Ukraine-Krieg, Armut und die demografische Implosion

Mehrzahl der in der Ukraine Verbliebenen auf Hilfe angewiesen. Eigenständige Wirtschaftspolitik auf Jahrzehnte unmögliche. Hier die oft übersehenen Wirtschaftsdaten. (Teil 2 und Schluss)

Der ökonomische Niedergang der von Russland attackierten Ukraine geht einher mit einer breiten Verarmung der Bevölkerung. Eine Studie mehrerer westlicher Großorganisationen (EU, USAID, Weltbank, WHO) vom Dezember 2022 benennt die Probleme deutlich:

The recently approved 2023 draft state budget (of the ukraine) includes the following estimates for 2023: 20.6 percent budget deficit, 28 percent inflation, 28 percent unemployment and a health budget of 176.1 billion Hrywnja, representing an almost 10 percent decrease in nominal value compared with 2022 (194.4 billion). The poverty rate in Ukraine is projected to increase from 5.5 percent in 2021 to at least 25 percent in 2022.

WHO et al. 2022, S. 3

Das Gesundheitssystem war bereits vor dem Krieg eines der am schlechtesten finanzierten in Europa. Die jährlichen Ausgaben pro Einwohner lagen laut Weltbank 2019 bei knapp unter 250 US-Dollar je Einwohner. Das entsprach dem Niveau Boliviens oder des Iraks. Deutschland lag bei 5.400 US-Dollar. Durch die (bereits geplante) Realkürzung von über 40 Prozent (minus zehn Prozent Budget sowie 30 Prozent Inflation) sinken die realen Gesundheitsausgaben auf das Niveau Lesothos – oder sogar noch tiefer.

Nach den Schätzungen des UN-Kinderhilfswerkes sind knapp 18 Millionen Menschen in der Ukraine auf "dringende humanitäre Unterstützung" (Unicef Ukraine Country Office 2023) angewiesen. Das entspricht rund 60 Prozent der noch im Gebiet der Ukraine befindlichen Bevölkerung.

"Dringende humanitäre Unterstützung" bzw. im Original "need of urgent humanitarian assistance" ist eine bürokratische Phrase. Sie bedeutet, dass die betroffene Bevölkerung sich nicht mehr selbst versorgen kann. Ohne externe Hilfe würden ein Großteil der betroffenen Menschen langfristig wahrscheinlich sterben, sofern die Menschen nicht das Land verlassen.

Allerdings unterzeichnet die Statistik die wirklichen Ausmaße. (Peters 2022) Die Zahlen wurden das erste Mal im August 2022 genannt – vor Beginn des Winters und der systematischen Zerstörung der Energie- und Wärmesysteme. Mit der neuen Kriegsphase ab Oktober 2022 endete auch diese Datenreihe.

Die Mehrheit der Bevölkerung hat kaum Möglichkeiten, der Verelendung aus eigener Kraft zu entkommen. Haushaltsbefragungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM 2023) ergaben, dass 57 Prozent aller ukrainischen Haushalte (ohne Binnenvertriebene) weniger als 10.000 Hrywnja im Monat zur Verfügung haben. Das entspricht nach offiziellem Wechselkurs rund 270 US-Dollar im Monat – wohlgemerkt für zwei bis drei Personen inklusive aller staatlichen Stützungen. Nur zehn Prozent der Haushalt verfügen über mehr als 550 US-Dollar im Monat.

Die ausländischen Stützungen federn die grassierende Armut kaum ab. Wie seinerzeit in Afghanistan ist nur ein Bruchteil für humanitäre Zwecke bestimmt. Dafür waren nach dem Ukraine Support Tracker nur 7,7 Prozent der Gelder gedacht. Je länger der Krieg dauert, umso krasser wird das Missverhältnis. Bis August 2022 lag der Anteil für humanitäre Zwecke noch bei geschätzten 17 Prozent. (Antezza und Frank 2022)

Zur strukturellen Verarmung treten noch eine flächendeckende Verseuchung mit Minen und Blindgängern sowie umfassende Schädigungen der Umwelt. Letztere werden durch kommende Einsätze uranhaltiger Munition deutlich verstärkt. (Wagner 2023)

Demografischer Niedergang

Nach Schätzungen vom Januar 2023 trieb der Ukraine-Krieg bisher mindestens acht Millionen Menschen ins Ausland. Davon gingen wahrscheinlich knapp unter drei Millionen nach Russland. Die anderen flohen fast alle in die EU. Hauptzielländer waren Polen (1,5 Millionen) und Deutschland (mindestens 0,8 Millionen). Eine genaue Analyse der demografischen Entwicklung in der Ukraine findet sich auf zeitgedanken.blog.

