachfrage nach Diensten stillen - sollte allerdings nicht vergessen, dass diese Nachfrage sicher auch Ergebnis einer Unterfinanzierung der Hochschulen ist, die selbst derartige Dienste nicht anbieten können. Problematischer dürfte sein, dass Publikation, Kuratierung und Bewertung von Wissenschaft zusehends in der Hand privatwirtschaftlicher Akteure liegen.

Die Ökonomisierung der Wissenschaft hat längst die Kuratierung wissenschaftlicher Informationen erreicht, so nennt der Report "Open innovation, open science, open to the world - a vision for Europe" der Europäischen Kommission Elsevier, Springer Nature und dessen Tochter Digital Science, Google und Wikimedia als Verwalter wissenschaftlicher Informationen.

Eine riskante Gratwanderung, bedenkt man, was geschieht, wenn der Return on Investment aus den bereitgestellten Diensten hinter den Erwartungen der kommerziellen Anbieter zurückbleibt. Elsevier etwa stellte seine als "most comprehensive scientific research tool on the web" angepriesene Suchmaschine Scirus 2014 klammheimlich ein. Besonders die Verwobenheit von Publikation und Bewertung von Wissenschaften sollte, wie Stefan Klein & Joschka Hüllmann bezogen auf Elsevier festhalten, als äußerst sensibel betrachtet werden: "Die potenzielle Interessenkollusion der Rollen Verlag und Rankingdienstleister widerspricht den Regeln guter Governance, ist aber Teil von Elseviers Geschäftsmodell."