Utopien aufsammeln und dafür Theoriefähigkeit und Phantasie entwickeln

Seite 2: Betonrealität und Ohnmachtsgefühle im Politikzusammenhang

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Diese "Auszehrung und Aushöhlung offizieller Politik, auch der "Verschleiß" oder die "Entehrung" der meisten politischen Begriffe wie Staat, Nation, Demokratie, Humanität, Freiheit usw. ist heutzutage ein großes Problem. Künftigen Emanzipationsbewegungen haben Sie kürzlich zur Aufgabe gemacht, für die "Unversehrtheit der Begriffe" und die "Wiederherstellung ihres ursprünglichen Sinngehalts" zu kämpfen.

Ich habe mich gefragt, wie "dieser Rohstoff" denn wiedergefunden werden könnte, nachdem sich diese Begriffe vom Stofflichen gelöst haben und nur noch als referenzlose Zeichen in sich selbst zirkulieren? In Schutzhaft nehmen kann man sie nicht, und an die Produktionssphäre zurückbinden sicherlich auch nicht? Im Übrigen dachte ich immer, die Unversehrtheit liege gerade in ihrer Referenzlosigkeit.

Oskar Negt: Sobald man sich auf die ungeheuere Verflechtung der Sprachsysteme und des politischen Handelns einlässt, kann man nur ganz schwer beantworten, wo anzusetzen wäre. Nur Ansätze, die eine gewisse Überzeugungskraft aus ihrer eigenen Logik entwickeln, erreichen die gespaltenen Gefühle der Menschen. Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Ich habe jetzt eine vierjährige Tochter und zwei erwachsene Töchter. Ich bin immer darum bemüht gewesen, sie nicht in einen Kindergarten zu geben, dessen Ordnung von einer staatlichen oder kirchlichen Organisation vorgegeben wurde.

Seit 1970 versuche ich, neue Kindergärten oder Kinderläden aufzubauen. Dabei habe ich festgestellt: Es ist nicht schwer, andere Menschen für ein solches Projekt zu gewinnen. Viele teilen diese Auffassung. Diese Sensibilität für das Un-Stimmige, für Neuanfang und Neuaufbau - Resultat auch der 68er-Bewegung - steht geradezu diametral gegen die Folgerung, man könne nichts machen. Im Moment bin ich wieder dabei, einen neuen Kinderladen aufzubauen und mitzugestalten.

Bei vielen Menschen war die Radikalität des Gedankens, sich nicht global verweigern zu können - die "große Weigerung" bei Herbert Marcuse -, nur in dem Maße wirksam, wie sie eine kleine Weigerung war. Die "große Weigerung" ist einfach eine Idee. Die massenweise kleine Weigerung, nicht mitzumachen, nicht den Doppelbeschluss der Raketenstationierung zu akzeptieren, nicht diese Schule zu akzeptieren, sondern etwas Neues aufzubauen - alle diese Initiativen ergeben für eine alternative Politik Anregungen, die sich zu einer politisch relevanten Summe solcher Alternativen zusammenfügen lassen, ohne dass ein Organisationskonzept für eine sozialistische Partei oder eine andere Großorganisation existieren würde. In dieser Politik, soweit sie auf Wiederaneignung einer uns freundlichen Realität gerichtet ist, muss immer die Dialektik zwischen Distanz und Nähe ausgetragen werden.

Zu viel Nähe führt zur "Tyrannei der Intimität" (R. Sennett). Intimität ist zwar nicht grundlegend falsch, aber sie ist für gesellschaftliche Prozesse zu anfällig. Eine vollständige gesinnungsmäßige Übereinstimmung mit einer Person zieht schon bei der kleinsten Differenz eine Verneinung derselben nach sich. Um mit Menschen etwas Gemeinsames zu machen, braucht es Distanz. Ich muss nicht mit Eltern zusammenarbeiten, die die gleiche gewerkschaftliche Überzeugung oder die gleiche Auffassung von der Familie haben. Es genügt, wenn sie Kindererziehung so verstehen wie ich.

