Ukraine-Krieg: Risse in russischer Front und westlicher Moral
Laut Studie der US-Denkfabrik ISW geht der Krieg in eine neue Runde. Erwartet wird eine Entscheidung im Süden. Unterdessen reißt die Debatte um Streumunition nicht ab.
Die US-Denkfabrik Institute für the Study of War (ISW) gilt als Referenz schlechthin für die Analyse weltweiter Konflikte. Auch mit dem nötigen Abstand liest sich das jüngste Bulletin vom 7. Juli als brisante Einschätzung zur aktuellen Lage in der Ukraine – mit einer für Russlands Aussichten ziemlich schlechten Bilanz. Was sind die Kernpunkte?
Bachmuts Symbolwert
Die ukrainischen Streitkräfte erzielten dem Papier zufolge Anfang Juli taktisch bedeutsame Fortschritte in der Gegend von Bachmut und setzten ihre Gegenoffensive an mindestens drei anderen Sektoren der Front fort. Der ukrainische Generalstab meldete, dass die ukrainischen Streitkräfte nördlich und südlich von Bachmut Offensivoperationen durchführten.
Die Kontrolle über nicht näher bezeichnete, zuvor verlorene Stellungen in der Region sei zurückerlangt worden, berichtet der Kommandeur der ukrainischen Bodentruppen, Generaloberst Oleksandr Syrskyj laut dem ISW-Papier.
Der Frontstadt Bachmut kommt nach Einschätzung von Beobachtern besonderes symbolisches Gewicht als eine der wenigen russischen Eroberungen der vergangenen zwölf Monate zu. Der schweizerische Blick zitiert ein Nachrichtenbulletin des britischen Geheimdienstes, das zur Moral der Truppen auf russischer Seite Folgendes feststellt:
Die russischen Verteidiger haben höchstwahrscheinlich mit einer schlechten Moral, einer Mischung aus ungleichen Einheiten und einer begrenzten Fähigkeit zu kämpfen, ukrainische Artillerie zu finden und zu treffen.
Quelle: Blick.ch
Wie die angeführten Berichte zeigen, sind die Russen dabei, fast alle östlichen Streitkräfte an die Frontlinie in der Südukraine zu verlegen. Ziel sei es, der dortigen ukrainischen Gegenoffensive zu trotzen. Die großen Truppenbewegungen gelten als Hinweis darauf, "dass fast die gesamte Kampfkraft des östlichen Militärbezirks auf die Verteidigung gegen ukrainische Gegenoffensiven vor allem in der Südukraine ausgerichtet ist", wird das ISW zitiert.
Moskaus Bollwerk – brüchig?
Das deutet laut ISW darauf hin, "dass die russische Verteidigung in der Südukraine möglicherweise brüchig ist":
Die russischen Verteidigungsanlagen in der Südukraine sind zwar beachtlich, aber nicht unüberwindbar.
Institute for the Study of War, 7. Juli 2023
Eigenen Angaben zufolge hat das Institut bereits früher darauf hingewiesen, dass die ukrainischen Streitkräfte wahrscheinlich versuchen würden, die russische Kampfkraft in der Südukraine schrittweise und systematisch zu schwächen und damit die Brüchigkeit der russischen Verteidigung zu steigern. Dabei setzt man offenbar darauf, dass die russischen Kräfte, einmal erschöpft, auf keine Rückendeckung zählen können:
Die russischen Streitkräfte in der Südukraine müssten sich wahrscheinlich auf vorbereitete Verteidigungsstellungen zurückziehen, ohne nennenswerte Unterstützung durch operative Reserven, wenn den ukrainischen Streitkräften ein operativer Durchbruch gelingt. Der Rückzug bei Feindberührung ist eine äußerst schwierige militärische Aufgabe, und es ist unklar, ob die russischen Streitkräfte in (Feind-)Kontakt in der Lage wären, sich erfolgreich von ihren ersten Linien auf andere vorbereitete Linien in guter Ordnung zurückzuziehen, vor allem, wenn diese Streitkräfte - und die in Staffeln hinter ihnen stehenden Streitkräfte - aufgerieben und ohne Unterstützung sind.
