Ukraine-Krieg: Wie Russland der Propaganda widersteht

Trägt zum Widerstand in Russland bei: Pavel Dorov. Bild: NickLubushko, CC BY-SA 4.0

Studie widerspricht – und zeigt Probleme westlicher Berichterstattung. Verbotene Medien erreichen Menschen trotz Zensur. Welche Rolle spielt "Russlands Mark Zuckerberg"?

Me myself, I’m not a big fan of the idea of countries. (…) I consider myself a legal citizen of the world.

Pavel Durov, New York Times, 2014

Weniger Geburten, wachsende Scheidungsraten, mehr Firmenzusammenbrüche, drastische politische Kritik hinter den Kulissen, oft als Witz oder Satire getarnt – und Millionen kritischer User trotz Zensur: Eine Studie lässt vermuten, dass Unzufriedenheit und Frustration bei vielen Russen größer ist als im Westen gedacht.

Und wie sich auch zeigt: Der Zugang zu Informationen an der Regierung von Präsident Wladimir Putin vorbei ist sehr wohl gegeben.

Initiator der Betrachtung ist der emeritierte Greifswalder Geografieprofessor und Slawist Helmut Klüter, der an die 50 Lehr- und Forschungsaufenthalte in Russland absolvierte. Sein Papier folgt inhaltlich einem Vortrag von Ende Januar 2023 über den "Widerstand gegen den Ukraine-Krieg in Russland". Dort heißt es zur Fragestellung lakonisch:

Die Selbstdemontage des bis etwa 2008 mit großen Mühen aufgebauten Rechtsstaats in Russland fordert spätestens seit 2021 Widerstand geradezu heraus.

Helmut Klüter, Universität Greifswald

Digitale Formen des Widerstands

Im Jahr darauf bildeten sich oft "weiche" Formen des Widerstands, die Klüter im Detail aufgreift; 2022 bildet den Referenzzeitraum der Analyse. Allein in jenem Jahr hat die russische Regierung der Studie zufolge über 247.000 kritische Webseiten blockiert. Gleichzeitig, so Klüter, wurden 33 Millionen VPN-Clients heruntergeladen, mit denen man auf verbotene Websites und private Netzwerke zugreifen kann, ohne erwischt zu werden.

Im ersten Halbjahr 2022 wurde in Russland über fünfmal mehr VPN-Software heruntergeladen als im gesamten Jahr 2020. Mit VPN lassen sich viele der (soweit insgesamt bislang bekannt) 523.000 gesperrten Websites auch innerhalb Russlands einsehen.

Studie zum Widerstand gegen den Ukraine-Krieg in Russland, 2023

Mehrere regimekritische russische Medien sind in Russland über Social-Media- oder Videoplattformen und andere Zugänge weiterhin präsent. Klüter verweist darauf, dass es "in fast jeder größeren russischen Stadt eine Antikriegssubkultur gibt".

Verbotene und ins Ausland abgewanderte russische Medien wie svobodo.org, Meduza oder Zona.media – von offizieller Seite als "ausländische Agenten" diffamiert – gehörten nach seinen Recherchen im Jahr 2022 zu den meistzitierten Internetquellen in Russland. "Das heißt", so der Autor, "ein sehr großer Teil der Bevölkerung informiert sich durchaus alternativ und lässt sich nicht nur durch Putins Propaganda berieseln."

Auch sei es so, dass die Zahl der Wissenschaftler, Künstler, Literaten, Musiker, Rock- und Popstars, Schauspieler und Regisseure, die sich klar gegen den Krieg positionierten, viel größer sei als im Westen angenommen oder hierzulande dargestellt.

In den Altersgruppen bis 44 Jahre stellen "Telegram"-Kanäle mit großer Wahrscheinlichkeit die wichtigste bzw. zweitwichtigste Informationsquelle über den Ukraine-Krieg dar. Gleichzeitig seien seit Beginn des Krieges weit über 100.000 IT-Spezialisten aus Russland ausgereist oder geflohen.

Pavel Durov, ein russischer Mark Zuckerberg

Hinter der Entwicklung von "Telegram" steckt Pavel Durov, Jahrgang 1984. Wegen seiner bizarren Lebensgeschichte war seine Person öfter Medienthema, sein unbestrittener Erfolg brachte ihm den Vergleich als "russischer Mark Zuckerberg" ein. Durov avancierte geradezu zum Helden für Datenschutz-Aktivisten.

