Ulrike im Wunderland
Das Ethos der Wissenschaft und die Kampagne gegen die Politikprofessorin Ulrike Guérot. Eine Marginalie.
Seit ihrem Auftritt bei Markus Lanz am 4. Juni 2022 ist die Bonner Politikprofessorin Guérot – milde ausgedrückt – persona non grata im öffentlichen Leben.
Hatte sie mit ihrem Essay "Wer schweigt, stimmt zu", der Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung vorbrachte, schon Anstoß erregt, so war mit ihrem im November 2022 erschienenen Buch Endspiel Europa für den Mainstream der deutschen Medienlandschaft endgültig klar: Diese Frau hat im Wissenschaftsbetrieb und im öffentlichen Diskurs, wie er hierzulande geführt wird, nichts verloren.
Mittlerweile hat auch der Arbeitgeber Guérots reagiert, was noch einmal für Wirbel sorgte.
Eine Exkommunikation – oder doch nicht?
Der Eindruck liegt nahe und die begründete These steht ja auch im Raum, dass es hier um die Exkommunikation einer unbequemen Autorin aus der scientific community geht.
Guérot hat zusammen mit dem Wissenschaftler Hauke Ritz in ihrem Endspiel-Buch, das sich bewusst als Essay vom üblichen Publikationswesen des akademischen Betriebs absetzt, den Weg des Westens hin zum Ukrainekrieg analysiert und dabei den Anteil der Nato an der Eskalation deutlich zur Sprache gebracht.
Und sie hat, als Fazit, die Europäische Union dazu aufgefordert, "nicht als Stellvertreter der USA zu fungieren", wie es bei Krass & Konkret in einem Resümee des Autorenduos hieß. Dabei beriefen sich die beiden – unter Rückgriff auf die kulturelle Tradition des Abendlands – auf eine "EUtopie, die humanistisch, antifaschistisch, antimilitärisch, inter-nationalistisch und antikapitalistisch ist", und schlossen mit der Forderung: "Deswegen muss Europa alles tun, um diesen Krieg sofort zu beenden."
Von der Universität, von Kollegen, aber auch von Medien wie der FAZ, die sich auf eine regelrechte Kampagne gegen die zur Außenseiterin erklärte Politologin verlegten, gab es Einspruch gegen einen solchen europäischen Friedensidealismus, der bis zur "Zeitenwende" – und der damit verbundenen Gesinnungswende – hierzulande als Selbstverständlichkeit galt.
Unisono wurde die Unwissenschaftlichkeit von Guérots Positionen festgestellt, die – so kann man die Vorwürfe auf den Punkt bringen – nicht dem Nato-Narrativ folgen. Das Bonner Uni-Rektorat verabschiedete 2022 eine Erklärung, die sich zur Parteinahme für den Westen und gegen Russland bekannte und noch ohne Nennung Guérots den Rahmen setzte, in dem der wissenschaftliche Diskurs stattzufinden habe; womit auch klargestellt war, dass weitergehende juristische Möglichkeiten zum Ausschluss dissidenter Meinungen geprüft werden sollten.
Das ist mittlerweile geschehen. Der bekannte Plagiatsforscher Stefan Weber hat in Telepolis darüber berichtet: Die Uni Bonn hat der Wissenschaftlerin, so weit bekannt, gekündigt, und nun "tobt die Debatte: Waren Plagiate Auslöser oder politisches Engagement? Der Fall geht wohl vor Gericht." Weber eiert in seinem Text etwas herum, um den offenkundigen Zusammenhang der Kündigung mit der Äußerung abweichender politischer Meinungen in den Hintergrund zu rücken.
Natürlich sind auch schon andere Wissenschaftler (oder Politiker!) über Plagiate in ihren akademischen Arbeiten gestolpert, aber es "ist in den seltensten Fällen so, dass Wissenschaftler genuin wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens berufliche Nachteile haben". Das hält Weber fest und man merkt ihm die Bauchschmerzen an, mit denen er die politische Einflussnahme auf diese – angeblich – rein innerwissenschaftliche Kontroverse konstatiert.
Das ist übrigens auch der Presseberichterstattung zu entnehmen – und sei es in der Form des entschiedenen Dementis wie in der FAZ (25.2.2023). Die Bonner Lokalpresse (siehe General-Anzeiger, 4./5.3.2023) hat den Fall groß gewürdigt und sich Sorgen gemacht, es könnte "ein zäh erkämpftes Grundrecht", nämlich die Wissenschaftsfreiheit, Schaden nehmen.
