Uighuren gegen Han
Bei den Unruhen in Westchina kamen mindestens 140 Menschen ums Leben
Nach Angaben der chinesichen Nachrichtenagentur Xinhua haben die am Sonntagabend ausgebrochenen Unruhen in der Stadt Ürümqi über 140 Tote und mehr als 800 Verletzte gefordert. 57 davon lagen tot in den Straßen der Stadt, der Rest starb im Krankenhaus. Darüber hinaus sollen uighurische Chaoten 261 Fahrzeuge angezündet haben, darunter 190 Busse, aber nur zwei Polizeifahrzeuge. Nach vorläufigen Angaben wurden außerdem 203 Geschäfte und 14 Wohnungen zerstört.
Als Ursache der Unruhen gilt ein Vorfall in der am anderen Ende des Landes gelegenen und relativ entwickelten Provinz Kanton, vom dem es unterschiedliche Darstellungen gibt, die Fragen offen lassen. Fest steht, dass dort eine Spielzeugfabrik unlängst 800 uighurische Gastarbeiter anheuerte - angeblich, um einer Forderung der Zentralregierung zu entsprechen, mehr Angehörige von Minderheiten einzustellen und so die Einkommensunterschiede innerhalb Chinas zu verringern.
Am 26. Juni kam es in der Umgebung dieser Fabrik zu gewaltsamen Auseinandersetzungen bei denen zwei Uighuren starben und angeblich über 100 verletzt wurden. Während China Daily den Vorfall als Tat eines Han-Mobs darstellte, der dem Gerücht eines gefeuerten Arbeiters aufgesessen war, sprach Nur Bekri, der uighurische Regierungschef der autonomen Region Xinjiang, am Montag von einem "sexuellen Angriff" eines Uighuren auf eine Han-Arbeiterin, der den Konflikt ausgelöst habe.
In Folge der Ereignisse in und der Gerüchte aus Kanton wurde in Ürümqi für Sonntagabend zu zwei nicht angemeldeten Demonstration am Volksplatz und am Südtor der Stadt aufgerufen. Um acht Uhr abends Ortszeit, eine Stunde nach dem offiziellen Beginn der Demonstrationen, sollen in der Heping-Straße aus der Menge heraus erste Passanten angegriffen und Fahrzeuge beschädigt worden sein.
Danach breitete sich die Gewalt offenbar schnell aus: Xinhua berichtete, dass Gewalttäter mit Messern, Holzprügeln und Steinen bewaffnet Geschäfte geplündert und in Brand gesteckt hätten. Gegen 10 Uhr sollen junge Männer Feldhacken verteilt haben, mit denen sie dann Jagd auf Han-Chinesen machten.
Laut Huang Yabo, dem stellvertretenden Direktor des Sicherheitsbüros der Stadt, soll es sich bei den Toten und Verletzten überwiegend um Han handeln. Über die genaue ethnische Zusammensetzung der Toten gibt es bisher allerdings nur Teilangaben. So meldete das Volkskrankenhaus, dass von 291 in Folge der Unruhen eingelieferten Personen 233 Han, 39 Uighuren und der Rest Hui, Kasachen, oder Angehörige anderer Minderheiten waren.
Die Polizei nahm mehrere hundert Personen fest, wovon ein Dutzend als Rädelsführer gelten. Nach 90 weiteren Verdächtigen wird gefahndet. Dazu errichteten die Sicherheitsbehörden sowohl in Ürümqi selbst als auch in den Städten Changji und Turfan Straßensperren. Für die Ermittlungen sollen etwa 100 im öffentlichen Dienst beschäftigte Uighuren aus der Umgegend nach Ürümqi kommen, wo sie als Dolmetscher gebraucht werden.
Auffällig ist, wie Xinhua und die von der Nachrichtenagentur zitierten Stellen die Rolle des Internets beim Zustandekommen der Ausschreitungen betonen: So soll deren Angaben zufolge nicht nur die der "geistigen" Urheberschaft an den Krawallen beschuldigte Separatistenorganisation Weltkongress der Uighuren ihre abstrakten Aufrufe, "tapferer" zu sein und "etwas Großes" zu tun, über dieses Medium verbreitet haben, auch die konkreten Demonstrationsaufrufe sollen über Foren gelaufen sein. Zudem kursierten seit Ende Juni mehrere Videos, die angebliche Gewaltszenen gegen uighurische Gastarbeiter zeigten.