Registrierte Geflüchtete aus der Ukraine
Platz Länder Anzahl in Mio.
1 Russland 2,8
2 Polen 1,5
3 Deutschland 0,8
4 Tschechien 0,5
5 Italien 0,2
6 Spanien 0,2
7 England 0,2
Gesamt 6,2
Alle Flüchtlinge  8,0
Quelle: UNHCR 2023. 

Die genaue Anzahl der Geflüchteten ist unbekannt. Die UN schätzt wahrscheinlich zu konservativ. Beispielsweise befinden sich nach Angaben der deutschen Regierung knapp über eine Million Geflüchtete in Deutschland. Die Abweichung zwischen den UN-Zahlen und der deutschen Statistik beträgt rund 200.000 Personen oder 20 Prozent.

Die künftige demografische Entwicklung der Ukraine ist nach den Schätzungen der UN Population Division äußerst negativ. Dabei übertrifft die reale Anzahl an Geflüchteten deren Schätzung vom Sommer 2022 um mindestens eine Million Menschen.

Die UN-Modelle sollten aus heutiger Sicht als optimistische Prognosen für die demografische Entwicklung der Ukraine gesehen werden. Zumal die Projektierungen des International Center for Migration Policy Development (ICMPD 2023) für 2023 eine weitere Auswanderung von einer halben bis zu vier Millionen Menschen für realistisch hält. (S. 2)

Die Abwanderung aus der Ukraine wird dauerhaft sein. (Intellinews 2022) Die UN geht in allen Prognose-Szenarien davon aus, dass weniger als ein Drittel der Geflüchteten in absehbarer Zeit zurückkehrt. Damit sinkt die Bevölkerung der Ukraine bis 2050 wahrscheinlich auf unter 33 Millionen Einwohner. Ein Niveau wie zuletzt in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Quelle: World Population Prospects 2022; Schätzung ab 2022, Mittlere Variante. Darstellung: Kai Kleiwächter (zeitgedanken.blog)

Die Annahmen der UN werden durch die jüngsten Befragungen ukrainischer Geflüchteter gestützt. Der IAB Forschungsbericht "Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland: Flucht, Ankunft, Leben" (Brücker et al. 2022) vom Dezember 2022 ermittelte, dass:

… 26 Prozent bereits jetzt für immer und elf Prozent zumindest für mehrere Jahre (über den Krieg hinaus) bleiben möchten (S. 14)

… nur zwei Prozent planen für höchstens ein Jahr zu bleiben (S. 14)

… nur 23 Prozent der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen nutzt den Online-Unterricht einer ukrainischen Schule (S. 17) wobei es für nur zwei Prozent die einzige Form von Unterricht ist.

Ein ähnliches Bild zeigt der Ukraine Survey der EU (FRA 2023). Nur 35 Prozent der Befragten gaben an, sie planen (baldmöglichst) in die Ukraine zurückzugehen. (S. 25)

Die Ergebnisse der Umfragen sind angesichts der oben beschriebenen katastrophalen Situation in der Ukraine nicht erstaunlich. Welche Perspektive hätten Rückkehrer in der Ukraine?

Bewertung

1. Die offiziellen (Wirtschafts-)Statistiken der Ukraine spiegeln nicht mehr die Realität wider. Um die Illusion einer funktionierenden Wirtschaft zu erhalten, werden zentrale Datensätze zunehmend nicht mehr veröffentlicht und Haushaltspläne immer schneller korrigiert. Die wachsenden Träume der Geldgeber ignorieren dabei die Entstehung einer umfassenden Schattenwirtschaft.

2. Mit den umfassenden westlichen Stützungsgeldern setzt eine Kombination aus sinkendem Außenhandelsvolumen, steigender Auslandsverschuldung und nicht tragfähigem Handelsdefizits bei einseitiger Ausrichtung auf die EU ein. Läuft der Prozess weiter, kommt es zu einer radikalen De-Globalisierung der Ukraine. Ohne (zeitnahe) Mitgliedschaft in die EU oder der GUS wird sie von den internationalen Märkten weitgehend abgeschnitten. Entsprechend schleppend dürfte die zukünftige Entwicklung der (Außen-)Wirtschaft verlaufen.