Genauer gesagt: Das könnte geschehen, wenn nicht konsequent dem Eindruck entgegengearbeitet wird, bei der Einleitung von "arbeitsrechtlichen Schritten" hätten politische Überlegungen, vulgo: Zensur, eine Rolle gespielt. Und die Sorge betrifft natürlich das Ansehen des Hochschulbetriebs, wie von einem Kommentator gleich bemerkt wurde:
Wenn sich die Vorwürfe gegen Guérot auf die Zeit vor ihrer Berufung beziehen, dann wirft das auch ein schlechtes Licht auf die Bonner Uni. Hätten die Defizite in Sachen wissenschaftlichen Arbeitens dann nicht früher auffallen müssen?
General-Anzeiger, 25./26.2.2023
Ja, das hätte in der Tat besser ausgesehen.
Nun geht es wahrscheinlich so weiter, wie der Arbeitsrechtler Volker Rieble ganz gelassen mitteilt (General-Anzeiger, 6.3.2023). Nach den Angriffen auf die Professorin werde sich das Gerichtsverfahren erst einmal Jahre hinziehen.
Wenn dann ein Vergleich mit einer kleinen Abfindung herauskommt, hat die liebe Seele eine Ruh'. Die Öffentlichkeit kriegt das ohnehin nicht mehr mit.
Solche abgebrühten Stellungnahmen gehen in der Öffentlichkeit, der hier ein Fachmann erzählt, wie sie funktioniert, ohne Weiteres durch: Öffentlich ist die Frau diffamiert, sachlich ist wohl weniger dran, was sich nach Jahren herausstellen dürfte, aber erst einmal hat die Kampagne ihre Funktion erfüllt…
Im Reich exakter Wissenschaft, oh Gott!
Tja, die Koinzidenz von Einspruch gegen das Nato-Narrativ und Aufdeckung wissenschaftlichen Fehlverhaltens ist wirklich unschön. Plagiatsforscher Weber macht sich auch ein Gewissen daraus, aber dann findet er einen festen Halt. Arbeitsrechtlich verzwickt, politisch unschön, Konsequenzen unklar – das muss man konzedieren (und sich auch fragen, ob das "für einen Rauswurf" genügt).
Nur eins soll definitiv feststehen: Die Autorin hat "in zumindest zwei Büchern plagiiert, die sie als Wissenschaftlerin verfasst hat und die sicher nicht der Nicht-Wissenschaft, also etwa der Kunst zuzuordnen sind".
Und jetzt kommt endlich mal Butter bei die Fische, die Vorwürfe werden von Weber substantiiert. Er bringt nämlich ein Beispiel – eine einzige Textstelle aus Guérots Essay "Wer schweigt, stimmt zu" –, und von diesem Beleg versichert er nur noch, dass er weitere, ähnliche Fälle anführen könnte (und dass er auch schon Einschlägiges bei den Kritikern Guérots gelesen habe). Worin besteht nun der Beweis, das einzige Argument für Guérots Verstoß gegen wissenschaftliche Standards, das geliefert wird?
Was da geboten wird, ist ein erstaunlicher Beleg für den Geisteszustand des Wissenschaftsbetriebs. Aber im Einzelnen! Weber bringt ein Zitat aus dem Buch Wie wirklich ist die Wirklichkeit? des Kommunikationsforschers Paul Watzlawick (1976, S. 101):
Wir alle, jeder von uns auf seine Weise, befinden uns auf einer unablässigen, wenn auch oft ganz unbewußten Suche nach dem Sinn der uns umgebenden Geschehnisse, und wir alle neigen dazu, selbst hinter den verhältnismäßig unbedeutenden Vorfällen unseres täglichen Lebens das Wirken einer höheren Macht, sozusagen ,eines metaphysischen Versuchsleiters' zu sehen.
Es gibt wohl nicht viele Menschen, die den Gleichmut des Königs in "Alice im Wunderland" besitzen, der es ihm ermöglicht, das unsinnige Gedicht des Weißen Kaninchens mit der philosophischen Bemerkung abzutun: "Wenn kein Sinn darin ist, so erspart uns das eine Menge Arbeit, denn dann brauchen wir auch keinen zu suchen." Zum Beispiel: Es gibt wahrscheinlich eine recht große Zahl von Personen, die eine private Mythologie über Verkehrsampeln haben...
