Ukraine-Krieg: Wie Indien sich vom Westen emanzipiert

Seite 2: Unglaubwürdigkeit des Westens als Wahrer des Völkerrechts

Nicht Werte, schon gar nicht Völker- und Menschenrechte, allein Machtinteressen determinieren letztlich die westliche Außenpolitik.

1. Der Ukrainekonflikt ist nur der Schauplatz eines Krieges des kollektiven Westens, wie die Teilnahme Japans und Australiens belegen, zur Aufrechterhaltung seiner Vorherrschaft. Es geht weniger darum, die Ukraine zu retten als Russland als globale Militärmacht zu vernichten, sein politisches System zu destabilisieren und seine Wirtschaft, Basis seiner globalen Projektionsfähigkeit, zu ruinieren.

Die stets umfangreicheren Lieferungen immer schwererer Waffen, die Ausbildung ukrainischer Soldaten, Einsatz und Transfer modernster Abhör-, Überwachungs- und Steuerungssysteme dienen nicht dazu, um zu Friedensverhandlungen beizutragen, sondern um den Krieg zu verlängern. Dazu gehören ebenso die massiven Finanztransfers zur Stützung der zerrütteten ukrainischen Wirtschaft und der Mythos einer Demokratie basierend auf Menschenrechten, Freiheit und Gewaltenteilung (Rügemer 2022).

2. Jenseits des unmittelbaren Kriegsgeschehens sind die Auswirkungen westlicher Politik in Form von Inflation, unterbrochenen Energieexporten, mangelnder Getreidelieferungen und Düngemittel weltweit zu spüren.

Ganz wesentlich sind dafür die über 10.000 gegen Russland (und Belarus) verhängten Sanktionen verantwortlich. Sie schaden faktisch und besonders dem Globalen Süden und den Armen generell, je länger sie andauern, desto stärker. Sie lassen das weltweite Wachstum schrumpfen, die Schuldenlast der Entwicklungsländer steigen, treiben die Preise für Energieimporte und Düngemittel, Grundvoraussetzung jedweder landwirtschaftlicher und industrieller Entwicklung, in unerschwingliche Höhen. Sie frustrieren Aufstiegsaspirationen, provozieren massenhaftes Elend und befeuern politische Unruhen in Ländern, die so gar nichts mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben.

Deren Regierungen muss es umso härter treffen, wenn die G7 auf ihrer Konferenz in Japan jenen "harte Strafen" androhen, die die westlichen Sanktionen unterlaufen (AFP, 18. April 2023).

Völlig unglaubwürdig wird der Westen, wenn die nach zähen, UN-vermittelten Verhandlungen wieder ermöglichten ukrainischen und russischen Getreide- und Düngemittelexporte – entgegen der wohlfeilen Menschenrechtsrhetorik und wie seinerzeit die Covid-Impfstoffe – zum großen Teil in Europa landen und nicht im Globalen Süden, wo sie besonders dringend gebraucht werden (BBC, 16. März 2023).

3. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Indien, zu 85 Prozent von Ölimporten abhängig, angesichts der sanktionsbedingten günstigen Preise seine Importe russischen Öls von 0,2 auf 30 Prozent gesteigert hat. Seine Wirtschaft wurde dadurch stimuliert, die Außenhandelsbilanz entlastet, ja durch den Export von verarbeiteten Rohölprodukten, u.a. in die EU, sogar aufgebessert.

Indien unterwirft sich keinem ausländischen politischen Druck. Es kann und folgt Eigeninteressen, wie die aktuellen Verhandlungen über ein generelles Freihandelsabkommen mit Russland, seinem nunmehr wichtigsten Öllieferanten, erneut belegen (Deutschlandfunk, 17. April 2023).

4. Mit seinen nicht vom UN-Sicherheitsrat verfügten Sanktionen verletzt der kollektive Westen nicht nur das Völkerrecht, sondern auch die Grundlagen des internationalen Wirtschafts- und Handelssystems, inklusive der WTO (Jeffrey Sachs, www.cirsd.org, 1. Februar 2023).

Neben der umfänglichen Marktexklusion Russlands gehört auch dessen Ausschluss aus dem Finanztransfersystem Swift unter Missbrauch des Dollars als internationaler Zahlungs- und Reservewährung ebenso dazu wie das neue, erweiterte Sicherheitskonzept bei ausländischen wirtschaftlichen Beteiligungen. Schließlich fällt sogar die Unverletzlichkeit des Eigentums, Grundfeste der bürgerlichen Gesellschaft und der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, bei der Beschlagnahme und faktischen Enteignung staatlichen wie privaten russischen Eigentums zum Opfer.

Keine Staatengruppe kann eine globale Führungsrolle beanspruchen

Narendra Modi

Nach den Worten von Premier Modi hat die bestehende internationale Governance-Architektur beim Ukrainekrieg völlig versagt. Gemeint sind die dem Interessenausgleich und der friedlichen Konfliktbeilegung gewidmeten internationalen Organisationen, inklusive der Uno, sowie die neoliberale Ordnung.

