Ukraine-Krieg: Schwerste russische Luftangriffe – Armee rückt weiter vor

Russische Tupolev Tu-95MS auf dem Luftwaffenstützpunkt Engels

An den Luftangriffen auf Ukraine beteiligt: Russische Tupolev Tu-95MS auf dem Luftwaffenstützpunkt Engels. Bild von 2006: Marina Lystseva / GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2

Russische Übermacht lässt Verteidigungslinien im Donbass bröckeln. Kursk-Offensive der Ukraine weitgehend zum Stillstand gekommen. Eine Lage-Einschätzung.

Während die Offensive der Ukraine in der Region Kursk weitestgehend zum Stillstand gekommen ist, rücken russische Truppen in der Region Pokrowsk weiter vor. Ihnen gelang jetzt, die zweite Verteidigungslinie der Ukraine auf breiter Front zu überwinden.

Von der Agglomeration Pokrowsk, die aus den beiden Städten Pokrowsk und Myrnohrad besteht und vor dem Krieg rund 100.000 Einwohner hatte, trennt die russische Armee nur noch eine allerletzte Verteidigungsstellung.

Die letzte befestigte Linie

Die Einnahme der Agglomeration Pokrowsk und die damit verbundene Überwindung der dritten und letzten befestigten Linie ist deshalb bedeutend, weil es nach der Agglomeration Pokrowsk keine nennenswerten Stellungen mehr gibt, die einen weiteren russischen Vormarsch aufhalten könnten.

Es ergäbe sich dann auf einer Breite von gut 50 Kilometern ein Durchbruchsraum, von dem aus russische Streitkräfte nicht nur weiter nach Westen vorstoßen, sondern auch die noch bestehenden Verteidigungsanlagen im Norden und Süden umgehen bzw. von hinten aufrollen könnten.

Mögliche Folge: Einbruch der ukrainischen Front auf einer Breite von mindestens 50 Kilometern

Dies würde nicht weniger als den Zusammenbruch der ukrainischen Front auf einer Breite von mindestens 50 Kilometern bedeuten, der sich dann analog zu einem Dammbruch zu einem vollständigen Kollaps der ukrainischen Verteidigungsanstrengungen östlich des Dnjepr ausweiten könnte.

Schon jetzt erstreckt sich der Frontbogen bei Pokrowsk auf einer Breite von gut 18 Kilometern. Die russischen Streitkräfte sind in den letzten Tagen auf ganzer Linie vorgerückt. Besonders signifikant ist hier die fast vollständige Eroberung von Nowohrodiwka, einer kleinen Bergbaustadt mit ehemals gut 15.000 Einwohnern.

Als "Siedlung städtischen Typs" weist sie im Osten und im Stadtzentrum eine für diese sowjetische Siedlungsform ausgedehnte verdichtete Wohnhausbebauung auf, die besonders gut zu verteidigen ist. Denn als Faustregel gilt: Je mehr Beton pro Quadratkilometer Stadt verbaut wurde, desto höher ist die Verteidigungsfähigkeit.

Doch den russischen Spitzen ist jetzt nach nur wenigen Tagen die vollständige Einnahme aller mehrgeschossigen Wohngebäude gelungen, ein Prozess, der nach den bisherigen Erfahrungen eher in Monaten zu messen ist. Der zweite Verteidigungsgürtel, der mehrfach gestaffelt vor der Stadt verlief, wurde zuvor bereits ebenfalls überwunden.

Besonders auffällig ist, dass die Stadt nach Sichtung des Videomaterials kaum zerstört zu sein scheint. Städte dieser Größe und Ausdehnung wiesen nach der Eroberung durch russische Truppen extreme Verwüstungen auf.

Das lässt den Schluss zu, dass die ukrainische Verteidigung zunehmend nicht mehr in der Lage ist, dem russischen Vormarsch Widerstand zu leisten.

