Ukraine: "Volkskriegsführung" nach dem US-amerikanischen Resistance Operating Concept
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Das ROC-Konzept geht von einer "totalen Verteidigung" aus, an der alle Ebenen der Gesellschaft beteiligt sind. Die Förderung von Nationalismus, strategische Kommunikation und Terroranschläge auf "Kollaborateure" stehen im Einklang damit.
Das Hauptaugenmerk des Resistance Operating Concept (ROC) liegt auf der Entwicklung einer national autorisierten, organisierten Widerstandsfähigkeit vor einer Invasion und vollständigen oder teilweisen Besetzung, die zu einem Verlust von Territorium und Souveränität führt. Widerstand als eine Form der Kriegsführung kann als Teil einer vielschichtigen, tiefgreifenden Landesverteidigung konzipiert werden.
Resistance Operating Concept (ROC)
Ukrainische Soldaten werden seit Monaten außerhalb des Kriegslandes geschult, wie die Tagesschau gestern berichtete. In der EU gebe es die Absicht, sich stärker bei der Ausbildung der ukrainischen Soldaten zu engagieren. Zitiert wird beispielsweise ein Vertreter der Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht mit der Aussage, "wenn Russland sich auf einen langfristigen Krieg einstelle, dann müsse man das ebenso".
Der EU-Kommissar für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, macht sich laut dem Bericht für ein "neues Programm zur Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte" stark. Auch Borell argumentiert damit, dass der "Krieg voraussichtlich weiter andauern wird und dies nicht nur Waffenlieferungen, sondern auch Unterstützung in Form von Ausbildung erfordert".
Dass die USA und die Nato schon seit Langem die ukrainischen Streitkräfte ausgebildet haben, ist aus unzähligen Berichten bekannt. Ein neuer Aspekt der Ausbildung zur "Wehrtüchtigkeit" ist, worüber in Deutschland bisher nur sporadisch berichtet wurde, so zum Beispiel auf ntv, wo sich Burkhard Meißner vom Forschungsinstitut GIDS, das der Führungsakademie der Bundeswehr angegliedert ist, zu einer "Volks-Kriegsführung", einer Mobilisierung "über alle Ebenen und durch alle Kanäle", äußert (ab 4:00).
Das sei eine Verteidigungsstrategie, auf die sich die Ukraine in den letzten Monaten vor dem Krieg an vielen Stellen vorbereitet habe, und die Ukraine habe damit auf der Ebene der "Klein-Kriegführung", der "Volks-Kriegsführung", auf jeden Fall einen Vorteil gegenüber dem Angreifer, weil das "Nichtverlieren für einen Schwächeren schon ein Sieg" sei. Diese Strategie sei ganz sicher einer von mehreren Gründen, z.B. den erheblichen Waffenlieferungen, weshalb die Ukraine so lange gegen den Angreifer standhalten konnte.
Anlass für Meißners Ausführungen ist ein kürzlich erschienener CNN-Bericht über das Resistance Operating Concept (ROC). (Die Red.)
Die Umsetzung des ROC in der Ukraine
Wie CNN von "amerikanischen und europäischen Offiziellen" erfahren haben will, sollen die ukrainischen Streitkräfte "erfolgreich" eine Methode des Widerstandskampfes angewendet haben, die von US-amerikanischen Spezialeinheiten, dem SOCEUR, US-Special-Operations-Command- Europe, entwickelt worden sei.
Das sogenannte Resistance Operating Concept (ROC) sei, so CNN, 2013 nach dem Georgien-Krieg entwickelt und nach der Übernahme der Krim 2014 durch Russland als Anleitung betrachtet worden, wie Staaten gegenüber einem großen Nachbarn, der in sie einmarschiert ist, Widerstand leisten und gegen ihn kämpfen können.
Das Konzept basiert darauf, nicht einen totalen Krieg zu führen, sondern eine "totale Verteidigung", an der auch die zivile Bevölkerung bzw. die gesamte Gesellschaft ("whole-of-society") beteiligt ist – und damit zum Kriegsbeteiligten wird.
Der Begriff der "totalen Verteidigung" stammt bereits aus dem Kalten Krieg und besagt, dass die ganze Gesellschaft den Krieg führt. Auch im Kalten Krieg wurde das Konzept von Stay-behind-Widerstandsgruppen wie Gladio verfolgt, auf das auch zurückgegriffen wird.