3. Die ausländischen Transfers kommen primär dem hochgradig korrupten Staats- und Militärsektor zugute. Bereits jetzt dominiert dieser, gestützt auf Notenpresse, ausländischen Geldmittel, Militärgesetzgebung sowie (ausländischen) Milizen und Söldnern, die gesamte Gesellschaft. Wie seinerzeit in Afghanistan entsteht ein vom Ausland abhängiger autoritärer Staat, der keine eigenständige Wirtschaftsbasis mehr hat. Bleiben die ausländischen Transfers aus, wird der Staat sich auflösen.

4. Die zunehmend verzweifelten Forderungen, die Ukraine "durch schnelle und regelmäßige Auszahlungen der internationalen Finanzhilfen […] wirtschaftlich und finanziell über Wasser zu halten" (Kirchner und Poluschkin 2022) ist bedenklich. Eine Kontrolle der Gelder spielt keine Rolle mehr. Dass trotz enormer Unterstützung die Wirtschaftsleistung drastisch sinkt, stimmt nicht nachdenklich, sondern ist ein Argument, um noch mehr Gelder zu mobilisieren.

5. Die humanitäre Situation in der Ukraine ist schrecklich. Aus sozialer Sicht fällt sie auf das Niveau eines Dritte-Welt-Staates zurück. Entsprechend ist sowohl mit einer dauerhaften Migration der jetzigen Flüchtlinge als auch mit weiteren Auswanderungen zu rechnen. Die Bevölkerung wird in den nächsten Jahrzehnten deutlich zurückgehen.

Die Ukraine ist schon jetzt ein relativ dünn besiedeltes Land. Sie umfasst nur die Hälfte der Bevölkerung, aber das 1,9-fache der territorialen Ausdehnung von Deutschland. Nach dem Krieg dürfte die Siedlungsdichte in vielen Gebieten für eine wirtschaftliche Prosperität zu gering sein. Die Spielräume, sich zu entwickeln, gehen entsprechend zurück.

6. Die Ukraine ist wirtschaftlich am Ende. Eine substanzielle Binnenwirtschaft ohne Stützungen durch das Ausland existiert nicht mehr. Entsprechend kann die Ukraine aus eigener Kraft weder Wirtschaft oder Staatsapparat finanzieren, noch die (ausländischen) Schulden zurückzahlen. Es ist dabei egal, wie der Krieg endet. Die Ukraine wird auf Jahrzehnte zu einer eigenständigen Wirtschaftspolitik nicht mehr in der Lage sein. Sie sinkt auf den Status einer abhängigen Kolonie herab – entweder des Westens oder von Russland.

Dabei wird sie strukturell vom Wohlstand der hoch entwickelten Staaten ausgeschlossen. Selbst bei einem ununterbrochenen Wirtschaftswachstum von fünf Prozent pro Jahr bräuchte die Ukraine etwa zehn Jahre, um auf das Produktionsniveau von vor dem Krieg zu gelangen. Um auf das jetzige Wirtschaftsniveau Deutschlands zu kommen, dauert es wohl bis in die 2080er-Jahre.

* In Deutschland lag das BIP pro Einwohner 2021 bei ca. 50.000 US-$ pro Einwohner. Quelle: World Bank Indicators. Berechung: Kai Kleinwächter (zeitgedanken.blog)

Sollte die Ukraine zum alten Wachstumspfad vom vor dem Krieg zurückkehren, wird sie vielleicht irgendwann im 22. Jahrhundert zum heutigen Wohlstand der EU aufschließen können.

7. Damit stellen sich für die Unterstützer Fragen, die öffentlich ganz bewusst verdrängt werden. Jürgen Habermas schrieb in seinem jüngsten Essay:

Auch der Westen [… darf] weder die Zahl der Opfer noch das Risiko, dem die möglichen Opfer ausgesetzt sind, noch das Ausmaß der tatsächlichen und potenziellen Zerstörungen vergessen. […] Von dieser Abwägung der Verhältnismäßigkeit ist auch der selbstloseste Unterstützer nicht entlastet.

Habermas 2023

Deutschland muss eine realistische Vorstellung von der Zukunft der Ukraine finden. Kampf bis zum letzten Bewohner wird der Ukraine weder Freiheit noch Wohlstand bringen.