Erschöpfung und Personalprobleme

Mehrere Quellen scheinen diese These zu stützen. So scheint die Lage in Nowohrodiwka so verzweifelt zu sein, dass ukrainische Konmandeure wohl auch Drohnenpiloten an die eigentliche Front schicken, berichtet der ukrainische Telegram-Kanal DeepState, der noch als eine der zuverlässigsten ukrainischen Quellen gilt.

DeepState beklagt dort, dass diese Versetzungen trotz eines direkten Befehls des Oberbefehlshabers stattfinden, der den Einsatz von Piloten für andere Aktivitäten verbieten würde.

Erschöpfung und Personalprobleme scheinen im Zentrum des Zusammenbruchs zu stehen. "Menschen sind nicht aus Stahl", sagt etwa Oberst Pawlo Fedosenko, zitiert nach einem Artikel des Economist vom Sonntag.

Zahlenmäßige Unterlegenheit der ukrainischen Armee

Ukrainische Truppen, zahlenmäßig 1:4 unterlegen, bekommen keine Pause, sagt er. Einige bleiben 30 oder 40 Tage am Stück an der Front, zusammengekauert in Schützenlöchern, nur Zentimeter vom Tod entfernt.

Die britische Times zeichnet ein sehr ähnliches Bild in einer am Samstag erschienen Reportage:

"Die Situation ist schwierig, wir verlieren Positionen, der Feind drängt uns zurück", sagte Hauptmann Dzvenyslava Rymar von der 47. Brigade dort, die in Kämpfe nahe Pokrowsk verwickelt ist.

"Die Menschen sind erschöpft", fügte sie hinzu. "Wir brauchen frische Leute. Egal, wie gut ausgebildet unsere Kämpfer sind, die Russen schaffen es trotzdem, uns mit ihrer Anzahl zu überrollen. Es ist nicht möglich, die Linie zu halten, wenn es nur zwei oder drei von euch gibt und zehn bis 20 von ihnen auf euch zukommen."

Fehlkalkulation Kursk-Offensive: Russische Offensive in der Ukraine setzt sich fort

Ein Artikel aus Forbes vom Sonntag beschreibt die aktuelle Lage an der Ostfront der Ukraine.

Forbes berichtet, entgegen ukrainischer Hoffnungen habe die Invasion in der russischen Oblast Kursk vor drei Wochen nicht dazu geführt, dass Russland Truppen aus der Ostukraine abziehe. Stattdessen verstärke der Kreml Kursk mit jungen, schlecht ausgebildeten Wehrpflichtigen und belasse seine erfahrenen Truppen im Osten.

Die russische Offensive im Osten, die letzten Herbst begonnen habe, setze sich dadurch ungehindert fort. Das Magazin spekuliert, dass die ukrainische Führung den Einsatz von schätzungsweise einem Dutzend Frontbataillonen in Kursk statt zur Verstärkung von Pokrowsk bereuen könnte, sollte die Stadt fallen.

Denn gleichzeitig schaffen es ukrainische Kräfte im Abschnitt Kursk immer weniger, weiter in russisches Gebiet vorzudringen. Vielmehr scheint es den russischen Streitkräften dort zunehmend zu gelingen, durch Gegenangriffe den Frontbogen zu verengen; in den letzten Tagen dürften die russischen Streitkräfte mehr Gebiete zurückerobert haben, als der ukrainische Gegner neu erobern konnte.

Das zeigt zum einen, dass es der russischen Führung augenscheinlich gelungen ist, tatsächlich eine nahezu geschlossene Front zu etablieren, und zum anderen, dass die ukrainische Armee zurzeit nicht in der Lage ist, genügend starke Kräfte zu konzentrieren, um weiter russische Gebiete erobern zu können.

Schwere Luftangriffe auf Ukraine

Zusätzlich zu den für die Führung der Ukraine äußerst unvorteilhaften Entwicklungen auf dem Boden starteten die russischen Luft- und Raketenkräfte einen der bisher schwersten Luftangriffe auf das Gebiet der Ukraine.

