Ukraine: Umformung durch deutsche Experten

Kiew. Foto: Jorge Láscar; Lizenz: CC BY 2.0

Das Bundeswirtschaftsministerium bezahlt Politiker-Beeinflussung in der Ukraine, Weißrussland und Moldawien

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Die derzeitige Lage in der Ukraine kann einen nur zum Weinen bringen. Wie schön, dass das Land in der Not auf starke Denkfabriken bauen kann, die seinen geplagten Politikern Sachverstand zur Verfügung stellen.

Da gibt es zum Beispiel das Institute for Economic Research and Policy Consulting ("Institut für Wirtschaftsforschung und Politikberatung") in Kiew, im Folgenden IER genannt.

Das IER wurde 1999 von der Bundesrepublik Deutschland gegründet oder mitgegründet und jahrelang voll bezahlt.1 Sein selbsterklärtes Ziel ist, "eine alternative Sichtweise auf zentrale Probleme der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Ukraine" vorzustellen. Weiter will man Politik beraten und "als echter politischer Meinungsführer wirken".

Inzwischen schmückt sich das Institut, das sich selbst als "unabhängig" bezeichnet, mit weiteren "Partnern", bei denen es sich zumindest teilweise um zusätzliche Finanziers handeln könnte. Diese Partner sind wiederum selbst untereinander so vielfach verflochten, dass einem schwindelig wird.

Neben einigen klar identifizierten Institutionen wie der europäischen Entwicklungsbank und dem IWF sind darunter zahlreiche NGOs. Darunter das eher harmlos wirkende EastWestInstitute (Vorsitzender: Ross Perot Jr., Finanziers u.a.: Belgische Regierung, Carnegie Corporation, Vereinigte Arabische Emirate, Wells Fargo) oder das sehr deutlich positionierte Central European Policy Institute (in Bratislawa). Dieser "Partner" des IER gibt seinerseits die "Slowakische Atlantische Organisation", die Konrad-Adenauer-Stiftung, die NATO und andere einschlägige politische Akteure als Partner an.

Wen und was die Bunderegierung im Kiewer IER bezahlt

Nach wie vor gibt es zumindest einige unmittelbar von der deutschen Regierung finanzierte Abteilungen im Kiewer IER. Eine davon kümmert sich um die marktwirtschaftliche Umformung der ukrainischen Agrarindustrie und um "Bioenergie", wofür die gute ukrainische Schwarzerde offenbar in Zukunft viel verwendet werden soll.

Vom deutschen Wirtschaftsministerium unterhalten wird eine zentrale Institution des IER: Die "German Advisory Group". Diese ist schon seit 1994 in der Ukraine tätig, um beim Umbau der Wirtschaft zur Seite zu stehen. Nun war Deutschland selbst bei der Transformation der DDR-Wirtschaft über die Treuhand nicht gerade erfolgreich.

Aber möglicherweise wollte man ja gerade die hier gemachten schlechten Erfahrungen mahnend weitergeben. Handelt es sich bei der German Advisory Group also um in der DDR-Abwicklung erfahrene deutsche Politiker, Verwaltungsbeamte oder Wissenschaftler, die die gemachten Fehler aufgearbeitet haben? Nein. Hinter der vom Wirtschaftsministerium bezahlten Truppe verbirgt sich eine Berliner Unternehmensberatung namens Berlin Economics GmbH.2

Hier berät man auch Firmen, die in Osteuropa investieren wollen. Der jung-dynamische Chef der Firma stellt seinen guten Ratschlag und reichen Erfahrungsschatz außer der Ukraine auch noch ungefragt Weißrussland und Moldawien zur Verfügung. Dort nennt man sich "German Economic Team", man berät natürlich "unabhängig" und "in einem engen Dialog mit Akteuren der Zivilgesellschaft".

Bezahlt wird auch diese Beratung von der deutschen Regierung. Es ist anzunehmen, dass die folgenden Aussagen über die Tätigkeit in der Ukraine mutatis mutandis auch in den anderen genannten Ländern zutreffen.

Welche Weisheiten die deutschen Experten den Kiewer Politikern vermitteln

Im März 2014 erst hat die Beratergruppe auf 12 Seiten brandaktuelle Ratschläge an die neue ukrainische Regierung verfasst.3 Den akuten politischen und militärischen Schlamassel ignoriert man. Es geht um die fatale wirtschaftliche Lage des Landes, das ja, wie wir aus den Medien wissen, "kurz vor der Staatspleite" steht.

Was ist nun der "alternative Blickwinkel", den die Beratergrupper gemäß IER-Motto auf die Lage anzubieten hat? Dieser: "Brutale und unpopuläre Maßnahmen werden benötitgt, um das doppelte Defizit zu reduzieren."