Die Uno wurde – entgegen ihrem Mandat – nicht nur marginalisiert, sondern vom Westen zur Ächtung Russlands instrumentalisiert. Abrüstungsverträge wurden aufgekündigt, internationale Institutionen wie die G20, statt sich weltweiter Wirtschafts- und Finanzprobleme anzunehmen, zwecks politischen Ausschlusses Russlands umfunktioniert.

Aus Sicht nicht nur Indiens ist die Zeit für eine neue Weltordnung gekommen. An die Stelle des hegemonialen, auf Ausbeutung und den Glauben an die eigene zivilisatorische Überlegenheit basierenden kollektiven Westens tritt die Vision einer multipolaren, auf Kooperation und wechselseitigem Vorteil gegründeten Ordnung. Ihre wichtigsten Protagonisten sind die Schwellenländer, mit China, Russland und Indien an der Spitze.

Sie werden vor allem repräsentiert durch die 2009 gegründeten tri-kontinentalen Brics aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sowie die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der beginnend 2001 neben Russland, China und vier zentralasiatischen Republiken seit 2017 Indien und Pakistan sowie neuerdings auch der Iran als Vollmitglieder angehören. Anders als die 12 Prozent Bevölkerung in den reichen kapitalistischen Metropolen von Nato, EU und G7 vertreten sie über 40 Prozent der Weltbevölkerung.

Anders als die alternden, wirtschaftlich stagnierenden Länder des Nordens steigt auch wirtschaftlich ihr Anteil am Welthandel und am globalen Reichtum. Trugen die G7 1982 noch mehr als 50 Prozent zum weltweiten Sozialprodukt nach Kaufkraft bei, verminderte sich dieser Anteil bis 2022 auf 30 Prozent, während die Brics von 10 auf 31 Prozent anstiegen (Chandrakanth 2023).

Dementsprechend fordern diese nicht nur eine grundlegende Reform der UN, vor allem des Sicherheitsrats, mit einer dauerhaften Vertretung Indiens, Afrikas und Lateinamerikas, sondern auch ein angemessenes Gewicht in den Wirtschaftsorganisationen von Bretton Woods.

Darüber hinaus haben sie eigene, nicht analog zu Aktiengesellschaften auf Wirtschaftskraft, sondern auf Gleichheit beruhende alternative Finanzinstitutionen gegründet. Und als Reaktion auf die Instrumentalisierung des Dollars, der ökonomischen Basis der US-Hegemonie, werden bilaterale Handelsverträge zunehmend in den eigenen Währungen fakturiert.

Das gilt auch für Indien, das die Rupie, angeregt durch den Ukrainekrieg und die extraterritoriale Sanktionspolitik des Westens, zur Welthandelswährung ausbaut (DWN, 14. April 2023). Ähnliches gilt für den Handel zwischen Saudi-Arabien und China oder Brasilien und China sowie den zehn Asean-Staaten (DWN 16. April 2023).

Statt einer vorgeblich auf Werten, realiter auf Machtinteressen basierenden Weltordnung setzen sie auf das Primat einer (reformierten) Uno, auf Gleichheit und Völkerrecht, kulturelle Diversität und Selbstbestimmung in Wirtschaft und Politik.

Im Verbund mit Interventionsverbot, friedlicher Konfliktregelung und gemeinsamer Entwicklung gehen sie historisch auf die "Pancha Shila" zurück – die "Fünf Prinzipien" der friedlichen Koexistenz, die in einem Vertrag über Zusammenarbeit zwischen Indien und der Volksrepublik China 1954 vereinbart wurden, dann der asiatisch-afrikanischen Konferenz unabhängiger Staaten in Bandung (Indonesien) 1955 zugrunde gelegt wurden und schließlich die Bewegung der Blockfreien Staaten seit 1961 prägten. Multilateralismus statt konfrontativer Blockbildung, Plattformen statt fester Militärbündnisse gehören zu den aktuell besonders wichtigen Grundsätzen ihrer Umsetzung in die Praxis.

Indian foreign policy is a relentless quest to go up the international order.

Außenminister Subrahmanyam Jaishankar

Doch Indiens Außenpolitik charakterisiert keine antiwestliche Pro-Dritte-Welt-Positionierung. Dazu ist das Land mit 18 Prozent der Weltbevölkerung zu groß, seine Wirtschaft zu bedeutsam, seine geopolitischen Ambitionen zu ausgeprägt. Vor allem aber ist das internationale System in einem Prozess grundlegenden Wandels der Kräfteverhältnisse und Allianzen begriffen, der eine einseitige Parteinahme erschwert.

Allein das Ziel Neu-Delhis steht fest: eine polyzentrische Ordnung mit Indien als einem der Pole. Auf diesem Weg ist das geopolitische Umfeld Delhis genauer zu betrachten. Hier sind mehrere Faktoren bestimmend:

1. Geographisch-politisch: (a) durch seine zentrale Lage inmitten des Indischen Ozeans. Mit einer Küstenlinie von 7.500 Kilometern zwischen dem Arabischen Meer und dem Golf von Bengalen bis hinunter zur Straße von Malakka kontrolliert es eine der wichtigsten weltweiten Handelsrouten. So passieren 80 Prozent des weltweiten Ölhandels den Indischen Ozean von den Küsten Afrikas und des Nahen Ostens bis nach Südost- und Ostasien, inklusive Japan und Südkorea. Dagegen grenzt es (b) im Norden an das Hochgebirge des wenig durchlässigen Himalaja. (c) Historisch eher Landmacht, will Indien in Zukunft verstärkt seine maritimen Perspektiven ausbauen.

