Ur-Blüte war nicht eingeschlechtlich, sondern "zwittrig"
Evolutionsmathematik rekonstruiert Pflanzenstammbaum
Genvergleiche und Pollenfossilien deuten darauf hin, dass die Evolution auf der Erde die ersten Pflanzen mit Blüten vor etwa 140 bis 250 Millionen Jahren hervorbrachte. Bislang ging man mehrheitlich davon aus, dass diese Gewächse nur ein Geschlecht hatten und dass die Blüten mit spiralförmig angeordneten Organen Kiefernzapfen glichen, weil die Geschlechter von älteren Pflanzen wie Farnen auf verschiedene Einzelgewächse verteilt sind.
Ein internationaler Forschungsverbund, das eFLOWER-Projekt, hat nun mit 36 Wissenschaftlern aus 13 Ländern herausgefunden, dass die erste von der Evolution geschaffene Blütenpflanze tatsächlich "zwittrig" war, sowohl über männliche pollenerzeugende Staubblätter als auch über weibliche Blütenblätter verfügte und ihre kronblattähnlichen Organe in drei Kreisen anordnete. "Dieses Ergebnis", so der Projektleiter Jürg Schönenberger, "ist besonders bedeutend, weil viele Botaniker noch immer der Auffassung sind, dass in der ursprünglichen Blüte alle Organe spiralig angeordnet waren, ähnlich wie die Samenschuppen eines Kiefernzapfens".
Dreidimensionales Modell
Das dreidimensionale Modell, das die Wissenschaftler entwarfen, zeigt eine "radiärsymmetrische Hülle" aus pollentragenden Staubblättern (die sich nicht in Kelch- und Kronblätter unterscheiden) und weibliche Fruchtblätter. Die Samenanlagen stehen in diesem 3-D-Modell alleine und bilden keinen Fruchtknoten, wie heute üblich.
Für ihre in Nature Communications veröffentlichte Studie The ancestral flower of angiosperms and its early diversification sammelten die Wissenschaftler 13.444 Merkmalsdaten von 792 Blütenpflanzenarten, die sie evolutionsmathematisch auswerteten. Dabei wurden anhand der Verteilung von 27 Merkmalen und anhand bekannter Verwandtschaften zwischen Pflanzen Wahrscheinlichkeiten dafür berechnet, dass ein Merkmal bereits beim letzten gemeinsamen Vorfahren auftrat.
Evolutionäres Erfolgsmodell Blüte
Aus diesen Berechnungen ergaben sich dem in Wien forschenden Projektleiter Jürg Schönenberger zufolge nicht nur die bislang nicht vermutete Zwittrigkeit und die oben geschilderte Anordnung der Blütenhüllblätter (die man heute noch bei Lilien und Magnolien findet), sondern auch neue Erkenntnisse zur Evolution von Blütenpflanzen, die der Professor für Strukturelle und Funktionelle Botanik zusammen mit seinem Pariser Kollegen Hervé Sauquet auch grafisch veranschaulicht hat. Diese Erkenntnisse stellen ihm zufolge "vieles, was früher über die Evolution der Blüte geschrieben und gelehrt wurde, auf den Kopf".
Nach 140 bis 250 Millionen Jahren Blütenpflanzenevolution gibt es heute geschätzte 390.000 Arten, die etwa 90 Prozent der Flora ausmachen. Das Ausbreitung dieser Gattungen zeigt, dass Gewächsen das Modell Blütenpflanze Vorteile bei der Vermehrung verschaffte: Insekten, die durch Blüten angelockt werden, bestäuben zuverlässiger als der Wind - und zwar nicht nur Bienen, sondern auch Käfer und Fliegen, die es bereits vor der Kreidezeit gab.
Anlass für die Durchsetzung von Blüten bei Pflanzen könnte gewesen sein, dass sie die Samen vor Käfern schützten. Die Fruchthüllen, die die Angiospermen ("Bedecksamer") neben den Fruchtblättern für ihre Samen entwickelten, sorgten später dafür, dass diese während ihrer Keimzeit geschützt waren und sich über Ausscheidungen von Tieren potenziell weiter verbreiteten als der Wind sie tragen konnte.
"Abscheuliches Rätsel"
Trotz der durch die eFLOWER-Studie gewonnenen neuen Erkenntnisse bleiben hinsichtlich der Entstehung von Blütenpflanzen, die Charles Darwin als "verblüffendes Phänomen", aber auch als "abscheuliches Rätsel" ("abominable mystery") bezeichnete, noch viele Fragen offen - und Fossilien, die die Berechnungen des Teams bestätigen könnten, müssen erst noch in ausreichender Vielfalt gefunden werden. Fest steht bislang nur, dass ausschließlich Samenpflanzen über Identitätsgene für Blütenorgane verfügen. In anderen Gewächsen sind nicht einmal orthologe ("konservierte") Gene davon vorhanden.