Gemeint mit dem doppelten Dezifit (Fachjargon: "Zwillingsdefizit") sind das Haushaltsdefizit und das Defizit in der Handelsbilanz. Auf beide, seit der Finanzkrise Sorgenkinder, hat sich zusätzlich die Maidan-Revolution negativ ausgewirkt, da Putin gewährte Gaspreis-Rabatte wieder aufhob und zu vorherigen schikanösen Preispraktiken zurückkehrte. Diese Folge eines "prowestlichen" Umsturzes war zu erwarten. Es ist nicht bekannt, dass deutsche Berater vom Janukowitsch-Sturz abgeraten hätten, um die ukrainischen Defizite kleinzuhalten (deren Hauptquelle das russischen Gas ist).

Wozu die Berater konkret raten, ist umso bekannter. Es war schon im Kontext des EU-Assoziierungsabkommens von der Ukraine verlangt worden. Der Internationale Währungsfond stellt die gleichen Forderungen seit Jahren: Die staatliche Gaspreishilfen sollen reduziert werden, obwohl der "echte" russische Gaspreis für davon betroffene Ukrainer mit ihren Mini-Einkommen kaum zu stemmen ist. Deshalb natürlich ist die Maßnahme "brutal und unpopulär". (Sie könnte außerdem der ukrainischen Industrie schaden.)

Weiter soll im Sozialbereich und bei staatlichen Gehältern gespart werden. Neben diesen Forderungen zur Haushaltskonsolidierung bietet die deutsche Expertise noch weitere Empfehlungen, die Wachstum produzieren sollen und die ebenfalls weder originell noch "alternativ" wirken.

Man will gemäß üblichem Schema: Abbau jeglicher Handelshemmnisse und Schutzzölle, Schwächung des Kündigungsschutzes (bekanntlich in Spanien und Italien wenig erfolgreich), Bürokratieabbau; Abbau der Korruption (wer wollte das nicht?). Viele Detail-Ratschläge sind sinnvoller Common Sense: Will man, dass Gerichte nicht korrupt sind, sollte man sie ausreichend bezahlen, zumindest so, dass sie sich Gesetzestexte leisten können.

Dummerweise widerspricht das aber der von den Experten anderswo empfohlenen "Zurückhaltung" bei Gehältern des öffentlichen Dienstes. Neben dem Hinweis auf zu schlechte Bezahlung von Gerichtspersonal steht der eher abenteuerliche Vorschlag: Wegen der Korruption der öffentlichen Gerichte solle man es mit "unabhängigen", muss wohl heißen: privaten Gerichten versuchen.4

Dämmerschlaf bei der monatlichen Beratungsrunde?

Mit anderen Worten: Die deutschen Ratschläge sind im Großen und Ganzen das klassische Reformprogramm, das der IWF der Ukraine seit ihrem postsowjetischen Wirtschaftszusammenbruch alle Jahre wieder ins Stammbuch schreibt. Daher erstaunt, dass sich die deutsche Beratergruppe einmal im Monat mit hochrangigen ukrainischen Politikern treffen soll.5

Wenn das seit 1994 geschieht, fragt man sich, ob es noch irgendetwas Neues zu sagen gibt und warum man die Beratung fortsetzt, wenn es zwanzig Jahren lang so wenig geholfen hat. Man fragt sich auch, warum die ukrainischen Politiker stets bereit stehen zu den monatlichen Beratungs-Sessions. Die müssen sich doch allmählich langweilen. Bekommen sie Geld fürs Zuhören? Ja, warum "schenkt" man der Ukraine überhaupt eine Wirtschaftsberatung?

Die Ukraine ist nicht Liberia. Wenn eine ukrainische Regierung die Expertise einer Handvoll deutscher Volkswirte interessiert, kann sie dafür zahlen. Hat die Ukraine die Beratung, zumal, wenn sie so banal daherkommt, denn nötig? Einen wirtschaftswissenschaftlichen Studienabschluss und Erfahrung in der Wirtschaft haben viele, wahrscheinlich zu viele ukrainische Politiker. Abgesehen davon, dass sich ja Weltwährungsfonds und Weltbank mit einschlägigen Ratschlägen und Expertisen gegenüber der Ukraine niemals zurückgehalten haben.

Über den tieferen Sinn der Dauer-Einflussnahme von Mietmäulern der deutschen Regierung auf ukrainische Politiker und generell auf Nicht-EU-Länder in der Peripherie der russischen Föderation könnte man Spekulationen anstellen. Ich will das hier nicht tun. Klar ist: Demokratisch ist diese langjährige Einmischung in ein Drittland, lanciert aus einem als "unabhängig" getarnten "Wirtschaftsforschungsinstitut", nicht. Auch ist die Beratung einseitig. Denn es gibt Dinge, die kann man anders sehen. Dafür muss man nicht mal Kommunist oder Sozialmarktwirtschaftler sein.

Alternativlos?

