Urteil vollstreckt: Michael Lüders ist "umstritten"

Ein Kommentar zum Umgang großer Medien mit einem kritischen Autor

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Das Urteil der führenden Medien ist vollstreckt: Michael Lüders, der Nahostexperte und Buchautor, ist umstritten. Umstritten, weil er bei Markus Lanz eine Aussage getätigt hat, die falsch war. Umstritten, weil er des Weiteren davon gesprochen hat, dass der Einsatz von Giftgas in der syrischen Ortschaft Ghouta im August 2013 mit "sehr hoher Wahrscheinlichkeit" ein "Angriff unter falscher Flagge" war.

Die Art und Weise, wie führende Medien mit Lüders umgehen, zeigt deutlich: Ein Teil der Presse weigert sich von ihrer Fähigkeit Gebrauch zu machen, Themen den journalistischen Standards entsprechend einzuordnen und zu gewichten.

Zwei Personen nehmen an Talkshows teil. Der eine ist ein Buchautor, die andere Bundesverteidigungsministerin. Der Buchautor ordnet bei "Markus Lanz" einen Sachverhalt sprachlich nicht korrekt ein, die Bundesverteidigungsministerin betont bei "Anne Will", ein UN-Bericht zu dem Einsatz des Giftgases im Jahr 2013 in Syrien habe die Schuldfrage geklärt.

Die Äußerungen des Buchautors führen zu reichlich Nervosität in den Reihen der großen Medien. Rasch legen sie fest: Wer Michael Lüders als ernstzunehmendes Medium von nun an zitieren möchte, sollte am besten immer das Adjektiv "umstritten" anführen (und, falls der Platz ausreicht, erwähnen, dass er "ergraut" ist).

Die Falschaussage von Ursula von der Leyen, also einer Person, die eines der höchsten politischen Ämter dieses Landes innehat, ist in der Medienberichterstattung allenfalls eine Marginale.

Gewichtung und Einordnung von Informationen

Um was für einen Journalismus handelt es sich, der einen sprachlichen Fehlgriff eines Autors höher bewertet als die Falschaussage einer Bundesministerin vor einem Millionenpublikum? Was sind das für Medien, die sich aufgeregt mit dem Auftritt von Lüders auseinandersetzen, aber dabei den Auftritt von der Leyens ignorieren?

Wieder einmal können wir beobachten, dass nicht gerade unwesentliche Teile der Medienlandschaft bei einer der Kernaufgaben des Journalismus, nämlich der Gewichtung und Einordnung von Informationen und Nachrichten, eine sehr eigenwillige Vorstellung haben.

Wer jeden Satz von Lüders auf die Goldwaage legt und dabei zugleich die Falschaussage der Verteidigungsministerin mit großem Wohlwollen übersieht, liefert einen Journalismus ab, der genau das offenbart, was seit geraumer Zeit viele Kritiker ihm vorwerfen, nämlich: Herrschaftsnähe und einen gravierenden Mangel an Objektivität.

Doch warum diese Aufregung? Warum schreien Medien gerade Zeter und Mordio, wenn Lüders über seine Arbeit und seine Thesen spricht?

Sehen wir von den gewohnten Reflexen innerhalb der Medien, die sich bekanntlich vor allem bei Nichtigkeiten bis zur Ekstase empören können, einmal ab: Lüders' Aussagen werden als Axthieb auf eine Wirklichkeitskonstruktion verstanden, an der Politik und Leitmedien mit sehr viel Einsatz gemeinsam gebaut haben.

Deutungshoheiten und Feindbilder

Wer die Diskussion um Lüders verfolgt, muss wissen: Es geht nicht nur darum, dass ein Autor etwas Falsches gesagt oder in seinem Werk an einigen Stellen vielleicht unzureichend recherchiert hat (das passiert jedem Journalisten in seinem Berufsleben). Die Arbeit von Lüders berührt die öffentliche Deutung über einen Krieg, bei dem - manch einer mag das nicht für möglich halten - geostrategische Interessen im Vordergrund stehen.

Die Perspektivierungen von Lüders stören bei etwas, worum es in Kriegen immer geht: den Aufbau und die Aufrechterhaltung von Feindbildern. Da kommt ein Mann wie Lüders, der vor einer voreiligen Verurteilung Assads im Zusammenhang mit den Giftgasangriffen warnt und sich den scheinbar in Stein gemeißelten Wirklichkeitsinterpretationen führender Medien widersetzt, ziemlich unpassend.

Das ist der Grund, warum Lüders "unter Beschuss" geraten ist. Würde es nur um die Sache gehen, stünde Ursula von der Leyen im Mittelpunkt der medialen Auseinandersetzung.

Dann würden Medien mit Nachdruck Fragen stellen wie: Was ist von einer Verteidigungsministerin zu halten, die sich zu einer der bekanntesten Polit-Talkshows des Landes begibt, um über Syrien zu reden, und dabei bei einer so zentralen Frage wie die der Urheberschaft für einen Giftgasangriff falsch aussagt?

Doch gerade, wenn es um Themen geht, bei denen Leitmedien und Politik im Gleichklang agieren, sind solche Fragen deplatziert. Das Verhalten bestimmter Medien zeigt: Solange Ungenauigkeiten, Falschaussagen, Lügen oder gar Propaganda nicht am Realitätsverständnis dieser Medien kratzen, finden sie auch kaum einen Anstoß daran. Für einen Journalismus, der so agiert, wäre die Bezeichnung "umstritten" ein Euphemismus.