Unruhen in Minneapolis: "Absolutes und gefährliches Chaos"
In vielen US-Städten wird gegen die tödliche Polizeigewalt im Fall George Floyd protestiert - mit Gewaltausschreitungen. In Minneapolis wurde geschossen. Einheiten der nationalen Militärpolizei sind in Alarmbereitschaft
Der Zorn über die tödliche Polizeigewalt gegen einen Schwarzen ließ sich nicht bändigen. In mehreren Städten der USA gingen die Unruhen in der Nacht auf den heutigen Samstag weiter. Die New York Times zählt 19 Städte, über das ganze Land verteilt, in denen protestiert wurde. CNN listet 26 Städte auf, vom kalifornischen Los Angeles bis zur Hauptstadt Washington D.C..
Auch das Spektrum der Proteste erstreckt sich weit. Von Straßenblockaden, Verwüstungen von Polizeiautos, dem Bewerfen des jeweils gegnerischen Lagers mit Gegenständen - die Polizei in Denver soll "pepper spray balls" auf aufgebrachte Demonstranten geworfen haben, in Detroit wurde ein Polizist ins Krankenhaus eingeliefert, weil er von einem Stein getroffen wurde - bis zu Brandsetzungen, dem Eintreten von Scheiben und Plünderungen in Atlanta.
Während in der Hauptstadt Washington eine große Menschenmenge vor dem Weißen Haus sang und der Secret Service vorsichthalber das Gebäude zwischenzeitlich absperrte, wurde in Minneapolis geschossen.
"Es ähnelt einer mehr militärischen Auseinandersetzung"
Dort eskalierte die Situation gestern Nacht. Minnesota-Gouverneur Tim Walz sprach in einer nächtlichen Pressekonferenz von einem "absoluten und gefährlichen Chaos". Es war eine Ausgangsperre verhängt worden und der Polizist, der die Proteste durch seine gewalttätige tödliche Aktion gegen George Floyd ausgelöst hatte, war verhaftet worden und von der Staatsanwaltschaft unter Anklage wegen "Murder 3rd Degree" gestellt worden. (Die Anklage ist selten und wird für Nichtjuristen so erklärt: "Wenn jemand den Tod eines anderen ohne Absicht, ihn zu töten verursacht, aber mit einer Handlung, die gefährlich ist und menschliches Leben missachtet.")
Beide Maßnahmen führten nicht zur Beruhigung. In der vierten Nacht nacheinander kam es in Minneapolis zu schweren Unruhen, mit Brandsetzungen, Plünderungen - und Schüssen auf die Polizei, wie die örtliche Zeitung Star Tribune berichtet.
Gouverneur Walz sprach in seiner nächtlichen Pressekonferenz davon, dass das Geschehen in seiner Wahrnehmung "nun mehr einer militärischen Auseinandersetzung ähnelt". Ringleader würden sich von einem Ort zum anderen bewegen. Die Zeitung berichtet davon, sei angedeutet worden, dass "organisierte Ortsfremde, möglicherweise darin eingeschlossen Anarchisten, weiße Supremacisten und Agenten von Drogenkartellen, die von außerhalb Minnesotas kommen, zum Chaos beigetragen haben".
Wie der Gouverneur ausführte, sei es aufgrund der schieren Zahl der Rioters unmöglich gewesen, kohärente Festnahmen zu machen, zur großen Zahl käme auch noch der Organisationsgrad der Attacken hinzu.
Allem Anschein nach, der von dem Bericht nahegelegt wird, sollen sich Polizeikräfte und Mitglieder der Nationalgarde anfänglich zurückgehalten haben, erst als die Situation eskalierte, hätten sie deutlicher Präsenz gezeigt und eingegriffen, allerdings ohne die Eskalation verhindern zu können, wie es der Gouverneur und der Bürgermeister der Stadt darstellten.
Marschbefehl für Militär
Brisanz bekommt das Ganze weiter dadurch, dass das Pentagon laut einem Bericht Polizeieinheiten der Armee in Alarmbereitschaft versetzt habe, um gegebenenfalls in Minneapolis einzugreifen.
