Ungarn: "Kultur des Faschismus"
Seite 2: Das völkische Denken in Ungarn wurde durch den realen Sozialismus in den Hintergrund gedrängt
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- Die Stimmung ist viel militanter geworden
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Wann begann eigentlich diese Rechtsentwicklung? Durchlief der öffentliche Diskurs in Ungarn eine abrupte Wandlung seit der Machtübernahme durch Fidesz; oder fingen diese Prozesse sehr viel früher an - etwa beim Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus?
Magdalena Marsovszky: Diese Zunahme des völkischen Denkens fing ja wie gesagt schon im 19. Jahrhundert an, und sie mündete in Holocaust. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aber in Ungarn überhaupt nichts aufgearbeitet, es gab überhaupt keine Selbstreflexion auf gesellschaftlicher Ebene. Das völkische Denken in Ungarn wurde durch den realen Sozialismus in den Hintergrund gedrängt, aber schon in den letzten Jahren des real existierenden Sozialismus kam dieses völkische Denken erneut zum Vorschein.
Um 1988 gab es bereits die ersten völkischen Ausflüge z.B. nach Transsylvanien (Rumänien), sie waren aber vor allem noch romantisch geprägt. Dann kam die Wende, in der der völkische Gedanke bereits eine große Rolle spielte. Der Soziologe Detlev Claussen etwa bezeichnet die Umbrüche in den vormals realsozialistischen Staaten in Osteuropa nicht als eine demokratische, sondern eher als eine ethno-nationale Wende. Das bedeutet, dass die Menschen in diesen Ländern - und Ungarn gehört da auf jeden Fall dazu - auf eine ethnisch grundierte nationale Wende gehofft haben; und mit der Demokratie nicht viel anzufangen wussten. Heute ist es ähnlich. Viele Menschen in Ungarn meinen, völkisches Denken und nationales Denken seien gleich bedeutend mit Demokratie, weil sie die echte Demokratie nie kennen gelernt haben.
Die Zunahme völkischen Denkens war also schon seit der Wende zu beobachten, und jetzt kulminierte diese Entwicklung in den Wahlsiegen dieser rechten Parteien. In den Kategorien Links-Rechts zu sprechen, ist in Bezug auf Ungarn etwas unglücklich, denn der wichtigste Bruch verläuft nicht entlang dieser Trennlinie. Der gesellschaftliche Bruch (der Clash, wie man es nennt) verläuft in Ungarn zwischen den völkischen und den nicht völkischen Kräften - und die völkischen sind in der absoluten Mehrheit. Diejenigen Menschen, die in liberalen und demokratischen Kategorien denken, sind in der Minderheit. Dies zeigten ja auch die letzten Wahlergebnisse.
Ausgeprägter Antisemitismus
Gibt es nennenswerte Gegenkräfte zu dieser Rechtsentwicklung? Die neoliberal ausgerichteten Sozialdemokraten scheinen ja absolut diskreditiert zu sein. Könnte es nicht sogar sein, dass gerade die neoliberale Politik der Sozialdemokraten den Rechten zusätzlich Auftrieb verschaffte.
Magdalena Marsovszky: Das Wort neoliberal wird innerhalb der ungarischen Rechten sehr oft als eine Art Code benutzt, der im Endeffekt "verjudet" bedeutet. Das heißt, die Rechten in Ungarn, also Jobbik und auch Fidesz, beschimpfen die Linken, die Liberalen und die Sozialdemokraten mit Codewörtern, die eigentlich für "verjudet" stehen. Das Wort "Kommunist", aber auch die Worte "liberal" und vor allem "neoliberal" stehen für "verjudet".
Wenn man in Ungarn mit Wörtern wie neoliberal hantiert, muss man sehr aufpassen, da die Rechten diese Begriffe missbrauchen. Die Sozialdemokraten in Ungarn haben sicherlich viele Fehler begangen. Die ungarischen Sozialisten, die eine klar sozialdemokratische Ausrichtung aufweisen, pauschal als neoliberale Partei abzutun, ist in Ungarn also sehr gefährlich, da es dem rechten Code "verjudet" entspricht.
