Unterschied zwischen Belgien und Bulgarien pro Arbeitsstunde: 35,80 Euro
Eine aktuelle Studie zeigt die Entwicklung der Arbeitskosten im europäischen Vergleich - und analysiert die Auswirkungen auf Währungsstabilität und soziale Sicherungssysteme
Bruttolohn, Arbeitgeberanteile an den Sozialbeiträgen, Kosten für Aus- und Weiterbildung und Steuern – in die Berechnung der Arbeitskosten fließen gleich mehrere Faktoren ein. Der Betrag, der am Ende herauskommt, entscheidet nicht nur über die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes, sondern auch über die Entwicklung des Wachstums, die Stabilität von Währungen oder die Zukunft sozialer Sicherungssysteme. Eine aktuelle Untersuchung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung beziffert die Arbeitskosten in Deutschland auf 30,10 Euro pro Stunde im Jahr 2011. Dieser Wert basiert auf Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat und liefert insofern wenig Diskussionsstoff. Seine Interpretation umso mehr.
Deutschland liegt mit seinen Arbeitskosten nach Angaben der Forscher im westeuropäischen Mittelfeld - trotz der dreiprozentigen Steigerung im Jahr 2011, die höher ausfiel als die Durchschnittswerte in der Europäischen Union und im Euroraum (je 2,7 Prozent).
Zwischen 2000 und 2008 wuchsen die Arbeitskosten hierzulande allerdings sehr viel moderater. Deutschlands Arbeitskosten verzeichneten ein jährliches Plus von 1,8 Prozent, der Euroraum kam auf 3, die EU auf 3,6 Prozent.
Im Vorjahr kostete eine Arbeitsstunde in der Privatwirtschaft nur in den Niederlanden, Luxemburg, Frankreich, Dänemark, Schweden und Belgien mehr als in Deutschland - zwischen 31 (Niederlande) und 39,30 Euro (Belgien). Die sogenannten Krisenländer lagen zumeist deutlich darunter – so verzeichnete Spanien 20,60 Euro und Portugal sogar nur 12 Euro. Die portugiesischen Arbeitskosten liegen damit unter denen im EU-Beitrittsland Slowenien, wo 14,40 Euro aufgewendet werden müssen.
Die Schlusslichter in Sachen Arbeitskosten glimmen allesamt im Osten Europas, etwa in Ungarn (7,70 Euro), Polen (7,10 Euro), Lettland (5,90 Euro), Litauen (5,50 Euro), Rumänien (4,50 Euro) oder Bulgarien (3,50 Euro). Die Differenz zwischen Belgien und Bulgarien beträgt demnach 35,80 Euro. Pro Stunde.
Schaden für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit?
Mitarbeiter eines bekannten Verlagshauses hatten die Studie möglicherweise ein wenig zu schnell gelesen und die angeschlossenen Publikationen am Montag gleich reihenweise mit dem Aufmacher "Arbeitskosten in Deutschland explodieren" ins Rennen geschickt. Später wurde auf die neutralere Variante "Deutsche Arbeitskosten wachsen schneller" umgestellt, doch an der Zielrichtung der kritischen Bestandaufnahme änderte sich nichts.
Zum ersten Mal seit dem Jahr 2000 steigen die Arbeitskosten in Deutschland schneller als in der Euro-Zone. Das schadet der Wettbewerbsfähigkeit.
Tobias Kaiser, Die Welt, 26.11.2012
Und den Zeitarbeitsbetrieben, meinte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag DIHK. Allerdings mit Blick auf die neuen Branchenzuschläge und schon Wochen bevor die neuesten Zahlen des IMK veröffentlicht wurden.
Die Folgen dieser Zuschläge für den Geschäftsbetrieb von Zeitarbeitsunternehmen verdeutlicht auch, dass diese die Arbeitskosten mehr und mehr als ernstes Geschäftsrisiko empfinden: Sechs von zehn Unternehmen sehen hierin derzeit eine Gefahr für ihre wirtschaftliche Entwicklung. Dies ist mit Abstand der Höchstwert seit Beginn der Abfrage der Geschäftsrisiken im Rahmen der DIHK-Konjunkturumfrage.
DIHK: Sonderauswertung der Herbst-Konjunkturumfrage, November 2012
Auch die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft hatte das Thema frühzeitig auf der Rechnung und stellte Ende letzter Woche ein Sechs-Punkte-Programm vor, um dem "internationalen Arbeitskostennachteil Deutschlands und Bayerns" die Stirn zu bieten. Der Plan sieht unter anderem eine "moderate Lohnpolitik", ein klares Nein zum Mindestlohn und noch mehr Flexibilität vor. Auch befristete Arbeitsverhältnisse und Zeitarbeit sollen nach Einschätzung der Vereinigung "nicht eingeschränkt, sondern im Gegenteil weiter erleichtert bzw. ausgebaut werden".
Derweil macht sich Gustav A. Horn keine Sorgen um die deutsche Wettbewerbsfähigkeit, sondern eher um den Leistungsbilanzüberschuss, der Partner inner- und außerhalb des Euroraums permanent unter Druck setze. Der wissenschaftliche Direktor des Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hält es sogar für notwendig, dass die Arbeits- und die Lohnstückkosten hierzulande schneller wachsen als in den Krisenländern.
Höhere Löhne bei stabiler Beschäftigungsentwicklung schaffen die Voraussetzungen für einen relativ kräftigen privaten Konsum. Der stützt die deutsche Konjunktur. Aber dieser Prozess muss sich fortsetzen. Um die Währungsunion wieder in die Balance zu bringen, müssen nicht nur die Defizit-, sondern auch die Überschussländer reagieren. Das geschieht bislang kaum.
