Utopien aufsammeln und dafür Theoriefähigkeit und Phantasie entwickeln
Seite 3: Die Öffentlichkeit (ver)schwindet, aber die Geschichte läuft zwangsläufig immer anders ...
- Utopien aufsammeln und dafür Theoriefähigkeit und Phantasie entwickeln
- Betonrealität und Ohnmachtsgefühle im Politikzusammenhang
- Die Öffentlichkeit (ver)schwindet, aber die Geschichte läuft zwangsläufig immer anders ...
- Marx neu und anders lesen und ihn praktisch aufsprengen
- Bilderlosigkeit und Urteilsvermögen: Optionen für die Zukunft?
- Auf einer Seite lesen
Ist nicht auch dieser repräsentative Raum von Öffentlichkeit, deren "Gebrauchswerteigenschaften" sie wieder als "Gefäß für die Ermöglichung gegenseitiger Verständigung" bestimmt haben, am Schwinden? Vor allem die technischen Bedingungen heutiger Kommunikation haben doch jede Hoffnung auf Rückbindung, Recodierung oder Revitalisierung autonomer Öffentlichkeiten außer Kraft gesetzt. An wen richtet sich dieser normative Diskurs, wenn der politische Raum, die Agora oder das Forum Romanum im klassischen Sinn, sich in den virtuellen Raum telematischer Netze verflüchtigt hat und dadurch jede produktive Vermittlungsarbeit und Vermittlungsmöglichkeit aufgekündigt wurde?
Oskar Negt: Hier finden wir dasselbe Problem wie bei der Politik. Dieses Verschwinden von Öffentlichkeit, von der gleichlautend sowohl Baudrillard im Hinblick auf objektive Scheinzusammenhänge als auch Virilio im Hinblick auf Geschwindigkeiten und Beschleunigungsvorgänge sprechen, ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist die wachsende Abstraktion. Ich wähle lieber den Hegelschen Begriff der Abstraktion für diesen Zusammenhang. Bei Hegel bedeutet abstrahieren auch von einem Zusammenhang isolieren.
Das Konkrete dagegen ist das Zusammengewachsene. Die Abstraktion vom Lebenszusammenhang der Gesellschaft ist eine reale Bedrohung dieser Gesellschaft auf mehreren Ebenen. Das gilt für die Medien, die diesen Beschleunigungsdruck erzeugen und diesen Abstraktionszusammenhang vervollständigen genauso, wie für die Einbindung des politischen Handelns. Natürlich gilt das insgesamt für die Massenproduktion technischer Produkte, deren Objektüberhang eine zivilisatorisch ernstzunehmende Bedrohung der Menschen darstellt.
Günter Anders hat das in einer Philosophie der Diskrepanz zwischen der Gattungsausstattung des Menschen mit seinen Sinnen, mit seinem Verstand, mit seinen Verstandesmöglichkeiten und seinen dementsprechend gering ausgebildeten Fähigkeiten mit dem von ihm produzierten Gegenständen menschlich umzugehen, beschrieben. Er hat das die Antiquiertheit des Menschen genannt, der nicht mit der Produktentwicklung mitgewachsen ist. Diese Seite wird von vielen verschiedenen Theoretikern der Postmoderne und der Apokalypse beschrieben. Darin steckt ein starkes Realitätsmoment der Gefährdung.
Theoretisch fragwürdig wird es aber für mich, wenn dieser Objektüberhang so gedehnt wird, dass die Realität der Lebens- und Gesellschaftszusammenhänge nicht mehr theoriefähig bleibt. In dem Maße, wie ich diesen Objektüberhang beschwöre und so tue, als ob dagegen nichts mehr auszurichten sei, lasse ich alles, was sich unterhalb dieses Objektüberhangs vollzieht, nämlich lebendige Menschen, Kommunikationen, Subjekte, so wie sie leben, denken und schreiben, links liegen. Ich entziehe diesem Bereich die Differenziertheit der Gegenmodelle und differenziere nur noch im Objektüberhang. Über das Subjekt wird wenig ausgesagt.
Unsere Position besteht darin, diesen Objektüberhang zu begreifen, aber gleichzeitig ihn für überwindbar zu halten. Für uns läuft die Geschichte nicht zwangsläufig so, wie sie läuft. Immer hat es andere Möglichkeiten gegeben. Die Geschichte ist für Augenblicke immer offengewesen. Für diese Öffnungen Theoriefähigkeit und Organisationsphantasie zu entwickeln, ist jedenfalls ein Begriff der Verantwortung des kritischen Intellektuellen.
Gegenmächte ohne Machiavellismus organisieren?
