Ukraine: Wird die Offensive andauern?
Noch ist unklar, ob die Ukrainer ihren Siegeszug im Norden der Kriegsfront gegen Russland unmittelbar fortsetzen können.
Nach der bemerkenswert erfolgreichen Großoffensive der Ukrainer bei Charkow herrscht an der Front im Ukraine-Krieg aktuell keine Ruhe. Kämpfe toben vor allem entlang des Flusses Oskol, hinter den sich die russischen Streitkräfte nach dem ukrainischen Durchbruch hastig zurückgezogen haben. Hier wollen sie eine neue Verteidigungslinie aufbauen, bis sie in einer unbestimmten Zukunft das Blatt wieder wenden können.
Ukrainer melden Einnahme von Kupjansk
Die lettische Onlinezeitung Meduza schreibt davon, dass in der nun umkämpften Stadt Kupjansk trotz gesprengter Brücken ukrainische Spezialeinheiten den Übergang über den Oskol geschafft hätten und die Ukrainer mehrere Brückenköpfe auf der russischen Seite des Oskol besäßen.
Die Ukrainer selbst berichten davon, Kupjansk bereits komplett eingenommen zu haben. Unabhängige Bestätigungen gab es zunächst nicht.
Der Oskol, ein Teil des Flusssystems des Don, ist dabei kein unüberwindlicher Strom, sondern ein mittelgroßer Fluss mit 472 Kilometern Länge, der wiederum in den etwas größeren Sewerskij Donezk fließt. Diesen haben die Ukrainer laut Meduza ebenfalls überschritten und griffen die von Russland besetzten Städte Liman und Jampol an - mit aktuell völlig offenem Ausgang. Sie werden bisher beide weiter von den Russen beherrscht.
Die militärische Entwicklung im Ukraine-Krieg (19 Bilder)
Der Übergang über den Oskol und den Sewerskij Donezk ist von so zentraler Bedeutung, weil in der dahinter liegenden und komplett russisch besetzten Region Lugansk keine weitere derart große natürliche Barriere existiert, die auch von einer Truppen in der Minderzahl einfach verteidigt werden könnte – und die russischen Soldaten vor Ort sind aufgrund einer weiterhin fehlenden Mobilmachung in Russland tatsächlich zahlenmäßig weniger als die der Ukraine.
Dennoch versuchen sie aktuell aus der reinen Defensive zu kommen und führen bei Donezk und Bachmut eigene Offensivaktionen durch.
Russland setzt erstmals iranische Drohnen ein
In einem anderen wichtigen Bereich, in dem die Russen in den letzten Monaten Defizite im Kampf hatten, haben sie dagegen nun aufgeholt: bei den Kampfdrohnen. Hier setzen die Ukrainer erfolgreich Geräte türkischer Bauart vom Typ Bayraktar TB2 ein, die russischen Kampfformationen empflindliche Verluste beibringen konnten. Russland selbst hatte seit Kriegsbeginn ein Defizit im Drohnenkampf, weshalb man im Iran mehrere Modelle bestellte, die zu Beginn technische Probleme machten.
Diese scheinen nun entweder behoben zu sein oder man ignoriert sie von russischer Seite wegen des ungünstigen Kriegsverlaufs. Auf jeden Fall gibt es aus den letzten Tagen mehrere Berichte, dass iranische Kamikaze-Drohnen vom Typ Shahed-136 ukrainische Artillerie und gepanzerte Mannschaftstransporter vernichtet hätten.
Hier müssen die Ukrainer ihre Strategie anpassen, da die Drohnen sehr tief fliegen und schwer zu orten sind. Gerade für westliche Hightech-Waffen wie Mehrfachraketenwerfer stellen sie eine ernstzunehmende Gefahr dar. Aufgrund großer Reichweite können sie nicht nur an der Front, sondern auch auf Ziele im Hinterland angesetzt werden.
Truppenmangel sorgt in Russland für hitzige Debatten
Hinter der Front gibt es in Russland heftige und aufgeregte Diskussionen auch unter Kriegsbefürwortern, ob die aktuelle Truppenzahl in der Ukraine ausreichend ist oder über eine Teil- oder Generalmobilmachung aufgestockt werden muss. Sogar das in Russland sonst verbotene Wort "Krieg" für die Ukraine-Invasion, die sonst "Sondereinsatz" genannt werden muss, wird von den Befürwortern von Mobilisierungen nun bis zu TV-Talkshows gebraucht, während Oppositionelle für seine Benutzung mit Strafprozessen überzogen werden.
