Ukraine-Krieg: Welzer wirft Leitmedien Aktivismus vor
Neue Inhaltsanalyse des Soziologen bestätigt dessen These von Einseitigkeiten der Berichterstattung. Kritiker schäumen. Welzer fürchtet Herbeischreiben einer Eskalation.
In einem Punkt trifft Harald Welzer voll ins Schwarze. Da geben ihm auch seine Kritiker Recht. Wer abweichende Lesarten veröffentlicht oder versucht, "den beschränkten Diskurs zu erweitern", riskiert, "mit einer geradezu schäumenden Diskreditierung belegt" zu werden, schreibt der Soziologe und Autor einem Beitrag über die deutsche Medienberichterstattung zum Ukrainekrieg.
Ende April wurden Kritiker Welzers auf seine "Inhaltsanalyse", erschienen in der Zeitschrift Neue Rundschau des Fischer Verlags, aufmerksam. "Wir können es kurz machen", kommentierte das Leitmedium FAZ: "Es ist nicht mehr als die Karikatur einer Studie."
Carlo Masala, Politikwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr in München, bekannt als engagierter Befürworter der Waffenhilfe für die Ukraine, hält Welzer Laientum, Unkenntnis, Ignoranz, Abkanzeln vor. Dessen Zeitschriftenbeitrag sei ein "weiteres, relativ mieses Stück der ad hominem Verleumdung".
Welzer liefere eine "Pseudo-Studie" voller Methodenfehler, die geradezu in einer Unverschämtheit gegenüber dem Journalismus gipfele, kommentiert der frühere ZDF-heute-Mitarbeiter und Politikberater (u.a. Wahlkampfmanager der Europäischen Grünen Partei) Johannes Hillje.
Ein Ausschnitt nur; wer sucht, findet noch mehr solcher Reaktionen. Was führt dazu?
Welzer will Differenzierung
Welzer will Differenzierung, schreibt er. Seine Inhaltsanalyse der Berichterstattung zum Ukraine-Krieg, die nun neu Verärgerung auslöst, ist eine Ergänzung oder Nachtrag zum Buch "Die vierte Gewalt", das Welzer zusammen mit Richard David Precht verfasst hat, das bereits viele verärgerte Reaktionen zum Echo hatte (siehe: Die gefallenen Engel des grün-schwarzen Mainstreams).
Darin erhoben die Autoren gegenüber Medien den Vorwurf der "Vereinseitigung der Perspektive auf den Krieg" und die Behauptung, dass eine "starke Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung herrsche".
Empirische Befunde
Damals, so Welzer jetzt, habe die empirische Fundierung noch gefehlt. Aber nun könne sie nachgeliefert werden. Sogar doppelt. Dabei verweist er auf eine Studie der Forschungsgruppe um Markus Maurer von der Uni Mainz für die Otto-Brenner-Stiftung. Sie kommt zu einem Ergebnis, das zumindest in einem zentralen Resultat die Behauptung Welzers stützt:
Vollkommen einheitlich berichteten die untersuchten Medien (…) nicht. Dennoch ist im Untersuchungszeitraum ein relativ starker Zusammenhang zwischen der Tendenz der Medienberichterstattung und der über Umfragen gemessenen Bevölkerungsmeinung zu Waffenlieferungen erkennbar.
Forschungsbericht zur Qualität der Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg
Die Deutlichkeit der "militärischen Unterstützung der Ukraine im Allgemeinen und die Lieferung schwerer Waffen" falle in den meisten der untersuchten Medien überraschend stark aus, heißt es im Fazit des Forschungsberichts.
Es werden jedoch auch Einschränkungen formuliert. Die Einheitlichkeit sei "nicht trivial", heißt es zum Beispiel, "angesichts der schrecklichen Bilder aus der Ukraine und der offenbar mangelnden Verhandlungsbereitschaft auf russischer Seite".
Auch von Einschränkungen methodologischer Art ist zu lesen: zu wenig Daten, ein zu kurzer Erhebungszeitraum. Es sei "durchaus denkbar, dass die Berichterstattung im weiteren Kriegsverlauf noch einheitlicher oder regierungsfreundlicher geworden ist".
Genau an diesem Punkt setzt Welzer an. Man könne jetzt eine Studie über einen "viel längeren Zeitraum vom 1. 2. 2022 bis zum 31. 1. 2023" mit einer "imposanten empirischen Grundlage" vorlegen, schreiben Welzer und sein Ko-Autor Leo Keller in ihrem Zeitschriftenbeitrag:
Unsere empirische Grundlage umfasst 107 000 Texte, die zum Thema »Krieg in der Ukraine« in den Leitmedien über diese Periode hinweg publiziert wurden (mit Ausnahme jener der Zeit, die ihre Artikel für automatisierte Crawling-Prozesse nicht zur Verfügung stellt), dazu konnten wir auch 1,1 Millionen Beiträge aus 140 Regionalzeitungen auswerten. Neben den Texten zum Ukrainekrieg in diesen traditionellen Medien haben wir für diesen Text auch 13,5 Millionen Twitter-Beiträge analysiert, die im selben Zeitraum zum Krieg erschienen sind.
Harald Welzer und Leo Keller
Methodenkritik und Polemik
An dieser Studie reiben sich nun die Kritiker. Sie werfen Welzer vor, dass der Einsatz des Analysesystems von Talkwalker für größere Datenmengen methodologisch fragwürdig sei und dass es grundsätzlich kein korrektes wissenschaftliches Vorgehen sei, wenn man eine Behauptung aufstelle und die empirische Untermauerung erst nachliefere.