Na ja, ein bestimmtes Spektrum politischer Entscheidungen kann als neoliberal bezeichnet werden. Zum Beispiel die drakonischen unsozialen Sparpakete, die Ungarns Sozialdemokraten immer wieder aufflegten, um das Haushaltsdefizit zu senken und somit die von Brüssel geforderten Stabilitätskriterien zur Einführung des Euro zu erreichen. Dieser harten sozialen Einschnitte wurden dann von der rechten instrumentalisiert.
Ja, da haben Sie recht. Wobei wir bedenken müssen, dass die nun von der Fidesz vorgenommen Einschnitte sehr viel härter sind.
Magdalena Marsovszky: Klar, die Rechten haben nur soziale Demagogie betrieben.
Wir dürfen aber diese ganze Entwicklung nicht nur auf diese Sparmaßnahmen zurückführen, weil die schon sehr viel früher eingesetzt hat. Der Fidesz war zwischen 1998 und 2002 schon einmal an der Macht, und auch damals traten schon völkische Tendenzen eindeutig zutage. Selbst als die Sozialdemokraten an der Macht waren, war dieses völkische Moment in der Politik - wenn auch nicht so dominant wie derzeit - vertreten.
Wir haben es also mit einer Zunahme dieser Tendenz über einen sehr langen Zeitraum zu tun. Die Sparmaßnahmen haben vielleicht zu dem Sieg der Rechten beigetragen, aber es war ein kleiner Beitrag. Es handelt sich hierbei also um eine breite, kulturelle Entwicklung, die schon vor der Wende ihren Anfang genommen hat.
Es gibt auch Gegenkräfte zu dieser völkisch konnotierten Rechtsentwicklung, diese sind aber sehr uneinheitlich und kaum organisiert - dies liegt meines Erachtens auch daran, dass die Menschen dort kaum eine gefestigte demokratische Sozialisierung erfuhren. Es gibt beispielsweise stalinistische Gegenkräfte. Die Ungarische Antifaschistische Liga ist etwa eindeutig überwiegend stalinistisch ausgerichtet, und kaum demokratisch. Da sind Altstalinisten, die den Antifaschismus für sich deklarieren. Eindeutig demokratische, antifaschistische Kräfte sind kaum zu finden.
Es gibt antifaschistisch ausgerichtete zivilgesellschaftliche Organisationen, die sind aber dermaßen politikverdrossen, dass sie selbst dann keine Politiker in ihren Reihen dulden, wenn diese eindeutig demokratisch und antifaschistisch gesinnt sind. Es gab in Ungarn einige große Demonstrationen für die Pressefreiheit, an denen bis zu 50.000 Menschen teilnahmen, doch selbst dort wurden aktive oder ehemalige Politiker von der Teilnahme ausgeschlossen.
Vereint in der Ablehnung der Roma
In der Ortschaft Gyöngyöspata haben faschistische Paramilitärs tagelang die Minderheit der Roma schikaniert und sich zu einer lokalen Ordnungsmacht aufgeschwungen, ohne dass die Polizei eingriff. Die Roma mussten später aus der Ortschaft fliehen. Wie weit reicht die Unterstützung für rechtsextreme Kräfte in der ungarischen Bevölkerung? Treffen diese rechten Schlägertruppen auf breite Sympathien?
Magdalena Marsovszky: Gyöngyöspata stellt für diese Gruppen nur ein Aktionsfeld von vielen dar. Seit Jahren marschieren sie immer wieder in verschiedenen Orten auf - jede Woche sind sie in einer anderen Ortschaft. In den letzten Wochen haben sie aber ihre Aktivität verstärkt. Von diesen militanten Organisationen gibt es inzwischen so viele, dass selbst Experten da kaum noch durchblicken.
Es gibt ja nicht nur die ungarische Garde, die ja inzwischen verboten wurde. Ihre Mitglieder sind nun vermehrt in eine andere legale Organisation eingetreten, in die so genannte "Bürgerwehr". Die so genannte Bürgerwehr ist eine Organisation, die der Polizei helfen soll. Diese Organisation ist nun durchsetzt von ehemaligen Mitgliedern der ungarischen Garde. Aber nichtsdestotrotz marschiert auch die Garde - wenn auch nicht mehr in ihrer Uniform - in verschiedenen Ortschaften immer wieder auf.