Institute for the Study of War
Die südliche Verteidigungslinie gilt hauptsächlich als Moskaus Bollwerk vor der Halbinsel Krim, die Russland 2014 annektierte. Derzeit, so der Blick, verdichteten sich die Anzeichen, dass Russland sich genötigt sieht, gegen die beabsichtigte Rückeroberung der Krim durch die Ukraine mit allen verfügbaren Kräften in Stellung zu gehen.
Exkurs: Streumunition
Der ehemalige Nato-General Erhard Bühler betont in seinem Podcast "Was tun, Herr General?" das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine. Menschenrechte und Menschenwürde würden Tag für Tag mit Füßen getreten. Auf den Entschluss der USA, Streumunition zu liefern, geht sein jüngster Beitrag nicht ein, da er vor Bekanntwerden der Entscheidung produziert wurde.
Die Debatte um die geächtete Munition ist jedoch hochaktuell. Diese Art Munition könne besonders "verheerend für Russen in Schützengräben sein, die keine Deckung über dem Kopf haben", zitiert Business Insider Ben Hodges, den pensionierten Generalleutnant der US-Armee in Europa. "Und sie wird verheerend gegen jede russische Artillerie sein, die entdeckt wird und in Reichweite ist."
Die sogenannte Submunition, die dutzend- oder hundertfach beim Zerbrechen der Trägerbehälter (Streubombenkanister) in der Luft freigesetzt wird, bezieht am Boden größere Flächen in die Sprengwirkung ein und richtet so größtmöglichen Schaden an. Über den Köpfen der Verteidiger regnet es Tod und Verstümmelung, ein apokalyptischer Hagel.
Ein Teil der Last explodiert jedoch nicht. Die Angaben hierzu schwanken. Blindgänger, die nicht explodieren, werden de facto zu Landminen, die für viele Jahre ein Risiko für die Einsatzgebiete, und das heißt: auch für die Zivilbevölkerung während des Kriegs und auch nach Kriegsende darstellen. Streubomben unterscheiden nicht zwischen Feind und Zivilbevölkerung. Die Erfahrungen aus Ländern wie Afghanistan, Kroatien, Serbien, Tschetschenien belegen das fürchterliche Potenzial der Waffen.
Zwischen 1965 und 1975 wurden Streubomben von den USA in Südostasien systematisch und flächendeckend eingesetzt und in ihrer verheerenden Wirkung, damit auch auf ihre Tauglichkeit getestet. Die oft sehr zahlreichen explosiven Überreste sind klein und empfindlich und können auch von Kindern leicht unbeabsichtigt ausgelöst werden. Die Blindgängerrate kann über 40 Prozent betragen.
Submunition und Submoral
Die USA haben die Konvention zur Ächtung dieser Waffe, das sogenannte Oslo-Übereinkommen, ebenso wie Russland und die Ukraine, nicht unterzeichnet.
Der Einsatz von Streumunition durch die ukrainische Armee ist nicht neu. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights (HRW) berichtete im Oktober 2014 von mindestens zwölf Ortschaften, die von ukrainischen Truppen mit Streubomben beschossen wurden, darunter auch Wohnviertel der Millionenstadt Donezk. Das könne auf ein Kriegsverbrechen hindeuten, so die HRW damals. Der ukrainische Generalstab widersprach.
Verfolgt man die aktuelle Debatte, kann sich leicht der Eindruck einstellen, als verbiege sich vor aller Augen die verbriefte Wertelogik. Die Weltgemeinschaft kann ihre selbst geschaffenen Regeln nicht durchsetzen: Alles hat sich der Logik des Krieges zu beugen, die ihren autonomen Charakter zur Schau stellt. Zur Submunition gesellt sich die Submoral.
Sprecher aus Politik und Militär und – oft mit Katzenbuckel – ein nennenswerter Teil der Medien folgen dem Narrativ der Notwendigkeit; in der Regel endet es damit, sich zu einem "Jein" durchzuringen, kurz: Man fügt sich dem Unausweichlichen.
Das Allheilmittel Streubomben hat einen toxischen Beigeschmack. Sicher sind in diesem konkreten Fall die USA der Vorreiter, aber wir sitzen mit in diesem Boot, ob es uns passt oder nicht. Kopfnicken in Slow Motion bleibt letztlich Kopfnicken. Der Westen manövriert sich in Widersprüche gegen sich selbst.