Asgar Can, ein in Deutschland ansässiger Funktionär des Weltkongresses der Uighuren, wies im Bayerischen Rundfunk eine Urheberschaft an den Toten und Verletzen von sich. Ihm zufolge konnten die Demonstranten keine Separatisten gewesen sein, weil sie auch chinesische Fahnen geschwenkt hätten. Die Ursachen der Proteste sieht er stattdessen in einer unzureichenden behördlichen Aufklärung der Vorfälle in Kanton. Zur "Eskalation" kam es seiner Ansicht nach, weil die Polizei die Kundgebungen gewaltsam auflösen wollte.
Die Uighuren
Die Uighuren sind ein Turkvolk von etwa neun Millionen Menschen, das fast ausschließlich in der extrem trockenen und dünn besiedelten autonomen Region Xinjiang lebt. Dort stellen sie knapp die Hälfte der Bevölkerung, wobei ihr Siedlungsschwerpunkt im Südwesten liegt. Obwohl sie ihre Zahl in den letzten 50 Jahren nahezu verdoppeln konnten, ihre Sprache in den Schulen gelehrt wird und es uighurische Zeitungen, Bücher und Rundfunksender gibt, wurden sie in die Gruppe der "bedrohten Völker" aufgenommen. Als Begründung dafür wird die chinesische Zuwanderung in die autonome Region angeführt, die sich auf den Osten und die großen Städte konzentriert.
In den Quellen tauchen die Uighuren erstmals im 4. Jahrhundert nach Christus auf. In der Auseinandersetzung mit den Göktürken entstand ein Reich, dessen Zentrum in der heutigen Mongolei lag. In ihm verbreiteten sich nestorianisches Christentum, Manichäismus und Buddhismus. Im 9. Jahrhundert wurde dieses Uighurenreich von den Kirgisen zerschlagen. Darauf hin gründeten sich zwei kleinere Staaten im heutigen Xinjiang und einer in der Provinz Gansu. In Gansu gingen die Uighuren in der dortigen Bevölkerung auf. Dagegen gerieten die Uighurenstaaten in Xinjiang zwar in mongolische Abhängigkeit, konnten aber ihre sprachliche Eigenart bewahren. Als der damalige buddhistische Idikut Salendi Mitte des 13. Jahrhunderts gestürzt und enthauptet wurde, setzte sich in Xinjiang zunehmend der sunnitische Islam durch. 1771 konnte China das Gebiet, das es bereits vor der Ansiedlung der Uighuren einmal beherrscht hatte, zurückerobern. Nun bekam es seinen heutigen Namen, der übersetzt "Neue Grenze" bedeutet.
Nachdem die international zusammengesetzten und finanzierten "Mudschaheddin" in Afghanistan die Russen vertrieben und die Regierung gestürzt hatten, begannen sie teilweise uighurische Separatisten im nahe gelegenen Xinjiang zu unterstützen. Seitdem gibt es dort Terroranschläge. Chinesische Angaben zufolge soll es dadurch in den 1990er Jahren 160 Tote gegeben haben. Bevorzugte Opfer waren damals Uighuren in hohen Verwaltungspositionen und Imame, die man beschuldigte, mit Peking zusammenzuarbeiten. Aber auch Busse wurden in die Luft gesprengt. 1997 gelang den Separatisten sogar ein Sprengstoffanschlag in einem belebten Einkaufsbezirk in Peking, der allerdings nur Verletzte und Sachschäden zu Folge hatte.
Im Vorfeld der olympischen Spiele in Peking flammten die zwischenzeitlich etwas abgeklungenen Terroraktivitäten im letzten Jahr wieder verstärkt auf: So hoben chinesische Sicherheitskräfte unter anderem eine uighurische Terrorgruppe aus, die angeblich plante, ein Flugzeug zu sprengen. Am 4. August wurden in der Stadt Kaschgar 17 Menschen getötet und 15 verletzt. Die Täter waren mit einem Müllaster in eine Gruppe von Polizisten gerast, die gerade ihren Frühsport absolvierte, hatten dann Granaten geworfen und schließlich mit Messern angegriffen. Sechs Tage später versuchten Separatisten, mit selbstgebauten Rohrbomben in mehrere Supermärkte, Hotels und Verwaltungszentrum in der Stadt Kuqa im Süden Xinjiangs einzudringen.