Unbekannte Lieferketten
Viele Unternehmen wissen offenbar nicht, mit wem sie Geschäfte machen
Hat sich die Globalisierung für Industrie und Handel als überaus vorteilhaft gezeigt, weil sich dadurch günstigere Gestehungskosten für Produkte erzielen ließen, so zeigen sich nun bei den in der Folge entstandenen weltweiten Lieferketten viele Nachteile für direkt und indirekt Betroffene.
Nicht selten war eine Verlagerung der Produktion oder eine Diversifizierung der Beschaffungsquellen mit einer Absenkung von Umweltstandards und schlechteren Arbeitsbedingungen bei den Beschäftigten der neuen Partner verbunden.
Gerade in Schwellenländern war die Industrieansiedlung der einschlägigen Gesetzgebung vielfach meilenweit voraus. Auch für die deutsche Justiz waren mit der Verlagerung der Produktion verbundene kostensenkende Missachtungen europäischer und deutscher Gesetze und Vorschriften nicht greifbar.
Dabei hat es sich in der Vergangenheit gezeigt, dass auch deutsche Unternehmen im Rahmen ihrer globalen Geschäfte selbst oder indirekt über ihre Produktions- oder Handelspartner immer wieder gegen als grundlegend angesehene Menschenrechte verstoßen und/oder die Umwelt schädigen, ohne dass sie dafür dort oder in Deutschland Konsequenzen befürchten müssten.
Unternehmerische Sorgfaltspflichten und Schadensersatz
Betroffene von Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden hatten kaum eine Möglichkeit, vor deutschen Gerichten Schadensersatz einzuklagen. Das deutsche "Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten", kurz als Sorgfaltspflichtengesetz oder meist als Lieferkettengesetz (LkSG) bezeichnet, will die bislang bestehenden Umgehungsmöglichkeiten verhindern.
Es wurde am 11. Juni 2021 vom Bundestag verabschiedet und am 25. Juni 2021 vom Bundesrat durch Verzicht auf ein Vermittlungsverfahren gebilligt.
Das Gesetz tritt 2023 in Kraft und erfasst zunächst Unternehmen ab 3.000, von 2024 an dann auch Unternehmen ab 1.000 Mitarbeiter. Diese Unternehmen müssen fortan bei direkten Zulieferern sowie anlassbezogen auch bei indirekten Zulieferern Risiken für Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung ermitteln, Gegenmaßnahmen ergreifen und diese gegenüber dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) dokumentieren.
Wie sind die deutschen Unternehmen auf das Lieferkettengesetz vorbereitet?
Sie fühlen sich zumindest gut vorbereitet, wie eine Befragung durch das Marktforschungsunternehmen Sapio Research im Auftrag von Coupa ergab. Bei der im Februar 2022 durchgeführten Umfrage wurden mehr als 800 Manager in Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, der USA, Australien und Singapur befragt, die für die Lieferkette verantwortlich sind. Aus Deutschland liegen Antworten von 100 Managern vor.
70 Prozent der Befragten sind überzeugt, die Vorschriften einhalten zu können. Gleichzeitig können 60 Prozent nicht beurteilen, ob ihre direkten Lieferanten überhaupt Standards in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung einhalten. Das ist jedoch Grundvoraussetzung, um das Lieferkettengesetz erfüllen zu können.
Doch viele Unternehmen wissen schlichtweg nicht, mit wem sie Geschäfte machen und verfügen daher auch nicht über aktuelle Daten über die ESG-Standards (ESG: Environmental Social Governance) ihrer Lieferanten und wissen somit nicht, ob ihre direkten Lieferanten überhaupt Standards in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung einhalten.
Dabei waren sich alle befragten deutschen Unternehmen einig, dass transparente Lieferketten eine entscheidende Rolle in der Verbesserung ihres ökologischen und sozialen Fußabdrucks spielen und geben dabei offensichtlich nicht nur Lippenbekenntnisse ab, sondern setzen dies auch in der täglichen Praxis um. Sie investieren häufiger als Unternehmen aus anderen Ländern, um ihre ESG-Ziele zu erreichen und das Lieferkettengesetz einzuhalten.
Dennoch hat ein Großteil der nächstes Jahr vom LkSG betroffenen Unternehmen keine Prozesse und Systeme implementiert, die eine Überprüfung der geforderten gesetzlichen Vorgaben vollumfänglich ermöglichen. Es fehlt offensichtlich an Daten, Transparenz und zum Teil auch an der Priorisierung dieses Themas in der aktuell herausfordernden Zeit von Lieferengpässen, Preisexplosionen und dynamischen Marktentwicklungen.
Den befragten Unternehmen ist bewusst, dass eine stärkere branchenweite Zusammenarbeit und der Austausch wichtiger Daten über die ESG-Standards von Lieferanten erforderlich ist. Wären wichtige ESG-Daten offen und sofort für alle potenziellen Käufer verfügbar, würde dies der Mehrzahl der deutschen Unternehmen dabei helfen, das LkSG einzuhalten.
Vergleichbare Gesetze werden auch in anderen Ländern folgen, wie sich beispielsweise beim chinesischen Social Scoring schon in verschiedenen Provinzen zeigt.
Vorteile einer genauen Kenntnis der Lieferketten
Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine und den daraus folgenden Sanktionen zeigt es sich aktuell, dass eine genaue Kenntnis der Lieferketten sowohl für die betroffenen Unternehmen, als auch für die Politik durchaus hilfreich sein kann.
So hätte man rechtzeitig wissen können, dass die Fertigung der für das Stromsparen im Beleuchtungssektor relevanten LEDs auf künstliche Saphire angewiesen ist, die mehrheitlich aus Russland zugeliefert werden.
Auch beim Bezug von Waren aus China stellt man immer wieder fest, dass Lieferketten auf ein und denselben Produzenten zurückgehen und falls dieser ausfällt auch allen vermuteten Alternativen nicht mehr verfügbar sind, aus Multi Source somit ganz schnell riskante Single Source werden.
Wie man inzwischen mit Erschrecken festgestellt hat, stammen Schlüsselmaterialien bei der Produktion von Halbleitern vor allem aus der Ukraine und Russland. Im Falle des für die Chipproduktion benötigten Edelgases Neon ging die Lieferkette sogar von Russland über die Ukraine.
Das Beiprodukt der russischen Stahlindustrie wurde bislang gewöhnlich von Unternehmen in der Ukraine gereinigt und dann in alle Welt exportiert, auch in die USA und nach China. Jetzt stellen die ukrainischen Unternehmen Ingas und Cryoin, die für rund die Hälfte der globalen Neon-Produktion verantwortlich sind, ihre Produktion ein.
Die USA sind bei der Deckung ihres Neon-Bedarfs fast ausschließlich auf diese russisch-ukrainische Koproduktion angewiesen. Neon wird zwar auf der Basis der dortigen Stahlindustrie auch in China produziert, dort steigen jedoch bereits die Preise.
Auch bei Palladium hatte Russland bislang weltweit einen Marktanteil von etwa 40 Prozent und war damit der zweitwichtigste Produzent nach Südafrika.
Die Ukraine war bislang auch einer der Hauptlieferanten von anderen Gasen wie Argon, Krypton und Xenon, die in der Halbleiterproduktion zum Einsatz kommen.