Vorbild: Estnische Verteidigungsliga
Als Vorbild sieht das Pentagon den Freiwilligenverband Estnische Verteidigungsliga, die dem Verteidigungsministerium in Tallin untersteht und von Spezialkräften der US-Army unterstützt wird.
Der heute 16.000 Frauen und Männer umfassende Freiwilligenverband entstand zunächst als Bürgerwehr 1918 im Rahmen der russischen Revolution und schließlich dem Estnischen Freiheits- oder Unabhängigkeitskrieg gegen die Bolschewiki. Nach der Niederlage Deutschlands verblieben deutsche Soldaten im Land.
Der Freiwilligenverband wurde zur Nationalgarde und war dann an der von Großbritannien militärisch unterstützten erfolgreichen Offensive gegen Russland beteiligt. Die Verteidigungsliga bleib während der Selbständigkeit bestehen, wurde aber nach dem sowjetischen Einmarsch 1940 aufgelöst, um sich mit der Unterstützung der Deutschen Wehrmacht erneut zu organisieren und auf der Seite der Nazis zu kämpfen.
Nach dem Rückzug der Nazis aus Estland löste sich der Verband aus, um dann 1974 im Exil erneut gegründet und blitzartig mit der Selbständigkeit 1990 wieder in Estland aufgebaut zu werden.
Widerstandskapazitäten aufbauen
Der Kern des Konzepts besteht eben in der Einbeziehung der Bevölkerung und dem Aufbau von Bürgerwehren oder Freiwilligenverbänden, wie das nicht nur in den baltischen Staaten und Polen gefördert wurde, sondern eben auch in der Ukraine, wo im Krieg mit den Separatisten in Donezk und Lugansk schnell auch dubiose, teils aus der Maidan-Bewegung stammende Freiwilligenverbände entstanden sind, deren Kampfkraft den damals kaum kampffähigen Truppen der regulären Armee überlegen war. Kurz vor Beginn des Krieges wurden dann die Territorialverteidigungseinheiten eingerichtet und kurz ausgebildet.
ROC basiert darauf, wie das auch in der Ukraine mit der Hilfe der USA geschehen ist, schon in Friedenszeiten die Widerstandskapazitäten aufzubauen. Interessant ist, dass dabei neben der Vorbereitung für den Krieg oder für Krisen "die Entwicklung einer starken Nationalität" und "patriotische Erziehung", auch "psychologische Vorbereitung" genannt, als wichtig erachtet wird.
Der in der Ukraine gepflegte Nationalismus scheint direkt mit ROC verbunden und von den USA gefördert worden zu sein. Ebenso die stark ausgeprägte "strategische Kommunikation".
General Richard Clarke, der Kommandeur des US-Special-Operations-Command, berichtete im April dieses Jahres dem Verteidigungsausschuss des Senats, dass US-Spezialeinheiten Widerstandseinheiten – i.O. "resistance companies" – in der Ukraine seit 18 Monaten ausgebildet hätten.
"Deutliche Zeichen" für die Umsetzung des ROC-Konzepts
Der US-Sender zitiert Ex-Leutnant Kevin D. Stringer, der das Entwicklungsteam für das Widerstandskonzept geleitet hat. Stringer sagt, dass die Angriffe auf Waffenlager und Stützpunkte hinter der Front deutliche Zeichen für die Umsetzung des ROC-Konzepts seien: "Da dies auf konventionellem Wege nicht möglich ist, müssten Spezialeinheiten eingesetzt werden, und diese [Kräfte] bräuchten Unterstützung beim Widerstand - Aufklärung, Ressourcen, Logistik -, um Zugang zu diesen Regionen zu erhalten."
Die Angriffe, die weit hinter den feindlichen Linien ausgeführt werden, würden außerhalb der Reichweite der Waffen, die die USA und andere Länder in die Ukraine geschickt haben, stattfinden. Stringer schließt daraus, wie er gegenüber CNN ausführt, dass "mit hoher Wahrscheinlichkeit" und "sehr plausibel" ROC-Prinzipien in der aktuellen Kriegssituation zum Tragen kommen. Dass zunehmend Mord- oder Terroranschläge auf Kollaborateure stattfinden, wird hingegen nicht erwähnt.