2. Seine Außenpolitik beherrscht die historische, in bisher drei Kriegen ausgetragene Feindschaft zum angrenzenden Pakistan, kristallisiert im Kampf um Kaschmir.

Hinzu kommt seine konfliktive Beziehung zu China, dem großen Nachbarn und Konkurrenten im Norden, mit dem es eine vielfach umstrittene Grenze über eine Länge von 3.500 Kilometer teilt. Die zunehmende politische und wirtschaftliche Annäherung zwischen der Volksrepublik und Pakistan, jüngst konkretisiert mit dem Ausbau des über das Karakorum bis an den Indischen Ozean führenden China-Pakistan-Economic-Corridor im Rahmen der Belt and Road Initiative (BRI), hat die Befürchtungen Delhis nur verstärkt.

Dabei hatten China und Indien, Opfer des westlichen Kolonialismus seit Beginn des 19. Jahrhunderts, einen beispiellosen Niedergang von gemeinsam rund der Hälfte des globalen Sozialprodukts auf jeweils nur vier Prozent um 1950 erlebt. In Bandung Mit-Anreger der Blockfreien Bewegung, gehörten sie über Jahrzehnte zu den Wortführern der Positionen des Globalen Südens.

Doch der wirtschaftliche Aufstieg Chinas seit 1980, dessen BIP heute das Fünffache des indischen ausmacht (18,1 vs. 3,4 Billionen US-Dollar), und seine wachsende politisch-ökonomische Bedeutung als größte Handelsmacht mit immer dichteren Beziehungen auch zu den Ländern im Indischen Ozean, bedroht Indiens Rolle als dessen Vor- und Ordnungsmacht.

3. Entsprechend komplexer wird die indische Außenpolitik im Geflecht zwischen internationalen Aufstiegsambitionen in einem transitorischen, zunehmend militarisierten geopolitischen Umfeld. Eine zu starke Schwächung Russlands im Gefolge des Ukraine-Kriegs bei gleichzeitig zu großer Annäherung an und Abhängigkeit von China im Zuge der westlichen Sanktionspolitik liegt nicht in Neu-Delhis Interesse. Historisch auf energetischem, inklusive Atomkraft, wirtschaftlichem und militärischem Gebiet mit Moskau eng verbunden, wird diese Zusammenarbeit weiter verstärkt.

Und obwohl Neu-Delhi seine eigene Rüstungsindustrie ausbaut und seine Importe aus Israel oder Frankreich etwa mit dem Ankauf von Rafale-Kampfflugzeugen diversifiziert, bleibt Russland der weitaus größte Lieferant, so des S-400 Raketenabwehrsystems.

Gleichzeitig nimmt die Kooperation mit den USA zu. Sie schlägt sich in verdichteter militärischer Koordination zwecks verbesserter Interoperabilität und als strategischer Partner in bevorzugtem Waffenzugang nieder. Darüber hinaus wird die Zusammenarbeit mit den USA und Japan in der "Quad"-Gruppe intensiviert ("Quadrilateraler Sicherheitsdialog", ein informeller Verbund zwischen den USA, Japan, Indien und Australien, der in der Tsunami-Katastrophe 2004 aus der Not heraus geschaffen wurde und dem die USA einen militärischen Anstrich zu geben versuchen), zumal sich Washington neben einer Vertiefung der Beziehungen in Wirtschafts- und Umweltfragen im Namen des "Free and Open Indo-Pacific" vor allem die Eindämmung der Volksrepublik China zum Ziel gesetzt hat.

Kooperation mit China und Russland in den Brics und der SOZ bei gleichzeitiger Zusammenarbeit in der "Quad"-Gruppe ist aus indischer Sicht kein Widerspruch. Im Gegenteil. Im Namen des "Multi"-‚ anstelle des traditionellen "Non-Alignment" und gerade in der Verweigerung einer bipolaren konfrontativen Positionierung als Junior-Partner in einer vom Westen dominierten "Allianz der Demokratien" sieht Delhi eine große Chance.

Verbündet mit und umworben von allen Seiten werden seine außenpolitischen Spielräume erweitert, seine internationale politische Rolle erhöht und zugleich seine Attraktivität als Wirtschaftsstandort und Ziel ausländischer Direktinvestitionen hervorgehoben.

Zugleich befördert es die Entwicklung zu einer multipolaren, potenziell weniger militaristischen, dafür kooperativeren, den wahren Weltproblemen von Umwelt, Ungleichheit und Entwicklung gewidmeten internationalen Ordnung.

Prof. Dr. John P. Neelsen (geb. 1943) ist ehemaliger Hochschullehrer am Institut für Soziologie der Universität Tübingen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei WeltTrends