Gustav A. Horn
Irland, Spanien und Portugal hätten ihre Lohnstückkosten bis Mitte 2012 so stark gesenkt, dass sie in der Langzeitbetrachtung wieder mit dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank übereinstimmten.
Allein die enormen Kosten, die jetzt bei der Rettung des Euro drohen, machen deutlich, dass die Fixierung vieler Ökonomen und Politiker auf möglichst niedrige Löhne und Arbeitskosten ein Fehler ist. Das ist keine nachhaltige Strategie für mehr Wohlstand.
Gustav A. Horn
Vorleistungen für die Industrie
Arbeitskosten sind nicht gleich Arbeitskosten, denn in Deutschland kostet eine Stunde im verarbeitenden Gewerbe mit 34,30 Euro ziemlich genau 6,80 mehr als im privaten Dienstleistungsbereich. Der Unterschied ist nach Erkenntnissen der IMK-Autoren Ulrike Stein, Sabine Stephan und Rudolf Zwiener höher als in jedem anderen Land der Europäischen Union. Von diesem Umstand profitiert die deutsche Industrie, die in vielen Dienstleistungsbrachen sogenannten Vorleistungen kauft und damit die Zahlung höherer Arbeitskosten umgeht. Wie viel durch einen solchen "Vorleistungseffekt" eingespart werden kann, ist umstritten. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) nimmt 5,8 Prozent pro Stunde für 2011 an, das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (ging vor Jahren von knapp 13 Prozent aus. Stein, Stephan und Zwiener vermuten, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt, verweisen in diesem Kontext aber noch auf einen anderen, selten bemerkten Umstand:
Insbesondere in den vermeintlich kostengünstigen mittel- und osteuropäischen Ländern sind die Arbeitskosten für die privaten Dienstleistungen höher als im Verarbeitenden Gewerbe. In diesem Fall erhöhen die Verbundeffekte das Kostenniveau in der Industrie. Das relativiert die Unterschiede bei den Arbeitskosten zwischen Deutschland und diesen Ländern deutlich.
IMK-Report Nr. 77
Schwächung der sozialen Sicherungssysteme
20 Prozent Wirtschaftswachstum seit Gründung der Währungsunion im Jahr 1999 – gleichzeitig 20 Prozent Rückgang im Bereich der Rentenzahlbeträge. Dass diese Rechnung nicht aufgehen kann, erklärt sich auch ohne die Hilfe eines Wirtschaftsinstituts, das aber sicherheitshalber daran erinnert, wie einst die Kosten der deutschen Wiedervereinigung bezahlt wurden – nämlich zu wesentlichen Teilen nicht durch Steuern, sondern durch eine Anhebung der Sozialversicherungsbeiträge. Später setzte ein großkoalitionäres Langzeitprojekt, an dem auch Grüne und FDP beteiligt waren, genau hier den Hebel an.
Angesichts der stark gestiegenen Sozialausgaben wurden im vergangenen Jahrzehnt mit zahlreichen Kostendämpfungsmaßnahmen im Gesundheitswesen, Rentenreformen und den Maßnahmen der Agenda 2010 die Ausgaben wieder gesenkt. In der Folge wurden auch die Beitragssätze auf rund 40 % reduziert. Dabei wurde sowohl in der Krankenversicherung mit dem gespaltenen Beitragssatz als auch in der Rentenversicherung mit der Einführung der Riester-Rente die paritätische Finanzierung der Sozialversicherung aufgegeben, so dass die Arbeitgeber entlastet wurden, während die Belastung der Arbeitnehmer deutlich stieg. Gleichzeitig wurde mit den Maßnahmen der Agenda 2010 Druck auf die Löhne ausgeübt.
IMK-Report Nr. 77
Welche Effekte weitere Absenkungen der Sozialversicherungsbeiträge haben, etwa die zum 1. Januar 2013 beschlossene Reduzierung der Beiträge für die Rentenversicherung, ist absehbar. Das IMK rechnet zunächst mit geringeren Einnahmen und infolge der Anpassungsformel dann mit höheren Ausgaben der Rentenversicherung.
Beide Effekte wirken zwar expansiv auf das Wachstum, reduzieren aber gleichzeitig die Nachhaltigkeitsrücklage, was im Falle einer Rezession dann dazu führt, dass die Beitragssätze umso stärker angehoben werden müssen.
IMK-Report Nr. 77
Die verworrene Debatte über Altersarmut in Deutschland ignoriert nach Meinung der Forscher mitunter die "gravierenden Auswirkungen, die geringe Löhne auf Rentenzahlungen und die Sozialversicherung insgesamt haben". Von der auf lange Sicht prekären Situation seien vor allem Beschäftigte des privaten Dienstleistungssektors betroffen, weil sie mit geringen Löhnen auch nur geringe Rentenansprüche erwerben könnten.
Um eine nachhaltige Entwicklung des Euroraums und eine Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme zu erreichen, plädieren die Autoren der Studie für "stabilitätsgerechte gesamtwirtschaftliche Lohnsteigerungen, die sich am Inflationsziel der EZB und dem trendmäßigen Produktivitätsfortschritt orientieren".
Konkret fordert das IMK den Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten von "mehr als 2 % pro Jahr" und Stundenlohnsteigerungen "von deutlich mehr als 3 Prozent". Dass die Arbeitgeber(vertreter) diesen Plan unterstützen, ist allerdings mehr als unwahrscheinlich.