Ukrainische Angriffe in Russland sollten für Washington ein Alarmsignal sein

Der Kommandeur des russischen Freiwilligenkorps (RDK) Denis Kapustin bzw. Nikitin alias White Rex mit Kämpfern im Hintergrund. Bild: armyinform.ua / CC BY 4.0

Kämpfe in Belgorod, Drohnenangriffe auf Moskau: Die USA laufen Gefahr, direkt in den Krieg gezogen zu werden. Wann werden Russlands rote Linien überschritten? Die Gefahr liegt im Unbestimmten.

Der Überfall mutmaßlicher russischer Oppositionsparamilitärs aus der Ukraine auf die russische Provinz Belgorod sollte für die Biden-Administration ein Alarmsignal sein, wie schwierig es ist, die Eskalation in der Ukraine in Schach zu halten und so das Risiko zu minimieren, dass die USA in den Krieg hineingezogen werden.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft.

Deswegen lehnt die offizielle US-Politik ukrainische Angriffe auf russisches Territorium weiterhin ab. Die ukrainische Regierung hat Washington im vergangenen Jahr auch zugesagt, das nicht zu tun.

Nach dem Angriff auf Brjansk im März ist es der zweite Angriff der Oppositionsmilizen in Russland. Auch die Drohnenangriffe von der Ukraine auf Russland werden Berichten zufolge fortgesetzt.

Da die Ukraine von Russland überfallen wurde, hat sie natürlich rechtlich und moralisch betrachtet absolut das Recht, auch in russischem Gebiet zurückzuschlagen. Ob es im Interesse der Vereinigten Staaten liegt, ist eine ganz andere Frage – und angesichts der entscheidenden Rolle, die die USA bei der Bewaffnung und Unterstützung der Ukraine spielen, hat die US-Regierung auch das Recht, über die Verwendung ihrer Hilfe mitzubestimmen.

Sie hat so gar nicht nur das Recht, sondern die Pflicht gegenüber dem US-amerikanischen Volk, diesen Einfluss auszuüben. Denn die Biden-Regierung (und die große Mehrheit der Regierungen von Washingtons Nato-Verbündeten) haben ihren Wählern wiederholt versprochen, dass sie nicht zulassen werden, dass der Westen direkt in einen Krieg mit Russland hineingezogen wird. Die Ermöglichung ukrainischer Angriffe auf russisches Territorium weist letztlich in genau diese Richtung.

Die New York Times hat Bilder veröffentlicht, die darauf hindeuten, dass bei dem Angriff gepanzerte US-Fahrzeuge eingesetzt wurden. Das wurde von Denis Kapustin (der sich selber den Nachnamen Nikitin gab) dem Kommandeur des Russischen Freiwilligenkorps (RDK), einer der beteiligten bewaffneten Gruppen, bestätigt.

Nikitin hatte zuvor erklärt, dass seine Gruppe "direkt unter dem Kommando von Kiew" operiert habe und dass der Angriff auf Brjansk von den ukrainischen Behörden genehmigt worden sei. Ein Vertreter der RDK erklärte im April gegenüber Newsweek:

Die Ukraine unterstützt unseren Kampf auf jede erdenkliche Weise. Wir wären kaum in der Lage, an Waffen zu kommen, wenn wir nicht die Hilfe des ukrainischen Staates hätten. Außerdem unterstehen wir auf dem Territorium der Ukraine dem ukrainischen Verteidigungsministerium.

Als Reaktion auf die Angriffe wiederholte das US-Außenministerium, dass "wir den Ukrainern sehr deutlich gemacht haben, dass wir keine Angriffe außerhalb der ukrainischen Grenzen ermöglichen oder fördern." Das Pentagon hat eine Erklärung abgegeben, in der es heißt:

Wir können bestätigen, dass die US-Regierung keinen Transfer von Ausrüstung an paramilitärische Organisationen außerhalb der ukrainischen Streitkräfte genehmigt hat und dass die ukrainische Regierung auch nicht um einen solchen Transfer gebeten hat.

Das mag Washington den Ukrainern gesagt haben, aber es ist unklar, ob die Ukrainer darauf hören. Kiew hat öffentlich bestritten, an dem Überfall beteiligt gewesen zu sein. Ein ukrainischer Beamter hat jedoch unter vier Augen eingeräumt, dass eine "Zusammenarbeit" stattgefunden hat.

Wenn man davon ausgeht, dass sich die US-Politik nicht geändert hat, könnte der Angriff in Belgorod ein Hinweis darauf sein, in welchem Maße Kiew die Wünsche der USA ignorieren und gleichzeitig davon ausgehen kann, weiterhin umfangreiche US-Hilfe zu erhalten.

Wie so oft in der Vergangenheit würde US-Hilfe, die von den politischen Kräften in den USA unterstützt wird, keineswegs den Einfluss der Vereinigten Staaten von Amerika auf die Regierung des Empfängerstaats stärken, sondern vielmehr die amerikanische Politik von der ihres Auftraggebers abhängig machen.

Ferner bekennt sich eine der Milizen, die an dem Überfall in Belgorod und anderen Anschlägen in Russland beteiligt waren, das Russische Freiwilligenkorps, zu neonazistischen Überzeugungen. Sein Anführer ist laut Washington Post "ein ehemaliger Kampfsportler mit Verbindungen zu rassistisch-nationalistischen Gruppen in ganz Europa".

Wenn die US-Hilfe den Weg zu einer solchen Gruppe fände, wäre das ein Geschenk an die russische Propaganda, die behauptet, in der Ukraine sei "Neonazismus" weitverbreitet.

