Ursachen der zahlreichen Konflikte im Vielvölkerstaat Myanmar

Seite 4: Kachin-Konflikt

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Exemplarisch für die verquickten Beziehungen der Zentralregierung zu den ethnischen Minderheiten kann der Konflikt im Bundesstaat Kachin angesehen werden. Die Kachins sind ein im 19. und frühen 20. Jahrhundert von zumeist amerikanischen Missionaren vom Animismus zum Christentum bekehrtes Bergvolk im Nordosten Myanmars. Seit der Unabhängigkeit hat die burmesische Regierung die Rebellen in mehreren Bundesstaaten in blutigen Kämpfen bekriegt und die meisten von ihnen mehr oder weniger erfolgreich ausgeschaltet.

Mit den verbliebenen ca. 40 bewaffneten Gruppen, darunter der "Kachin Independence Army" (KIA) wurden seit dem Ende der 1980er Jahre Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, woraufhin die Rebellenarmeen den bewaffneten Kampf auf Raten aufgaben, wenngleich sie ihre Waffen nie niederlegten. Dafür bekamen sie Zugeständnisse, etwa sich weiterhin durch Drogenproduktion und grenznahe Casinos für chinesische Gäste finanzieren zu können. Zeitweise waren diese von Rebellengruppen kontrollierten Gebiete in den Unionsstaaten Shan und Kachin in der Herstellung von Drogen weltweit führend. Das reinste Heroin (an der Quelle ein Schuss für einen Dollar) kam aus diesen Enklaven, was Burma zum Hauptakteur im berüchtigten "Goldenen Dreieck" machte. 1992 kamen laut einem Bericht der US-Drogenbekämpfungsbehörde 56 Prozent des Heroins am amerikanischen Markt aus Burma.

Die Vertreter der KIO ("Kachin Independence Organisation", der politische Arm der KIA) behaupteten früher, dass ihnen keine andere Wahl blieb, als Mohn zu kultivieren, denn für cash-crops wie Tee oder Kaffee fehlten die finanziellen Mittel. Außerdem würden die burmesischen Soldaten bei ihren "Vier Stiche-Operationen" ohnehin alle Felder wieder zerstören. Seit 1992 hat die KIO den Opium-Anbau auf ihrem Gebiet offiziell verboten. Heute ist die Heroin-Herstellung in den Händen mafiöser Vereinigungen und rein profitorientiert.

Nach den Waffenstillstandabkommen mit den Minderheitenarmeen konnten die Militärmachthaber den jahrzehntelangen Kampf beinahe beilegen. Im Ausland wollte damals niemand diesen Durchbruch bemerken, denn er wurde mit viel Blut erkauft. Der längste Bürgerkrieg der neuesten Geschichte erregte ohnehin kaum Interesse im Westen, er war zu kompliziert und undurchschaubar.

Die Karen an der Grenze zu Thailand erhielten Jahrzehnte lang finanzielle Unterstützung aus den USA. Mit den damit angeschafften chinesischen Waffen führen sie isoliert einen aussichtslosen, blutigen Krieg um den eigenen Kayin-Staat. Zuletzt bekriegten verfeindete Fraktionen der karenischen Buddhisten Seite an Seite mit der burmesischen Armee ihre baptistischen Stammesbrüder. Eine ganze Industrie westlicher humanitärer Hilfsorganisationen fing die Flüchtlinge und Vertriebene auf der thailändischen Seite auf und versorgte sie in riesigen Lagern entlang der Grenze.

Im Juni 2011, nach 17 Jahren relativen Friedens, brach der bewaffnete Konflikt in Kachin in voller Stärke wieder aus. Allein im darauffolgenden Jahr starben mehr als 2500 Menschen (davon 211 Soldaten der burmesischen Armee), über 100.000 Zivilisten wurden aus ihren Dörfern vertrieben. Der Krieg dauert von der Weltöffentlichkeit völlig unbeachtet an. Amnesty International machte erst im letzten Juni darauf aufmerksam, dass man im Bundesstaat Kachin und im nördlichen Teil des Shan-Staates ein ähnlich schockierendes Muster an Gewalt gegen die ethnischen Minderheiten wie in Rakhaing beobachte. Die Arme würde wahllos Dörfer beschießen und Menschen willkürlich inhaftieren, foltern oder außergerichtlich hinrichten. Auch in diesen Gebieten würde humanitären Organisationen der Zugang verwehrt, was die Situation der Binnenflüchtlinge zusätzlich verschlimmere.

Nach der schrittweisen Demokratisierung des Landes seit 2011 wurden die früheren Waffenstillstandsvereinbarungen formalisiert. 14 ethnische Armeen unterschrieben Abkommen mit der Regierung zur endgültigen Beilegung der Konflikte. Der erste zivile Präsident Myanmars, Thein Sein, schlug 2015 ein landesweites Waffenstillstandabkommen vor. Dieser sollte den Weg für die Erschaffung eines Föderalsystems und einer Verfassungsreform ebnen. Diese Vereinbarung wurde aber nur von sieben Minderheitenarmeen unterschrieben. Die anderen lehnten das Abkommen ab, da ihnen nicht garantiert wurde, dass sie politische Zugeständnisse tatsächlich erhalten würden. Außerdem weigerte sich die Regierung, mit Gruppierungen zu verhandeln, die ihre Waffen nicht niedergelegt hatten.

Der Friedensprozess verlangsamte sich danach, unter Aung San Suu Kyi kam er gänzlich zum Stillstand. Sie kritisierte das landesweite Abkommen ihres Vorgängers und startete stattdessen eine eigene Friedensinitiative, die "Panglong Konferenz des 21. Jahrhunderts". Diese wiederum fand keine Unterstützung in Armeekreisen.

Shelby Tucker, ein Amerikaner, der mit Unterstützung der KIA-Kämpfer vor 17 Jahren die Kachin Berge zu Fuß nach Indien durchquerte, stellte sich in seinem Buch "Among Insurgents, Walking Through Burma" die wichtige Frage, die den Schlüssel zum Verständnis der Komplexität des heutigen Myanmars darstellt: Wer trägt die Schuld an all dem Blutvergießen? Lag es an der Arroganz und der Verachtung der Burmesen für die Bergstämme oder vielmehr an der divide & rule Politik der Briten, die die Bergvölker im Kampf gegen die Mehrheitsbevölkerung missbrauchten? Oder hatte gar Aung San Böses im Sinne, als er im Panglong-Abkommen den Minderheiten unrealistische Hoffnungen machte?

Dem Britischen Verwalter der Grenzgebiete wirft er vor, dass er es nicht vermochte, die Kachins zu überzeugen, bis zur Stabilisierung der Lage als britisches Protektorat fortzubestehen. Gleichzeitig schürten buddhistische Fundamentalisten unter den Bamar-Burmesen den Hass gegen die Kleinvölker, zündeten bereits in den vierziger Jahren Kirchen an, viele Karen starben in den Flammen. Waren vielleicht auch der Drogenhandel, die Gier und die Korruption aller Beteiligten an all dem Übel schuld, oder gar die Außenwelt mit ihrer Ignoranz, Kurzsichtigkeit und der Sanktionspolitik?