Es stellt sich dann aber sofort die Frage, wie diese Einbindung erfolgen und wie dieser "objektive Schein" überwunden werden könnte? Wie lassen sich Gegenmächte organisieren? Mehr als 20 Jahre haben Sie sich damit beschäftigt, die Organisationsfrage aber immer offen gelassen. Heißt das, dass sie nicht lösbar ist?
Oskar Negt: Ja! Die Organisationsfrage dieses Widerstandes ist nicht lösbar. Eindeutige situationsübergreifende Kriterien, die auch anwendbar sind, kann man nicht bestimmen. Deshalb nehmen wir nicht Merkmale von Organisationsfähigkeit, sondern Merkmale konkreter Arbeitsprozesse. Wir fragen nach Arbeitsmittel, Arbeitsgegenstand, also nach Voraussetzungen für eine solche Gegenproduktion.
Betrachten wir noch einmal die Protestformen, die sich im Oktober/November des Jahres 1989 in der DDR entwickelt haben. Natürlich kann man hinterher sagen: Das System musste zusammenbrechen. Aber niemand hat doch ernsthaft mit einem schnellen Zusammenbruch gerechnet. Dafür gibt es Gründe. In der Zellenform des Gemeindechristentums, dieser alten Katakombenform bildete sich zunächst ein kleiner Kommunikationszusammenhang, ein Austausch über Interessen und Bedürfnisse. Die Substanz, der Rohstoff des Politischen ist da.
Die ersten Diskussionskreise richteten sich noch überhaupt nicht auf den Zusammenbruch eines Staates, sondern suchten nach einer Selbstverständigung über das, was man ändern wollte. Kleine Formen des Protestes über Widerstand im Kleinen. Diese Organisationsformen kann man konkret beschreiben. Sie entwickeln sich bis zum runden Tisch, einer neuen genialen Erfindung. Am runden Tisch sind Probleme nicht mehr von einer Gruppe lösbar. Alle müssen sich dort einfinden. Aus solchen Kleinprojekten entwickeln sich manchmal große Bewegungen.
Da diese aber ab einem bestimmten Punkt bürokratisch eingefangen, also unter Abstraktionszwang gesetzt werden, zusammenbrechen oder deformiert werden, haben wir die Organisationsfrage mehr als eine Form konkreter Gegenproduktion begriffen, die nicht bloß aus Idealen besteht. Wir arbeiten ständig professionell mit Ideen, Gedanken und Kategorien. Die praktische Überzeugungskraft von Gegenprojekten ist unserer Auffassung nach viel größer und überzeugender als eine Buch.
Im "Politik-Buch" haben Sie einen höchst interessanten Begriff eingeführt, nämlich den des "Maßes" bzw. "der Maßverhältnisse." Sie haben ihn, soweit ich sehe, als Beziehungs- oder Vermittlungsbegriff eingeführt, der zwischen Enteignung und Aneignung, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, zwischen Wesen und Erscheinung eine Klammer herstellt, den Substanzverlust von Gegenständen und Beziehungen supplementieren und die Dinge vor ihrem Fall ins bodenlos Unbestimmte bewahren soll.
Ich habe ihn aber auch als einen anthropologischen Konkurrenzbegriff zum systemtheoretischen Konzept der "strukturellen Kopplung" von Systemen gelesen. Jetzt, wo wir über das "gegenproduktive Moment" sprechen, kommt es mir so vor, als ob die Einführung des Maßes und seiner Verhältnisse auch die Metapher der Umkehr, der Wiederaneignung, der Wiederinbesitznahme und der Überwindung ersetzen könnte.
Könnten Sie diesen Begriff noch ein bisschen näher erläutern? Was bezwecken Sie mit seiner Einführung? Wer befindet über dieses Maß und wie kann und wie soll darüber bestimmt werden, wenn uns ganz offensichtlich jegliches Maß für die Dinge abhandengekommen ist und ein Zurück zu menschlichen Verhältnissen m. E. nicht mehr möglich ist?
Oskar Negt: In welcher Weise "Maßverhältnisse" im politischen Handeln zur Anwendung kommen, hängt entscheidend davon ab, ob es massenhafte Ausbildung von Urteilskraft und Unterscheidungsvermögen in einer Gesellschaft gibt. Es gibt keine privilegierte Instanz oder eine hervorragende Persönlichkeit oder einen Sittenkodex, der festlegen könnte, was die Maßverhältnisse des Politischen sind. "Maß" heißt bei uns ja nicht ein "Mittleres", Vermittelndes im Sinne eines umsichtigen Moderators.