Die Diagnose, nur ein "brutales" staatliches Sparprogramm könne die Ukraine retten, ist nicht zwingend. Selbst dann nicht, wenn man dem Glauben anhängt, man könne mit Sparprogrammen die Wirtschaft ankurbeln, und wenn man bereit ist, über die Leichen auf diesem Weg zu gehen. (Die bereits durchgeführte IWF-Kur-cum-Privatisierung von 1992-94 hatte die Ukraine kurzfristig ins Elend gestürzt, ohne sie langfristig zu stabilisieren.6)

Denn die Ukraine hat wichtigere Probleme als zu hohe Staatsausgaben. Mit etwas über 40 % des BIP hat sie bisher noch eine geringere Schuldenquote als Deutschland. Das laufende Haushaltdefizit betrug im Rekordjahr 2013 laut Weltbank 4,5 % (des BIP); die deutsche Beratergruppe nennt "7-8 %". Defizite in diesem Bereich leisten sich die USA öfter; in der Krise waren sie in der EU gängig und sie sind auch in Deutschland nicht ganz unbekannt.

Dazu hat die Ukraine aber einen Spitzensteuersatz, der mit nur 17 % (Einkommen) um Klassen niedriger ist als in allen Kern-EU-Ländern sowie den USA. Dieser Steuersatz ist wahrscheinlich deshalb so niedrig, weil die Ukraine in der Transformationsphase schon neoliberal beraten wurde. Auch die Beratungs-Klienten Tschechien und das Baltikum kennen solche Steuersätze.

Das Experiment mit Mini-Steuern hat allerdings in der Ukraine den versprochenen Wohlstand nicht gebracht. Es würde nicht nur der Vernunft, sondern auch Forderungen der Maidan-Bewegung entgegenkommen, die Spitzensteuersätze anzuheben. So würden die Profiteure der Transformation stärker an der Staatsfinanzierung beteiligt. Umverteilung nach unten beeinflusst das Wachstum und auch das Steueraufkommen (über Verbrauchssteuern) günstiger als der umgekehrte Fall, weil Menschen mit geringem Einkommen nahezu hundert Prozent ihres Einkommens ausgeben - und zwar im eigenen Land.

Eine zugleich eingeführte Exilanten-Steuergesetzgebung wie in den USA, die die Steuerpflicht von der Staatsbürgerschaft abhängig macht, würde der Steuerflucht der Plutokraten ins Ausland einen Riegel vorschieben. Hier könnte die EU sich einmal wirklich hilfreich zeigen, nicht nur mit Rat, sondern auch mit Tat beim Eintreiben der Auslandssteuer.

Sicher ist es unerfreulich, dass die Ukraine bislang die Gaspreise so hoch subventionierte. Womöglich hat gerade die Schwerindustrie diese Subventionen nicht nötig, da der Lieferant des Gases ein Abnehmer dieser Industrie und von den Waren abhängig ist; die Autorin vermag das nicht zu beurteilen. Sicher wäre es theoretisch sinnvoll, in Energieeffizienz zu investieren. Das kostet allerdings auch Geld (die Berater setzen dafür das Dreifache der jährlichen ukrainischen Staatseinnahmen an; woher das Sümmchen kommen soll, verraten sie nicht).

Es obliegt im allgemeinen einem Land, selbst zu entscheiden, wie es Subventionen und Transfereinkommen verteilt. In Deutschland gibt es das höchste Kindergeld Europas (ohne Bedürftigkeitsprüfung). Es gibt Wohngeld, Agrarsubventionen und EE-Subventionen (ohne Bedürftigkeitsprüfung der Betreiber), um nur einige zu nennen. Wer entscheidet, ob die ukrainische Gießkannen-Gaspreis-Subvention schlimmer ist?

Das Gaspreis-Problem der Ukraine ist ohnehin eines, das erst seit der vom Westen bejubelten "Orangen Revolution" existiert, mitverursacht durch mangelnde Diplomatie der Juschtschenko- und der Tymoschenko-Regierung sowie neuerlich verschlimmert durch den irregulären Sturz der Janukowitsch-Regierung mithilfe von Politikern wie Jazenjuk und Turtschynow, beide selbst Wirtschaftswissenschaftler und Lehrlinge westlicher Beratung. Die jetzigen Währungs- und Refinanzierungsprobleme sind durch die akute politisch-militärische Krise mitbedingt.

Freunde hat das Land aber nicht, nur Interessenten

Ein guter Freund des Landes würde großzügige Finanzhilfe mit langfristigen Krediten zusagen, wenn und nur wenn sich eine Regierung der nationalen Einheit bildet, die Wahlen auch des Parlaments vorbereitet und Schritte zur Versöhnung einleitet. Freunde hat das Land aber nicht, nur Interessenten. Die akuten Probleme und viele langfristige Grundfragen der ukrainischen Wirtschaft und Gesellschaft können nur politisch, diplomatisch und durch Einstellungsänderungen gelöst werden. Wirtschaftswissenschaftler-Sachverstand war dabei offenbar bisher kein erfolgreiches Rezept.

Eines der Grundprobleme der Ukraine ist, dass die politische Kaste allzu sehr dem Typus des Homo oeconomicus entspricht: Sie ist immer auf den eigenen Vorteil bedacht. Ausgerechnet eine Unternehmensberatung wird an diesem Ethik-Defizit nichts ändern.