Russlands Präsident Putin versuchte hier am Rande eines Gipfeltreffens der Shanghai-Organisation in Samarkand Ruhe zu verbreiten. Er sprach davon, dass die russische Armee weiter in einem "langsamen Tempo", aber konsequent neue Gebiete besetzen werde. Man kämpfe absichtlich nur mit einem Teil der russischen Truppen, den Vertragssoldaten, vergleichbar mit den deutschen Zeit- und Berufssoldaten und schicke Wehrpflichtige nicht in den "Sondereinsatz".
Dass es dabei bleiben kann, wenn Russland seinen Feldzug nicht verlieren will, bezweifeln nicht nur ausländische, sondern mittlerweile auch russische Experten. Berichte gibt es auch davon, dass Wehrpflichtige unter Druck gesetzt werden, sich zu verpflichten, damit man sie an die ukrainische Front schicken kann.
Schlagzeilen machten daneben auch in Russland Rekrutierungsaktionen der russischen Söldnertruppe Wagner PMC in russischen Gefängnissen gegen eine sofortige Freilassung in die Armee.
Hier fragten Mitglieder des St. Petersburger Menschenrechtsrates die russische Generalstaatsanwaltschaft an, auf welcher Grundlage Strafgefangene hier vor Haftverbüßung entlassen werden, da in Russland rein rechtlich als Grundlage nur eine Begnadigung durch den Präsidenten oder eine durch die Staatsduma beschlossene Amnestie in Frage kommen, wenn die Strafe noch nicht zur Bewährung ausgesetzt ist.
Die Aufstellung von regionalen Freiwilligeneinheiten in ganz Russland brachte für ein wirksames Gegengewicht gegen die hoch motivierten Ukrainer bisher keinen Ersatz, da die Freiwilligmeldungen dafür nicht zahlreich genug waren. Die große Mehrheit der Russen ist nicht bereit, für Putins Invasion freiwillig an die Front zu gehen.
Fernunterricht und Zerstörungen in russischer Grenzregion
Stärker in Mitleidenschaft gezogen wird durch den Krieg nun auch erstmals angestammtes, russisches Territorium, die zur Ukraine benachbarte Region Belgorod. Beim Blitzfeldzug der ukrainischen Truppen, der sie hier bis an die Staatsgrenze führte, vertrieben sie zahlreiche prorussische Kollaborateure, die zu Tausenden aus Angst vor Racheakten in die Gegend von Belgorod flohen.
Russische Medien berichteten daneben von Festnahmen russischer Lehrer, die von den vorrückenden Ukrainern gefangen genommen worden seien. Russland hatte in der Zeit der eigenen Besatzung der Region eine Zwangsrussifizierung des örtlichen Schulwesens vorgesehen.
Nach der Verschiebung der Front verstärkte sich vorheriger gelegentlicher Beschuss vom ukrainischen Gebiet aus nach Belgorod. Im Grenzdorf Krasny Chutor wurden laut der Zeitung Kommersant 30 Haushalte und ein Kulturhaus zerstört, in der Stadt Walujki 72 Häuser beschädigt. Der Schulbetrieb im Grenzstreifen bis zu 10 Kilometer ins russische Hinterland wurde daraufhin vom Gouverneur auf Fernunterricht umgestellt, was russlandweit Schlagzeilen machte.
Ob es sich hier um Racheakte für den russischen Beschuss zahlreicher ziviler Einrichtungen und Infrastruktur handelte, die auch zu großflächigen Stromausfällen in der Ukraine führten, kann nur spekuliert werden. Putin reagierte in seiner Stellungnahme auf jeden Fall umfassend auf den Beschuss und drohte die Möglichkeit "ernsthafterer Angriffe" auf das Nachbarland an, sollte er sich fortsetzen.
Beschuss von russischem Gebiet stellt auch für Russlands Führung eine erhebliche Gefahr dar, vermag ihre Armee doch offenbar nicht, Zivilisten in der Grenzregion ausreichend zu schützen. In einem Krieg, der auf die eigene Veranlassung des Kremlherren begonnen wurde.