Welzer liefert viel Material. In der Gänze ist das nicht immer übersichtlich und genau nachvollziehbar. In einem Punkt aber schreibt er deutlich fort, was die oben genannt Mainzer Forschungsgruppe nur andeuten konnte:
Da wir die Möglichkeit haben, den Fortgang dieses Diskurses bis Ende Januar 2023 nachzuzeichnen, können wir belegen, dass die in der Mainzer Studie festgestellte Einheitlichkeit der Deutung keineswegs schwindet, sondern sich im Gegenteil noch vertieft. Besonders die mediale Debatte im Januar 2023 über die Frage der Lieferung von Kampfpanzern in die Ukraine zeigt eine Kulmination der Forderung, dass der Kanzler die Lieferung beschließen müsse.
Dabei stieg auch die Zahl der negativen Attribuierungen seines "Zögerns" sehr stark an. Der "Zögerer-Vorwurf" gegen Scholz wurde im Januar in den Leitmedien um den Faktor 3.5 häufiger erhoben als in den elf Monaten davor. Zeitgleich nimmt die Thematisierung von Risiken wie einer Entgrenzung des Krieges oder einer Eskalation zum Atomkrieg im Januar 2023 signifikant ab.
Harald Welzer und Leo Keller
Auf dieses Resultat gehen die genannten Kritiker sachlich gar nicht ein. Sie belassen es bei einer grundsätzlichen Methodenkritik und greifen zur Polemik. Ein Beispiel:
Trotz der kaum nachvollziehbaren Methodik könnte man der Mängelanzeige durchaus zustimmen, gefühlt sozusagen: Wer will schon die deutsche Selbstbezüglichkeit bestreiten. Wie sie aber die Verzerrung des Diskurses zugunsten einer bellizistischen Elite belegen soll, bleibt völlig schleierhaft. (…)
Nach welchen Begriffen oder Wortclustern die Forscher gesucht haben, unterschlägt der Artikel genauso wie die Erläuterung der Methodik. Offenbar spielt es gar keine Rolle, welche Meinungen man aus der Verwendung bestimmter Schlagworte ableiten kann, ob also die Artikel, die sich etwa mit dem "Atomwaffeneinsatz" beschäftigen, davor gewarnt oder die Drohung damit als Panikmache beschrieben haben.
FAZ
Am Kern des journalistischen Selbstverständnisses
Allerdings lädt Welzer auch zur Polemik ein: Seine Vorwürfe gegen den Journalismus – so wie er sich in Zeiten der Krise präsentiert, wenn es noch kein Skript für die Situation gebe –, gehen an den Kern des Selbstverständnisses.
Aus Journalisten werden Aktivisten, die belehren, so Welzer. Statt der Öffentlichkeit eine breitgefächerte Analyse und Vermittlung der "gesellschaftsrelevanten politischen Anforderungen und Entscheidungsprozesse" zu liefern, werde eine belehrende und oft kleinteilige Exegese verabreicht.
Dabei holt der Zeitschriftenbeitrag zum großen Angriff aus:
Auch wenn man hier noch einmal daran erinnern kann, dass es durchaus ein informationelles und argumentatives Gefälle zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung geben kann und soll, scheint hier doch aufseiten des politischen Journalismus der Anspruch durch, die politische Debatte über diesen Fall von Krieg und Frieden leiten zu wollen.
Damit wäre dem Journalismus eine Rolle zugewiesen, die ihm demokratietheoretisch nicht zukommt: von der kritischen Berichterstattung und Kommentierung hin zum politischen Aktivismus, von der Kontrolle zur Beeinflussung.
Harald Welzer und Leo Keller
Die Aufgabe des Journalismus für die moderne demokratische Gesellschaft bestehe nicht darin, "für richtig Erkanntes unters Volk zu bringen, auf dass dieses es gleichfalls als richtig erkennt". Vielmehr gehe es darum, die "informationelle Landschaft ausgewogen und differenziert auszumessen und dabei möglichst viele Perspektiven zur Geltung zu bringen, damit die Rezipienten sich gut begründete Meinungen zum Geschehen bilden können".
Das, so Welzer, sei im gegenwärtigen "provinziellen" Journalismus in Deutschland nicht der Fall. Der habe mit einem Glaubwürdigkeitsverlust zu kämpfen. Auf der Malus-Seite stünden "erhebliche Repräsentationslücken" bei den politischen Institutionen, deren Folgen sich auch in der Berichterstattung widerspiegeln: Marginalisierte Gruppen hätten geringere Chancen, ihre Auffassungen politisch zur Geltung zu bringen. Resultat: ein verengter Horizont.
Das kann man debattieren, ohne Welzer mit persönlichen Diffamierungen auf den Jahrmarkt der verletzten Eitelkeiten zu schicken.
Allerdings macht er ihnen auch Vorwürfe des Bellizismus:
An der seit Kriegsbeginn stattfindenden normativen Umformatierung zentraler gesellschaftlicher Ziele und zivilisatorischer Minima – von Frieden auf Rüstung, von Klimapolitik auf Verteidigungspolitik, von diplomatischen Konfliktlösungsstrategien auf militärische – hat der politische Journalismus, wie unsere Befunde zeigen, jedenfalls einen guten Anteil.
Bleibt zu hoffen, dass die große Eskalation eines entgrenzten Kriegs oder eines Atomkriegs auch dann ausbleibt, wenn so viele ihre Aufgabe darin zu sehen scheinen, sie herbeizuschreiben.
Harald Welzer und Leo Keller
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