Kai Kleinwächter arbeitet als selbstständiger Dozent (Themen: Volkswirtschaftslehre, Marketing, Unternehmensführung). Derzeit studiert er Politikwissenschaft / Geografie auf Lehramt an der Universität Potsdam. Er ist Verlagsleiter (digital) von WeltTrends – Das außenpolitische Journal. Ebenfalls bloggt der Autor auf seiner Homepage zeitgedanken.blog
ORCID-Number: 0000-0002-3927-6245.

Literaturverzeichnis

Antezza, Arianna; Frank, André; Frank, Pascal; Franz, Lukas; Kharitoniv, Ivan; Kumar, Bharath et al. (2022): The Ukraine Support Tracker. Which countries help Ukraine and how? Hg. v. Institut für Weltwirtschaft, Kiel. Kiel (Kiel Working Papers, 2218).

Antezza, Arianna; Frank, Pascal (2022): Internationale Hilfen für die Ukraine. Der "Ukraine Support Tracker" zeigt Kluft zwischen Zusagen und Umsetzung auf. Hg. v. laender-analysen.de.

Brücker, Herbert; Ette, Andreas; Grabka, Markus M.; Kosyakova, Yuliya; Niehues, Wenke; Rother, Nina et al. (2022): Gefüchtete aus der Ukraine in Deutschland. Flucht, Ankunft, Leben: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB-Forschungsbericht, 24/2022).

Djankov, Simeon; Blinov, Oleksiy (2022): Ukraine‘s wages and job loss trends during the war. Hg. v. CEPR. London.

FRA (Hg.) (2023): Fleeing Ukraine. Displaced People's Experiences in the EU. Wien.

Habermas, Jürgen (2023): Ein Plädoyer für Verhandlungen. In: Süddeutsche Zeitung, 14.02.2023.

ICMPD (Hg.) (2023): Miration Outlook 2023. Wien.

IMF (Hg.) (2022): Regional Economic Outlook for Europe. April 2022. Washington.

Intellinews (Hg.) (2022): UN projects Ukraine’s population will never recover from war. Berlin.

IOM (Hg.) (2023): Ukraine Internal Displacement Report. General Population Survey - Round 12. Wien.

Kirchner, Robert; Poluschkin, Garry (2022): Acht Monate Kriegswirtschaft. Die Fiskalpolitik ist entscheidend. Hg. v. laender-analysen.de. Bremen.

Kleinwächter, Kai (2022a): Die Ukraine. Das hochgerüstete Armenhaus Europas. In: Telepolis, 22.06.2022.

Kleinwächter, Kai (2022b): Von Afghanistan bis zur Ukraine. Wie die westliche Geostrategie gescheitert ist. In: Telepolis, 23.07.2022.

Kleinwächter, Kai (2023): Ukraine – Implosion der Bevölkerung. Hg. v. zeitgedanken.blog. Potsdam.

Moddy's (Hg.) (2023): Rating Action. Moody's downgrades Ukraine's ratings to Ca with a stable outlook. New York.

National Bank of Ukraine (Hg.) (2023): Balance of payments. 2022. Kiew.

Noack, David (2022): Hardliner, Neoliberale, Oligarchen. Der fragwürdige Erfolg der Ukraine. Hg. v. Telepolis. Hannover.

n-tv (Hg.) (2022): Kiew vermeidet Zahlungsausfall. Ausländische Gläubiger verzichten vorerst auf Milliarden. Hamburg.

OECD (Hg.) (2022): Rebuilding Ukraine by Reinforcing Regional and Municipal Governance. Paris.

Peters, Andrea (2022): Armut in der Ukraine steigt sprunghaft an. Hg. v. Sozialistische Gleichheitspartei, Vierte Internationale (SGP). Berlin.

Skok, Yevhenii; Groot, Oliver de (2022): War in Ukraine. Ukraine’s monetary-financial vulnerabilities. Hg. v. CEPR. London.

Unicef Ukraine Country Office (Hg.) (2023): Ukraine Humanitarian Situation Report. December 2022 (Humanitarian Situation, Report No. 24).

Wagner, Frieder (2023): Was Uranmunition in der Ukraine anrichten würde. Hg. v. Telepolis. Hannover.

WHO; World Bank; EU; USAID (Hg.) (2022): Priorities for Health System recovery in Ukraine. Joint Discussion Paper.

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