Die Ausbalancierung von Distanz und Nähe ist deshalb ein wesentlicher Punkt alternativer Politik. Nur dann findet eine produktive Verarbeitung und Bearbeitung des politischen Rohstoffs von Realität statt. Natürlich sind das keine spektakulären, utopischen Entwürfe mehr, sondern es geht um das Aufsammeln der Utopien in uns selber, das Aufsammeln der Bedürfnisse, auch ihrer Zwiespältigkeit. Für eine lange Zeit wird es für uns gerade in fortgeschrittenen, komplexen industriellen Systemen wichtig sein, unser Politikverständnis daran zu orientieren: Die Aufmerksamkeit auf solches Politikverständnis zu richten mit den notwendigen Ausdrucksformen dieser Bedürfnisse.

Kann diese Form von Politik überhaupt noch die unsrige sein? Für viele überraschend kehren Sie in Ihrem neuen Buch zu den Ursprüngen des Politischen, dem grundlegenden Staats- und Rechtsraum der alten Polis, also zum territorialen Denken des Stadt- bzw. Nationalstaates zurück, in dem Bildung, Schutz, Entwicklung und Pflege des Gemeinwesens wieder im Mittelpunkt allen politischen Handelns stehen. Damit treten Sie ganz offensichtlich allen Formen einer sich durchsetzenden Trans- oder Postpolitik mit allen ihren Begleitfolgen wie Ortsverlust oder Deportation, aber auch allen technizistischen Auffassungen von Politik entgegen und fordern stattdessen eine hinreichende, dem Menschen gemäße Zeitreserve zum Aufbau politischer Verhältnisse.

Ist in einem vom Orbitalen und Transnationalen der Medien dominierten selbstbezüglichen Politiksystem, das nur noch auf seine eigenen medialen Aufzeichnungen reagiert, überhaupt noch der Platz für eine solche Renaissance territorialen Denkens? Herrscht hier noch der nötige Zeit- und Spielraum, um gordische Knoten im Rhythmus menschlicher Verarbeitungsund Urteilsgeschwindigkeit zu entwirren? Oder anders und schärfer gefragt: Hat sich unsere Politikerklasse nicht schon längst identifiziert mit dieser statistisch-kalkulierenden, nicht mehr anschreibbaren Macht?

Oskar Negt: Das ist genau das Problem, mit dem wir es zu tun haben. Es ist schon lange kein Geheimnis mehr und eine Analyse darüber auch gar nicht mehr nötig: Die politische Klasse, wenn es denn so etwas als identifizierbares Ganzes überhaupt noch geben sollte (ich habe manchmal starke Zweifel), betreibt Politik im Wesentlichen nach den Machiavellistischen Prinzipien des Machterwerbs und der Machterhaltung. Max Weber sieht darin ein wesentliches Element der Realpolitik.

Das mag zutreffen, hat aber zunehmend den Charakter einer Abdichtung und Ausgrenzung von gesellschaftlichen Problemen, die nicht mehr in der Weise, wie M. Weber das wollte, staatlich regulierbar sind. Jene Bereiche unterhalb der staatlichen Regulierbarkeit haben sich erweitert und zwar zwangsläufig auf der Grundlage eines geschichtlichen Epochenbruchs. Zum ersten Mal ist eine Reihe von Gesellschaftsordnungen in der Geschichte imstande, so viel zu produzieren, um Hunger, Durst und Elend objektiv abzuschaffen. Das Mehrprodukt ist inzwischen so groß, dass es zum Problem der Ökonomie geworden ist.

