Ukraine-Krieg: Mobilmachung in Russland unwahrscheinlich
32.000 bis 47.000 Gefallene. Falls der Krieg noch lange andauert, ist eine zweite Mobilisierungswelle möglich. Was aktuell dagegen spricht.
Was die Diskussion um eine weitere Mobilisierungswelle in Russland immer am Laufen hält, sind vor allem die unbestreitbaren Verluste der russischen Armee beim Kampf in der Ostukraine. Die exilrussische Onlinezeitung Media.zona zählte zuletzt mehr als 32.000 durch öffentliche Meldungen wie Todesanzeigen dokumentierte Gefallene an der Front.
Gefallene reißen Lücken, die momentan anders gefüllt werden
Die tatsächliche Zahl der militärischen Kriegstoten aus Russland schätzt Media.zona höher. Bereits zum Stand Ende Mai berechnete die Zeitung in einer gemeinsamen Auswertung mit dem Onlineportal Meduza und der Universität Tübingen die Zahl anhand der Übersterblichkeit bei russischen Männern und registrierter Erbschaftsfälle.
Die Analysten kommen vor dem ebenfalls verlustreichen Sommer bereits auf 47.000 Gefallene. Wie viele es inzwischen tatsächlich sind, ist eine streng geheime Verschlusssache der russischen Behörden.
Aktuell versuchen diese alles, ohne Mobilmachung die Lücken an der Front zu schließen. Einheiten wurden an den Außengrenzen zur Nato abgezogen, zentralasiatische Migranten werden mit dem Erwerb der russischen Staatsangehörigkeit zu einer Meldung als Freiwillige animiert. In den besetzten Gebieten der Ukraine, nach russischer Lesart sind das neue russische Provinzen, wird zwangsrekrutiert. Auch in Russland selbst werden frisch Eingebürgerte umgehend eingezogen.
Mobilisierung als schlechtestes und letztes Mittel
Eine weitere Mobilisierung ist die denkbar schlechteste Methode für Russlands Offizielle, an neue Soldaten für den Krieg zu kommen. Wer unter Zwang kämpft, kämpft auch nicht gut. Zusätzlich gab es bei der ersten Mobilisierungswelle starke Probleme bei der Koordination der Ausbildung.
Weiterhin produzierte die Mobilmachungswelle vor einem Jahr Unruhe und Ablehnung unter der russischen Bevölkerung, die sonst in großen Teilen passiv bleibt und nicht gegen den Krieg opponiert. Der Krieg wird von vielen Russen weit von sich geschoben, als ob er sie nicht betrifft und das ist nach Zwangsaushebungen nicht mehr möglich.
Auch würde jetzt neue Mobilsierungswelle den Brain Drain junger, gut ausgebildeter Menschen aus Russland heraus verstärken, die dem Krieg ohnehin im Schnitt am kritischsten gegenüber stehen.
So dementierte erst vor wenigen Tagen der russische Generalstab jede Absicht, noch einmal zu Mobilisierungsmaßnahmen greifen zu wollen. Derartige Erklärungen gibt es immer wieder auch von wichtigen Personen aus der offiziellen Politik - und dennoch verstummen Gerüchte über eine weitere Mobilisierungswelle nicht.
Woher kommen Soldaten für die Aufrüstungspläne?
Neben den Verlustzahlen gibt es dafür weitere Gründe, die etwa die exilrussische Onlinezeitung Meduza aufzählt. Zum einen die von der Regierung verkündete Armeereform, die auch eine höhere Anzahl von Soldaten vorsieht. Zum anderen sind die Zwangseinberufenen von 2022 abgekämpft und müssten eigentlich von der Front per Rotation abgezogen werden.
Meduza hält deshalb eine zweite Mobilisierungswelle an sich für wahrscheinlich, auch wenn sie kurzfristig nicht zu erwarten ist. "Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, desto wahrscheinlicher wird dieses Ereignis und desto näher rückt es". Das Britische Verteidigungsministerium glaubt in diesem Zusammenhang daran, dass Russland plant, den Konflikt bis 2025 fortzusetzen.
Weiterhin steigern würde die Wahrscheinlichkeit einer neuen Mobilisierungswelle ein großer militärischer Misserfolg der Russen. Auch die Welle im Herbst 2022 fand aufgrund ukrainischer Durchbrüche statt, die auch aus einer zu geringen Besetzung der russischen Front herrührten.
Aus innenrussischen Quellen lassen sich über den Zeitpunkt einer möglichen weiteren Mobilisierung keine Erkenntnisse gewinnen, da alle Zeitungen, die weiter erscheinen wollen, dazu gezwungen sind, beim Thema Krieg lediglich amtliche Bekanntmachungen zu wiederholen und diesen nicht zu widersprechen. Sie dürfen keine eigenen Recherchen anzustrengen, die gegebenenfalls zur offiziellen Linie abweichende Ergebnisse erzielen.