Ukraine-Krieg: Wie Indien sich vom Westen emanzipiert

Im Ukraine-Krieg sieht nicht nur Indien einen europäischen Konflikt, der schädlich für die ganze Welt ist. Der Westen und das internationale System hätten versagt. Wie das bevölkerungsreichste Land eine Neuordnung mit China und Co. anstrebt.

Der Ukrainekonflikt mit der militärischen Intervention Russlands wurde aus einem zunächst innerstaatlich-ethnischen und später regionalen Konflikt im Gefolge des Zusammenbruchs eines Großreiches, hier der Sowjetunion, durch die USA und die Nato in einen europäischen Stellvertreterkrieg mit dem Ziel der wirtschaftlichen Ruinierung und dauerhaften militärischen Eliminierung Russlands als geopolitische Macht verwandelt.

Darüber hinaus ist der kollektive Westen bestrebt, ihn in eine globale systemische Konfrontation zwischen Demokratien und Autokratien zu transformieren und zu erweitern (Biden 2021; Biden-Harris 2022). Oberstes Ziel ist es, den Niedergang seiner historischen Hegemonie aufzuhalten.

Vergebliches Werben um die größte Demokratie

Indien als mit über 1,4 Milliarden Menschen bevölkerungsreichstes Land, fünftgrößte Volkswirtschaft und führender Vertreter des Globalen Südens, spielt dabei eine zentrale Rolle. So war es zu den Gipfelkonferenzen der Demokratien 2021 und 2023 und zum G7-Treffen in Deutschland im Juni 2022 geladen.

Intensive Kontakte, inklusive persönlicher Gespräche verschiedener Staatsoberhäupter mit Premier Modi, werden gepflegt, um Indien in die antirussische Phalanx einzugliedern. So zuletzt von Kanzler Scholz in Neu-Delhi im Umfeld der G20, deren Vorsitz Indien gerade innehat.

Zwar wurde eine Intensivierung der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-ökologischen Beziehungen, erleichterte Immigration indischer IT-Fachleute und eine beschleunigte Wiederaufnahme des seit Jahren brachliegenden Freihandelsabkommens mit der EU vereinbart, aber der Kanzler scheiterte bei seinem zentralen politischen Anliegen (Neelsen 2023).

Indien hat bis heute Russlands Intervention in der Ukraine nicht verurteilt, sich bei entsprechenden UN-Resolutionen enthalten und keine Sanktionen verhängt.

Für die indische Regierung ist es primär ein europäischer Krieg mit global schwerwiegenden negativen Auswirkungen, zu dessen Beendigung Dialog und Diplomatie, nicht risikoeskalierende Waffenlieferungen gefragt sind, denn "today's era is not of war", gab Modi gegenüber Putin zu bedenken. Dabei könnte Neu-Delhi angesichts seiner guten Beziehungen zu Washington und der EU, Moskau sowie Kiew eine wichtige Vermittlerrolle spielen.

Verantwortung des Westens für den Ukrainekrieg

Von Interesse ist hier die Verweigerungshaltung Indiens. Vorab ist festzuhalten, dass der kollektive Westen seine Politik der massiven militärischen Unterstützung der Ukraine grundsätzlich im Namen des verletzten Völkerrechts und der Prinzipien der Vereinten Nationen verfolgt. Ähnlich argumentieren allerdings die Regierungen der Länder, die dem Westen die Gefolgschaft verweigern.

Sie implizieren damit, dass sie die wertebasierten Rechtfertigungen des Westens für diplomatisch-rhetorisches Wortgeklingel ("UN-Speak") halten, das die wahren Motive verschleiert. Damit ist der folgende Argumentationsrahmen abgesteckt.

Bereits vor einem Jahr betonte der indische Außenminister S. Jaishankar: "Europa muss sich von dem Glauben befreien, die Probleme Europas seien die Probleme der Welt, aber die Probleme der Welt sind nicht die Probleme Europas" (Jaishankar 2022).

Damit wird zunächst die geopolitisch paradigmatische Bedeutung des Ukrainekrieges angezweifelt. Die Grundposition der Nato bzw. des kollektiven Westens, wonach Russland (a) die alleinige Verantwortung trägt, (b) grundsätzlich unberechenbar, bellizistisch, normen- und völkerrechtsfeindlich agiert, wird nicht geteilt. Noch weniger geteilt wird zudem die Auffassung einer geopolitischen Auseinandersetzung, bei der sich die Demokratien unter Führung der USA in einem manichäischen Systemkonflikt mit Autokratien, repräsentiert vornehmlich durch Russland und die Volksrepublik China, für Frieden, Völkerrecht und Entwicklung befinden. Warum?

Bezüglich der Ursachen des Konflikts wird wie folgt argumentiert:

1. Die These der Nato von der souveränen Entscheidung jeden Landes, einem Militärbündnis beizutreten, ist angesichts der inhärenten konfrontativen Blockbildung in einer Zeit, wo Zusammenarbeit und friedliche Koexistenz auf der Basis gemeinsamer Sicherheit geboten sind, grundsätzlich infrage zu stellen. Im konkreten Fall kann von ihr nämlich angesichts der Osterweiterung mit Truppen- und atomarer Raketenstationierung direkt an den Grenzen Russlands, speziell nach der Aufkündigung des ABM-Vertrags, keine Rede sein.

Dies gilt insbesondere angesichts der Rolle des Westens beim Coup d’Etat in Kiew 2014 trotz UN-Interventionsverbots in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Hinzu kommen die so ungleichen ökonomischen und militärischen Kräfteverhältnisse. Gegenüber einem Anteil der Nato-Länder am globalen BIP von rund 45 Prozent liegt der Russlands mit 2,3 Prozent auf der Höhe Italiens. Ähnlich verhält es sich beim mehr als 20-fachen Militäretat mit 1,96 Billionen vs. 84 Milliarden US-Dollar. (www.nato.int, 14. Dezember 2022).

2. Auch die These vom imperialistischen Russland mit Ambitionen zur Wiederherstellung des Zarenreiches bzw. der Sowjetunion ist unhaltbar. So haben geschätzte 150.000 Mann russischer Truppen am 24. Februar 2022 die Grenze zur Ukraine überschritten, viel zu wenig angesichts der Ausdehnung des Landes und der Stärke seiner Armee, wenn es darum ging, die Ukraine tatsächlich zu erobern. Es geht zum einen um die Zerstörung der materiellen wie personellen, militärisch nutzbaren Infrastruktur der Ukraine als zukünftiges, Russland unmittelbar bedrohendes Mitglied der Nato.

Zum anderen territorial nur um den russophonen Donbass im Osten des Landes, dessen Bevölkerung von Kiew diskriminiert und dessen Autonomie trotz des völkerrechtlich verbindlichen Minsker Abkommens II vom Februar 2015 mit Waffengewalt und Tausenden von Toten bekämpft wurde (Vad 2023; Kujat 2023).