In Gyöngyöspata wurden nun in den vergangenen Tagen von diesen rechten Gruppen mehrere Grundstücke aufgekauft, auch unter Androhung von Gewalt. Das heißt, die Mitglieder der Garden haben so viel Druck ausgeübt, dass die Besitzer dieser kleinen Häuser und Grundstücke ihnen diese teilweise für den symbolischen Preis von einem Forint übereignet haben. Auf diesen Grundstücken haben die Mitglieder dieser militanten Gruppen ihre Lager aufgebaut, wo sie nun paramilitärische Übungen abhalten wollen. Dies passiert, wie gesagt, nicht nur in Gyöngyöspata, sondern überall in Ungarn. Diese Gruppen marschieren dann auf, sie beschimpfen die Roma, sie schmeißen die Fenster ein und bedrohen diese. In den letzten zwei, drei Jahren sind ja auch sechs Roma bei Übergriffen ermordet worden.
Die Stimmung in Gyöngyöspata ist nun so aufgeheizt, die Roma bekommen permanent Morddrohungen, dass ein amerikanischer Geschäftsmann etwa 300 Frauen und Kinder aus dem Ort evakuieren ließ. Teilweise sind sie in andere ungarische Ortschaften, teilweise nach Budapest mit Busen gefahren worden, die dieser Geschäftsmann mit Hilfe des Roten Kreuzes organisiert hat. Als dann am Nachmittag Mitglieder der Regierung in dem Ort auftauchten - übrigens das erste Mal, dass sie sich dort blicken ließen -, heiß es vonseiten des Regierungssprechers, dass die Roma nur einen Osterausflug gemacht hätten. Der Innenminister, der in Gyöngyöspata aufgetaucht ist, hat nicht etwa die Roma zu beruhigen oder zu trösten versucht, sondern sie sofort gefragt, warum sie nicht arbeiten, warum sie nicht die Felder um das Dorf herum bestellen würden.
In der Bemerkung des Innenministers scheint ja diese Vergötterung der Lohnarbeit durchzuscheinen, wie sie für faschistische Ideologie zentral ist - dieses berüchtigte "Arbeit macht frei".
Magdalena Marsovszky: Dies geht auf das Stereotyp zurück, dass die Roma nicht arbeiten würden, sondern "als Schmarotzer" nur von Sozialhilfe lebten. Und dieses Stereotyp scheint auch in der Kommunikation des Ministerpräsidenten durch, als dieser etwa kurz vor Weihnachten in einem Interview sagte: "Wir unterstützen alle, die für ihre Kinder leben, aber wir unterstützen nicht diejenigen, die von ihren Kindern leben." Das ist eindeutig ein antiziganistisches Stereotyp, weil er hier die Roma als Menschen bezeichnet werden, die auf Kosten ihrer Kinder lebten, weil sie Kinder bekämen, um für diese Stütze zu kassieren.
Ich habe mal Statistiken und Umfrageergebnisse gesehen, denen zufolge 80 Prozent der Bevölkerung in Ungarn antiziganistisch eingestellt sei. Die romafeindliche Intention dieser Bürgerwehren findet also einen großen Widerhall in der Bevölkerung. Viele Menschen mögen das Marschieren, das militante Auftreten dieser Garden nicht, aber es gibt auch Leute, die sich hinter die Aufmärsche stellen, etwa wenn Jobbik marschiert.
Ich habe beispielsweise von Roma klagen gehört, dass Kindergärtnerinnen die Kindergärten geschlossen haben, um an den Aufmärschen von Jobbik teilnehmen zu können. Es gab auch Lehrerinnen, die mit Jobbik marschiert sind und die die Romakinder beschimpft haben: "Wenn du nicht stiehlst, wenn du dich wäschst, dann wird dir schon nichts passieren." Dies zeigt die breite Unterstützung für diese romafeindliche Politik in der Bevölkerung. Die Regierugsparteien beteiligen sich an diesem antiziganistischen Kesseltreiben insofern, als das ihre Mitglieder diese Stereotype, die Jobbik klar ausspricht, viel codierter zwar, aber dennoch verbreiten.