Die Marschbefehle dazu sollen Freitag geordert worden sein, nachdem Trump sich bei seinem Verteidigungsminister Mark Esper nach militärischen Optionen erkundigt habe. Mögliche gesetzliche Grundlage für den Einsatz von Militärpolizei liefere, so berichtet Star Tribune mit Verweis auf eine Regierungsquelle, sei der Insurrection Act of 1807, angewandt zuletzt 1992 bei den Unruhen in Los Angeles, die nach dem Freispruch von Polizisten im Fall Rodney King ausgebrochen waren.
Wie gestern an dieser Stelle berichtet, sind die Geschehnisse mit politischen Grabenkämpfe über deren Lesart verzahnt. Dabei spielen Bilder und Storys in der oft empörungsverknallten Twitteröffentlichkeit eine mobilisierende Rolle, zumal sich der US-Präsident selbst dort tummelt und in Grenzbereichen zwischen Fakt und Fiktion Stimmung macht.
Polizeigewalt
"When the looting starts, the shooting starts" (auf Deutsch etwa: "Wenn das Plündern beginnt, wird geschossen") twitterte der Oberbefehlshaber zu den Unruhen in Minneapolis, zusammen mit der Ankündigung, dass er die Nationalgarde schicken werde, damit diese den Job erledigt. Der US-Präsident konzentrierte seinen Blick ganz auf die "Thugs" (Schläger, Gangster, Verbrecher), die Plünderungen und Gewalttaten bei den Protesten.
Darin ist er keine Ausnahme, wie ein Blick nach Frankreich zeigt, wo die Gelbwestenproteste von der Regierung in öffentlichen Botschaften ganz ähnlich gerahmt ("geframet") wurden, um Polizeigewalt zu rechtfertigen. Solche Äußerungen bringen weiteren Zündstoff, das musste der US-Präsident wissen.
Zumal einiges darauf hindeutet, dass der US-Präsident damit die Aussage eines Polizeichefs in Miami aus den 1960erJahren wiederbelebte, der mit Einsatz harter Polizeigewalt gegen Schwarze vorging und sich bei seinem Blick auf die Ereignisse ganz ähnlich auf "Ganoven" konzentrierte, die Bürgerrechte zu ihrem Vorteil nutzen würden.
Dass seine Äußerung Eskalationspotential hat, räumte Trump in einem späteren Tweet gestern indirekt ein, als er nachsetzte. Seine Aussage sei als "Fakt" gemeint, nicht als Statement. Plündern führe zum Schusswaffengebrauch, wie sich in Minneapolis gezeigt habe, "als ein Mann in Minneapolis Mittwochnacht erschossen wurde", und genau das habe er mit seinem Ausdruck gemeint.
Genau sind die Umstände des Todes des Mannes, den Trump erwähnte, allerdings noch nicht geklärt. Die Star-Tribune aus Minneapolis schreibt davon, dass die Polizei noch kein Motiv klargestellt habe, Quellen aus der Polizei würden davon ausgehen, dass der Besitzer eines Juwelengeschäfts den Mann, den er erschoss, im Verdacht hatte, dass er in die Plünderung seines Geschäfts verwickelt war.
Der Verdacht und die Eskalation
Ungeachtet dessen, wie sich der Verdacht erhärtet, ist der Verdacht gegen Schwarze erneut zu einem pulverfassähnlichen Problem geworden. Kürzlich erregte der Fall einer weißen Frau in New York großes Medienaufsehen, da sie die Polizei wegen eines unbedeutenden Streits über das Anleinen eines Cockerspaniels anrief und einen schwarzen Vogelkundler bei ihrem Anruf als Gefahr darstellte. Laut und erregt setzte sie der Polizei gegenüber auf das Funktionieren der Gleichsetzung "Afro-Amerikaner ist gleich lebensgefährliche Bedrohung".
Genau diese Vorurteile spielen auch beim Tod von George Floyd eine Rolle. Warum setzte der Polizist eine "Technik" ein - minutenlang drückte er sein Knie auf den Hals des am Boden hingestreckten und mit Handschellen wehrlosen Mannes -, von der längst bekannt ist, dass sie das Leben des Betreffenden riskiert? Und dies obwohl der Mann deutlich machte, dass er keine Luft bekam?