Die ukrainische Ausgabe des Forbes berichtet, dass Russland am 26. August 2024 den bisher massivsten und teuersten Luftangriff auf die Ukraine durchführte.

Laut dem Oberbefehlshaber der ukrainischen Luftwaffe, Mykola Oleschuk, habe Russland 127 Raketen und 109 Angriffsdrohnen eingesetzt. Die ukrainischen Verteidigungskräfte hätten 201 Ziele abschießen können, darunter 102 Raketen und 99 Drohnen.

Forbes Ukraine schätzt die Kosten des Angriffs auf 1,2 bis 1,3 Milliarden Dollar, was den bisher teuersten Angriff seit Beginn des umfassenden Krieges darstellt. Zum Vergleich: Ein Angriff am 8. Juli mit 38 Raketen verschiedener Typen kostete Russland schätzungsweise 200 bis 250 Millionen Dollar.

Schäden an der kritischen Infrastruktur: Wie gut ist die Flugabwehr?

Die wiederholt von offiziellen ukrainischen Militärkanälen kommunizierten hohen Abschussraten stehen in deutlichem Kontrast zu den zahlreichen Videos von Einschlägen auf ukrainischem Territorium.

Weiterhin berichtet das ukrainische Portal Defence UA, dass der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Oleksandr Syrskyi, in einem Vortrag Angaben über Abschusszahlen gemacht habe, die in auffälligem Widerspruch zu den bisher kommunizierten Zahlen stünden.

Insgesamt habe Russland bis zum 20. August 2024 insgesamt 9.627 Raketen und 13.997 Drohnen auf die Ukraine abgefeuert. Davon wurden 2.429 Raketen und 9.272 Drohnen abgefangen.

Das sind Zahlen, die aufhorchen lassen und die bisher in westlichen Medien kaum diskutiert werden. Das würde heißen, dass die Ukraine bisher nur 25,23 Prozent der von Russland abgeschossenen Raketen und nur 66,24 Prozent aller Drohnen abfangen konnte.

Sollte diese Aussage zutreffen, wäre die Abweichung von den bisher von ukrainischer Seite kommunizierten hohen Abschussraten von großer Bedeutung und ließe Rückschlüsse auf die Quantität und Qualität der verfügbaren Flugabwehr zu.

Der russische Luftangriff am 26. August verursachte Explosionen in 15 Regionen und beschädigte kritische Infrastruktur, einschließlich des Wasserkraftwerks Kiew.

Langfristige Strategie der russischen Angreifer

Die jüngsten russischen Luftangriffe auf die Ukraine lassen ein deutliches taktisches Muster erkennen. Moskau verfolgt einen methodischen Ansatz mit regelmäßigen, massiven Schlägen. Ziel ist es, die ukrainische Luftabwehr zu überfordern und kritische Infrastrukturen zu zerstören.

Im Fokus der Angriffe stehen bekanntermaßen besonders die Strom- und die Gasversorgung des Landes. Dadurch wird auch die Wasserversorgung stark in Mitleidenschaft gezogen.

Die Periodizität der Angriffe deutet auf eine langfristig angelegte Strategie hin, die wahrscheinlich auf die Produktionsfähigkeit des Militärisch-Industriellen Komplexes abzielt, aber zugleich auch die Zivilbevölkerung demoralisiert und die Versorgungslage massiv destabilisiert.

So wird es im kommenden Winter für die ukrainische Zivilbevölkerung äußerst schwer werden, in den nicht beheizbaren Wohnungen auszuharren, und das bei den in der Ukraine üblichen Temperaturen von deutlich unter null Grad.

Die systematische und periodische Zerstörung kritischer Energieinfrastrukturen vereitelt nicht nur die Reparaturversuche der Ukraine. Sie beschädigt oder zerstört auch bereits reparierte Anlagen und zehrt damit die knappen technischen Reserven auf.