Der Anreiz zu Eskalation nimmt zu

Die Attacke in Belgorod fällt mit zwei weiteren Entwicklungen zusammen, die mit einer Eskalation einhergehen könnten. Die Erste ist die Ankündigung, dass die Vereinigten Staaten der Ukraine nun F-16-Kampfbomber liefern werden – Flugzeuge, die tief in Russland eindringen können. Biden sagte, Präsident Selenskyj habe versprochen, dass diese Flugzeuge nicht für Angriffe auf russisches Territorium eingesetzt werden.

Angesichts der jüngsten Entwicklungen und der Einschätzung der US-Geheimdienste, dass die Ukraine hinter mehreren Anschlägen in Russland steckt, könnte es sich für die USA jedoch als zu riskant erweisen, sich auf solche Versprechen zu verlassen.

Die Ukraine hat keine Kapazitäten zur Wartung dieser Flugzeuge, und es würde sehr lange dauern, eine solche Fähigkeit aufzubauen. Das bedeutet, dass die Flugzeuge, sollten sie tatsächlich eingesetzt werden, entweder von US- und Nato-Personal auf ukrainischen Flugplätzen gewartet werden oder von Nato-Stützpunkten in Polen aus fliegen müssen. Beide Optionen würden die Nato einen großen Schritt näher an eine direkte Kriegsbeteiligung bringen.

Die zweite Entwicklung ist die in den Medien verbreitete Erklärung des Chefs des ukrainischen Militärgeheimdienstes, General Kyrylo Budanov, dass sein Dienst hinter einer Reihe von Attentatsversuchen und Sabotageakten in Russland steckt – etwas, das in den geleakten Pentagon-Dokumenten angedeutet und von Beobachtern weithin vermutet wurde, aber zuvor von der ukrainischen Regierung öffentlich und wiederholt dementiert worden war.

US-Geheimdienstmitarbeiter haben gegenüber der New York Times erklärt, dass sie davon ausgehen, dass die Ukraine wahrscheinlich hinter dem Drohnenangriff auf den Kreml sowie dem Angriff in Belgorod und den Attentatsversuchen in Russland steckt.

Auch das ist eine klare Missachtung der US-Vorgaben. Nach dem ersten Mordanschlag in Russland auf den nationalistischen Intellektuellen Alexander Dugin (dessen Tochter getötet wurde) wurde berichtet (offensichtlich auf der Grundlage eines beabsichtigten offiziellen Leaks), dass die CIA der ukrainischen Regierung eine eindeutige Botschaft übermittelt habe, dass man gegen derartige Anschläge sei.

Budanow hat nun zugegeben, dass man trotzdem damit weitermachte, und zwar mit der Ermordung des nationalistischen Bloggers Wladlen Tatarski im letzten Monat und dem versuchten Mord an dem ehemaligen Donbass-Separatistenkämpfer Sachar Prilepin (der verwundet wurde).

Man sollte das Recht der Ukraine anerkennen, russisches Territorium anzugreifen. Man kann den Wunsch der Ukraine – nach den Verlusten und der Zerstörung, die die Ukraine infolge der russischen Invasion erlitten hat –, das zu tun, sehr gut verstehen. Dennoch sind solche Angriffe, selbst wenn sie erfolgreich sind, höchst problematisch.

Strategisch gesehen sind Attentate sinnlos. Der Überfall auf Belgorod war zwar politisch falsch, aber militärisch sinnvoll, um die russischen Streitkräfte von der Front in der Ukraine abzulenken und Russland selbst zu verteidigen.

Aber die Ermordung einzelner russischer nationalistischer Intellektueller und Blogger (deren Einfluss auf Putin ohnehin stark übertrieben wurde) wird die russischen Kriegsanstrengungen in keiner Weise beeinflussen.

Die Morde sind auch deshalb gefährlich, weil sie einen Präzedenzfall schaffen, auf den Russland mit der Ermordung ukrainischer Intellektueller und Politiker in der Ukraine oder im Westen reagieren könnte – und damit die Eskalationsspirale weiter anheizt.

Die wichtigste Lehre aus dem Überfall in Belgorod und den ukrainischen Ermordungen besteht darin, dass – was immer Washington auch wünschen mag – solange der Krieg andauert, für beide Seiten ein starker Anreiz zur Eskalation besteht, entweder weil sie darin einen militärischen Vorteil sehen oder als Vergeltung für Aktionen des Feindes. Die Vereinigten Staaten können diesen Prozess nicht kontrollieren.

Die USA und ihre Verbündeten haben der Ukraine wiederholt neue Waffen zur Verfügung gestellt, von denen sie zuvor erklärt hatten, dass sie sie nicht bekommen würden. Die Aufstockungen der Hilfe waren nicht durch eine anwachsende Bedrohung durch Russland motiviert, sondern im Gegenteil durch russische Niederlagen und die stärker werdende Überzeugung, dass Russland nicht mit Angriffen auf den Westen reagieren wird.

Das ist jedoch eine Annahme und keine Tatsache. Wie ein ehemaliger CIA-Analyst es ausdrückte:

Das Problem ist, im Glauben, dass Russland keine roten Linien hat, unsere Unterstützung für die Ukraine ständig zu verstärken, wobei wir nicht wissen können, ob wir eine rote Linie überschritten haben. Wir wissen es erst dann, wenn wir sie tatsächlich überschritten haben und Russland Vergeltung übt.

Die Biden-Regierung sollte der Ukraine weiterhin helfen, sich gegen die russische Invasion zu verteidigen, aber sie muss sich zugleich immer darüber im Klaren sein, dass ihre primäre und durchgängige Pflicht die Sicherheit des amerikanischen Volkes ist – was bedeutet, dass sich die USA aus dem Krieg heraushalten müssen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).