Telegram ist ein verschlüsselter Messenger-Dienst, der es Regierungen schwer macht, die User auszuspionieren. Sein Vermögen und die Mittel zur Gründung von Telegram hatte Durov durch die Gründung des in Russland äußerst populären sozialen Netzwerks VKontakte gemacht. Regierungsgegner nutzten VKontakte, um den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny zu unterstützen. Die Regierung selber brachte VKontakte zunehmend unter eigene Kontrolle.

Klüter beschreibt Telegram in seiner Studie als wichtigsten überregionalen Informationskanal für den Widerstand gegen den Ukraine-Krieg: "Ohne Telegram gäbe es keine Nawalny-Bewegung, jedenfalls nicht in der jetzigen Form." Über den Dienst erreichen die in Russland verbotenen Medien – darunter Meduza, Tajga-info, Nowaja Gazeta, OVD-info, Nezygar und andere – ihr Publikum.

Mit über 15 Milliarden US-Dollar – die Neue Zürcher Zeitung (NZZ)spricht sogar von 17 Milliarden – ist Pavel Durov laut Forbes der drittreichste Mann Russlands. 2016 berichtete Business Insider über sein Leben.

Durov gab angeblich monatlich eine Million US-Dollar (gut 900.000 Euro) aus, um Telegram am Leben zu halten, nachdem er die Kontrolle über VKontakte verloren hatte und ins Ausland fliehen musste.

In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen hätten die Telegram-Kanäle als wichtigste Informationsquelle das Fernsehen heute überflügelt, so lautet Klüters Recherche. Die NZZ merkte kritisch an, in der Schweiz und in Deutschland werde der Dienst "vor allem von Verschwörungstheoretikern und Dissidenten verwendet".

Kritische Masse für Proteste nicht erreicht

Man sollte aber die Erwartungen nicht zu hoch hängen und auch berücksichtigen: Das Internet mit seinen Medienportalen dürfte sich kaum als ein Weg für die breite russische Masse erweisen, eine nachhaltige Veränderung herbeizuführen. "Der Informationsraum wurde sterilisiert" – darauf wies die Osteuropa-Korrespondentin des Deutschlandfunks, Sabine Adler, im vergangenen Jahr in einem Interview.

Im Kontext der Nawalny-Proteste sind viele Kritiker verschwunden, es drohen Verhaftung, Arrest, mehrere Jahre Straflager und auch eine Reihe anderer Deckelungen und Restriktionen. Polizeikräfte, Einsatzwagen, Elektroschocker, mehrere Tage Untersuchungshaft, das ist die Realität auf Straßen und Plätzen, sofern sich Protestler in die Öffentlichkeit wagen.

Es genügt schon, sich in den sozialen Medien an einem Aufruf zu beteiligen, um in ernsthafte Schwierigkeiten zu geraten und sich strafbar zu machen, berichtet Adler. Man kann auch festgenommen werden, wenn man Polizei bei der Arbeit filmt oder fotografiert. Ultimativ gilt seit Anfang 2022: Das Wort "Krieg" zu benutzen ist gefährlich.

Sabine Adler konstatiert daher zum Thema nüchtern: Wohl kaum kann unter diesen Umständen eine "Kritische Masse" erreicht werden. Das gibt die russische Protestpraxis bzw. politische Protestkultur nicht her, auch wenn sie medial stärker aktiv ist als im Westen bekannt.

Resümee

Interessanterweise zieht Helmut Klüter in seiner Greifswalder Analyse auch folgende Schlussfolgerung: Widerstand gegen den Krieg werde immer stärker zum Widerstand gegen die Regierung. Diese Tendenz zeige sich nicht nur in Wirtschaftsunternehmen, sondern auch in russischen Behörden.

Zudem laufe der Widerstand gegen den Ukraine-Krieg parallel mit einer Kritik an geopolitischen Ansätzen.

Und schließlich: Die Tendenz des Widerstands entwickle sich laut Beobachtung von formalen, hierarchischen (und damit leicht angreifbaren) Organisationen hin zu informellen, holokratischen Strukturen.

Die westliche Berichterstattung kommt jedoch in keinem Fall gut weg. Die angeblich so breite Loyalität der russischen Bevölkerung für Putins Unterfangen werde in der westlichen Öffentlichkeit "völlig überhöht" dargestellt und wahrgenommen.