Und ewig strahlt das Plutonium

Seite 2: Zahlreiche Erkrankungen und viel menschliches Leid

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Immerhin vier Prozent des Materials der Brennstäbe, in denen das Plutonium und andere radioaktive Spaltprodukte enthalten sind, wurde freigesetzt und ist in einem Radius von einigen Dutzend Kilometern niedergegangen. Diese extreme radioaktive Kontamination auch außerhalb der seinerzeit evakuierten Zone verursacht bis auf den heutigen Tag, wie gestern für Weißrussland beschrieben, zahlreiche Erkrankungen und viel menschliches Leid.

Die im Einzelnen höchst umstrittene Zahl der Todesopfer steigt von Jahr zu Jahr weiter, zum einen, weil viele Erkrankungen eine lange Latenzzeit haben, zum anderen, weil die Belastung für die Menschen in der Region noch lange anhalten wird. Unter anderem macht sich bei den hohen Cäsium-Werten in den Böden auch die prozentual geringe Aufnahme durch die Pflanzen als radioaktive Kontamination der Lebensmittel bemerkbar. Außerdem kann bei größerer Trockenheit natürlich radioaktives Material immer mit dem übrigen Staub aufgewirbelt und eingeatmet werden.

Hunderttausende Menschen aus der ganzen Sowjetunion waren 1986 - teils als Freiwillige, teils als Rekruten der Armee - damit beschäftigt, den etwa zwei Wochen lang anhaltenden Brand des Reaktors zu löschen, ihn mit Sand und Beton einzuschließen und die weitere Ausbreitung radioaktiven Materials durch Dämme und andere Maßnahmen zu verhindern. Die Schätzungen reichen von 600.000 bis 900.000 sogenannten Liquidatoren, die seinerzeit nicht systematisch erfasst wurden, geschweige denn, dass ihre Strahlenbelastung per Dosimeter festgehalten worden wäre.

Die Deutsche Gesellschaft für Strahlenschutz und die Internationalen Ärztinnen und Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW) schrieben schon vor zehn Jahren über die erheblichen gesundheitlichen Folgen für diese Gruppe und die Schwierigkeiten, verlässliche Daten zu erheben. Oft gingen die Behörden davon aus, nur Krebserkrankungen könnten als Tschernobylschäden angesehen werden. Dabei seien auch Katarakte, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und psychische Probleme wie Depressionen, Konzentrationsstörungen und ähnliches die Folge, wenn Menschen starken radioaktiven Strahlen ausgesetzt wurden.

Bis 2006 waren, nach Schätzung einer vom IPPNW zitierten Studie, 112.000 bis 125.000 Liquidatoren gestorben. Hauptursache seien Schlaganfälle und Herzinfarkte gewesen, die zweithäufigste Todesursache stellen die Krebserkrankungen dar.

Geheimhaltung und Vertuschung

Forscher ermittelten darüber hinaus, dass das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen verschoben worden sei. 500.000 Mädchen würden dadurch in Europa fehlen. Allerdings sind die entsprechenden Statistischen Untersuchungen nicht ganz unumstritten. Als großes Problem bei der Einschätzung der gesundheitlichen Folgen stellten sich Geheimhaltung und Vertuschung sowohl in den am stärksten betroffenen Ländern, Ukraine, Weißrussland und Russland, als auch durch Internationale Organisation wie der Weltgesundheitsorganisation WHO und der Internationalen Atomenergieorganisation IAEO heraus.

So seien Ärzte angewiesen worden, Befunde zu fälschen. Umfassende Untersuchungen der Langzeitfolgen unterblieben. Unter anderem geht der IPPNW davon aus, dass auch weit entfernt von Tschernobyl die Folgen drastisch zu spüren sind. In Skandinavien habe es laut einer zitierten Studie 1.200 zusätzliche Fehl- und Totgeburten gegeben. Für Deutschland werde die Zahl auf 1.000 bis 3.000 geschätzt. Wie es aussieht, reagieren weibliche Föten empfindlicher auf ionisierende Strahlung.

Der Sarkophag

In Tschernobyl kann man derweil den Havaristen nicht einfach sich selbst überlassen. Immerhin liegen in seinen Trümmern mehr als 200 Tonnen Uran und etwa eine Tonne anderer Radionuklide, davon etwa 80 Prozent des ultragiftigen Plutoniums. Ein Teil des Urans ist zu Staub zerfallen und muss davor bewahrt werden, durch Winde aufgewirbelt und verteilt zu werden. Der Rest ist mit Trümmern zusammengeschmolzen. Eindringendes Regenwasser muss ständig abgepumpt werden, damit es nicht womöglich als Moderator dient, der die Kettenreaktion wieder in Gang setzt. Und dieses Wasser muss anschließend natürlich dekontaminiert werden.

Reaktor #4 mit Sarkophag, Aufnahme von 2006. Bild: Carl Montgomery

Seit rund zehn Jahren wird an einer neuen Einschließung gearbeitet, einem sogenannten Sarkophag. Auch die deutsche Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit ist an dem Megabauwerk beteiligt. 29.000 Tonnen wird das Gewölbe schwer, 100 Meter hoch, 257 Meter breit und 150 Meter lang. Halten soll es 100 Jahre, eigentlich nur ein kleiner Augenblick, wenn man bedenkt, dass die Ruine erst in mehreren 100.000 Jahren nicht mehr nennenswert strahlen wird.

Mit den Kosten des Bauwerks, an denen sich auch die EU und die Bundesrepublik beteiligen, läuft es, wie bei öffentlichen Baumaßnahmen üblich: Erst war von 719 Millionen Euro die Rede. Später hieß es 1,56 Milliarden, dann 1,75 Milliarden Euro. Die letzte Schätzung der Bundesregierung aus dem Jahre 2015 geht von 2,15 Milliarden Euro Baukosten aus. Deutschland hat bisher 97 Millionen Euro beigetragen, weitere 19 Millionen Euro sind zugesagt. Darüber hinaus wurden bisher von deutscher Seite 26 Millionen Euro in einem Fonds eingezahlt, mit dem die Sicherung radioaktiver Abfälle in Tschernobyl finanziert wird.