Es ist für uns der substantielle Gehalt von Radikalität, so wie Marx sie verstanden hat: die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist auch für uns der Mensch. Der Mensch lebt in der Spannung von Utopie und vorfindbarer Realität, ohne die er sich nicht lebendig halten könnte. Schlägt er sich aber, in besinnungslosem Opportunismus, auf die Seite der versteinerten Macht des Faktischen, dann überlässt er sich einer gefährlichen Maßlosigkeit, wie umgekehrt, wenn der Radikalismus ganz in den Träumen und Bedürfnissen befangen bleibt. In beiden Fällen fehlt das angemessene Gefäß der individuellen Emanzipation im Zusammenhang des Gemeinwesens.
In "Öffentlichkeit und Erfahrung" war diese Erwartung noch an den "Phantasiebegriff" geknüpft. Auch wenn Sie seinerzeit die Phantasietätigkeit noch negativ bestimmt haben als "Block des wirklichen Lebens", der, unbewusst, praktische Kritik an den Verhältnissen leistet, war im Phantasiebegriff auch das Vermögen des Noch-Nicht, die Möglichkeit einer besseren Zukunft aufgehoben. Gegenwärtig erleben wir eine tiefgreifende "Revolution des Imaginären". Die Phantasietätigkeit wird von ihrer körperlichen Gebundenheit getrennt und in die Siliziummaschinen verlagert.
Welchen Stellenwert hat für Sie heute ein Begriff wie Phantasie oder die "Phantasietätigkeit kritischer Produzenten"? Ist der Phantasiebegriff noch ein zeitgemäßes Konzept für "sinnvolle Gegenproduktionen"?
Oskar Negt: Der ursprüngliche Phantasiebegriff, wie ich ihn in der Arbeiterbildung formuliert habe, bestand in einer Kritik der Arbeitsteilung. Phantasie war die Form der alltagspraktischen Verarbeitung der Realität, an die Bildungsprozesse anknüpfen mussten, um den Einzelnen in seinen Lernmöglichkeiten zu erreichen. Für Freud ist Phantasie bekanntlich ein lustbetontes assoziatives Umgehen mit Raum und Zeit, vor allem ein Aufsprengen eines bloß additiven, Schritt für Schritt sich vollziehenden Zeitkontinuums.
Für Alexander Kluge und mich war die Phantasie das Medium des produktiven Umgangs mit einer Realität, die falsch zusammengesetzt ist. Das Aufbrechen dieser falschen Realität sieht zunächst willkürlich aus: das ist auch der Grund der Schwierigkeit, auf die mancher beim Verstehen von Kluges Filmen trifft. Da die Sinne gewohnt sind, in der offiziellen Anordnung der Dinge und ihrer Zeitstruktur aufzunehmen und zu "denken" - ein Schreibtischsessel ist eben ein Schreibtischsessel und nichts anderes - , sieht es so aus, als ob dort alles falsch zusammengesetzt ist.
In "Geschichte und Eigensinn" war dieses Phantasiemedium ein zentrales Moment der Rohstoffproduktion für politische Bewusstseinsbildung. Wenn man die Schwarzmarktphantasien, also alle Phantasien, die sich unterhalb der offiziellen Ebene von Wünschen bilden, im Schreiben und Denken nicht anspricht, entstehen parallele Bildungsprozesse. Das lernende Subjekt bleibt ausgeschlossen.
Die vorausgehende Phantasieproduktion ist für Lernprozesse nach wie vor zentral. Aber sie ist materiell und gegenständlich gebunden. Ich teile nicht die Aussage: Die Welt besteht aus Simulakra. In konkreten Lebenszusammenhängen bricht dieser Schein zusammen und die Menschen werden konfrontiert mit einer gegenständlichen Welt, die ihnen vielleicht fremd erscheint, weil ihnen das Fernsehen so nah und vertraut geworden ist, aber die Täuschungen verfliegen wie Traumgebilde.
Der Bildungsprozess ist auf gegenständliche Arbeit abgestellt, für die das Medium der Phantasie, wenn sie zugleich produktiv und Gemeinwesen fördernd sein soll, nach wie vor zentral ist.
Insofern gibt es ein postmodernes "Geschichte und Eigensinn". Als wir damals dieses Buch schrieben, hatten wir noch keine Ahnung von der postmodernen Bewegung. Ich bin gespannt, wie die Postmoderne reagiert, wenn das Buch in einigen Monaten im Suhrkamp Verlag wiederaufgelegt wird. Von einigen Postmodernen wird es bereits als ein postmodernes Frühwerk erkannt. Aber wir halten strikt einen systematischen Zusammenhang im Buch.
"Geschichte und Eigensinn" hatte ja sehr viele Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten mit dem "Anti-Ödipus" und den "Mille Plateaux" von Deleuze/Guattari, aber auch mit Foucaults "Mikrophysik der Macht".
Oskar Negt: Natürlich! Ja!
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