Geschichtlich hat es das vorher nie gegeben. Immer hat Mangel geherrscht. Damit ergibt sich, wenn die lokalen Borniertheiten gleichzeitig noch durch Medien gebrochen werden, eine ganz andere Struktur der Mobilität. Die Völker sind jetzt in Bewegung. Sie gehen dorthin, wo es keinen Hunger, keinen Durst, kein Elend gibt und wo sie versorgt werden. Diese Wanderungsbewegungen werden Größenordnungen annehmen, die vergleichbar sind mit den Völkerwanderungen. Sie werden nicht richtig stoppbar sein. Auch durch die Änderung des Grundgesetzes wird es nicht möglich sein, diese Massen wirklich zu kontrollieren. Dieses Gefälle des Lebensstandards führt zu ganz anderen Erwartungen auch an das Leben, und auf der Grundlage zerstörter autochthoner-autonomer

Strukturen findet man auch dieses konservative Element, das sonst Bauernschichten haben, nicht mehr. Welche Folgen diese gewaltigen Völkerwanderungsbewegungen für diese staatliche Real-Politik haben, vermag ich nicht zu sagen. Sie erfasst und kontrolliert diese Probleme an der Bedürfnislage überhaupt nicht mehr.

Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen. In dem Maße aber, wie sich diese Klasse bzw. diese Gruppen abkoppeln von den wirklichen Lebenszusammenhängen, bilden sich mafiaartige Ausbeutungscliquen, die eigene Netze über die Gesellschaft werfen und ganz anders als der Territorialstaat das mittelalterliche Feudalprinzip praktizieren: Protego, ergo obliger (Ich schütze dich, also kann ich dich verpflichten).

Wenn der Begriff der Politik ausgezehrt und ausgedörrt ist, kämpfen wir um den Begriff der Politik und seine Traditionen. Deshalb wenden wir uns zurück in die Antike, Sprachursprung der Politik. Natürlich knüpfen wir auch an Traditionen an, die wir nicht explizit behandelt haben. Die Tradition von J. Locke über Montesquieu bis Rousseau spielt für uns eine große Rolle. Sie ist eine völlig andere als die Tradition von Machiavelli bis C. Schmitt.

Mit dem Anknüpfen an diese großen politischen Theorien verbinden wir die Hoffnung, dass in brisanten Konfliktsituationen, in die einzelne der politischen Klasse kommen, grundsätzlich immer zwei Lösungen möglich sind: Auf der einen Seite ein umso härteres Festhalten am System einer Real-Politik, die nichts mehr von der Realität spiegelt und zu einer Betonrealität wird. Sie wird längerfristig eine Ohnmachtshaltung herbeiführen. Diese Realitätslosigkeit läßt sich jetzt überall feststellen, eine Haltung, wie sie das SED-Regime noch bei der 40 Jahr Feier der DDR praktiziert hat.

Niemand hat im Ernst Gorbatschows Satz: Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte, verstanden. Innerhalb von zwei Monaten bricht eine Gesellschaft, eine Welt, ein Staat zusammen, was nicht untypisch ist für mögliche Zusammenbrüche auch westlicher Institutionen. Ein Unterschied besteht aber: Die westlichen Institutionen haben aufgrund lange geübten Umgangs mit Öffentlichkeit nie die Möglichkeit, sich komplett von den Bedürfnissen der Menschen abzukoppeln. Selbst wenn die Politiker im Grunde nur noch ihre eigenen Reden lesen, werden sie irgendwann merken, dass andere ihnen nicht zustimmen. Spätestens an den Wahlvoten werden sie es merken. Hier ist eine höhere Flexibilität im System, die die Ostblockländer nicht gehabt haben.

Für uns gibt es eine erstaunliche Reaktion auf unser Politik-Buch. Es gibt Hunderte von Rezensionen bis in die Lokalzeitungen, aber praktisch keine kritischen Rezensionen, was nachdenklich stimmt. Noch nie habe ich so etwas mit einem anderen meiner Bücher erlebt. Wir müssen eine Lücke und Leerfläche angesprochen haben, die eine tiefe, sehr gefährliche Abwendung von dieser Art von Politik offenbart. Wohl aber auch die Hoffnung, dass ein Buch etwas anderes anbietet.

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