Guérot hat auf Watzlawick, den sie als wissenschaftliche Autorität schätzt, in ihrem Buch mehrfach Bezug genommen. Sie knüpft explizit an seine Aussagen an, beansprucht also in keiner Weise, hier eine eigenständige wissenschaftliche Leistung zu präsentieren, sondern, im Gegenteil, einem Konsens zu folgen.
Dann bringt sie auf Seite 101 ihres Buchs – ohne nochmals auf Watzlawick eigens als Urheber zu verweisen – zwei Sätze, die Weber als Plagiat beanstandet. Guérot übernimmt den Satz: "Es gibt wohl nicht viele Menschen … abzutun" und schließt das Zitat von Lewis Carroll aus dem 12. Kapitel seines berühmten Buchs (mit kleinen Änderungen) an. Der Spruch findet sich übrigens in vielen populären Sammlungen mit den besten Zitaten aus Alice im Wunderland.
Diese Übernahme soll ein Verstoß gegen wissenschaftliche Standards sein, der die Autorin eindeutig als Wissenschaftlerin disqualifiziert. Der Sache nach ist es eine absolute Lappalie. Nur würde Webers Einwand lauten: So kleinkariert muss der akademische Betrieb vorgehen, damit sich keiner mit fremden Federn schmückt; exakte Benennung der Quelle muss sein, weil alle Theoriebildung darauf aufbaut.
Aber wenn das so ist, dann müsste diese Exaktheitsforderung auch für Watzlawick gelten, dessen wissenschaftliche Leistung hier angeblich entwendet und vom Werk einer Nachfolgerin usurpiert wurde. Schauen wir uns daher einmal den Passus aus Watzlawicks Opus genauer an.
Als Erstes fällt auf, dass der Autor mit einer erstaunlichen Allaussage startet, die er in keiner Weise belegt. Alle Menschen sollen auf Sinnsuche sein – eine unhaltbare Behauptung, die man auch blitzschnell, z.B. mit einem Klick, widerlegen kann, wenn man sich etwa die Kritik der Sinnfrage ansieht, die jüngst im Overton-Magazin vorgestellt wurde.
Zweitens, um zum Ende, zur Schlussfolgerung aus dem Zitat zu gehen: Wer Alice im Wunderland gelesen hat, weiß, dass der König kein gleichmütiger Mensch ist (wie Watzlawick behauptet), sondern ein gefährlicher Irrer, der sich mit seinen absurden Vorwürfen gegenüber Zeugen und Angeklagten ständig ereifert, mit Hinrichtung droht etc. Der zitierte Satz geht dann auch so weiter:
And yet I don’t know... I seem to see some meaning in them, after all.
Wieso er bei Watzlawick zu einer Marotte, einem etwas gesuchten Beispiel von "Alltagsmythologie" (den Sinn der Ampeln betreffend), überleiten soll, ist dann kaum ersichtlich; anscheinend sollte nur ein kleines Bonmot den Text auflockern ...
Man kann natürlich einwenden: Weber als Plagiatsforscher hat mit dem Inhalt, mit dem Gang der Argumentation oder dem Versuch, sie zu veranschaulichen etc., nichts zu tun. Das heißt aber, die Frage, ob hier kommunikationstheoretisches Geschwurbel vorliegt oder wissenschaftliche Erkenntnis, interessiert ihn und die von ihm betriebene Forschung kategorisch nicht.
Weber kümmert sich bloß um die Basics. Aber wenn das so wäre, dann müsste sich doch als nächste Frage anschließen: Wie steht es denn eigentlich mit der Exaktheit in Watzlawicks Text?
Er zitiert einen Satz von Carroll. Woher stammt er? Wo ist die Quellenangabe? Welche Ausgabe wurde zugrundegelegt? Hat er etwa aus eine populäre Sammlung zitiert (was Guérot übrigens von Kritikern bei Einstein- oder Hume-Zitaten zur Last gelegt wird, da sie, möglicherweise, auf Internet-Seiten zurückgegriffen hat statt auf die Originalausgaben von Anno Toback)?
Weiter gefragt: Bekanntlich hat Carroll nicht in Deutsch geschrieben – woher stammt die Übersetzung? Carroll wurde x-fach übersetzt, auch ad usum delphini. Wer hat diese Übersetzung angefertigt?
Klar, das sind kleinkarierte Fragen. Aber wenn schon kleinkariert, dann immer! Und Frau Guérot kann man nur wünschen, dass sie sich wie Alice im Gerichtskapitel über die absurden Vorwürfe des Kartenkönigs und seiner Königin erhebt – und am Schluss aus dem Albtraum aufwacht.
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