Vegas, virtuelle Stadt
Seite 3: Realmontagen
Drei Kamelreiter im Abenddunst vor der gewaltigen Pyramide von Gizeh, darüber das Logo des angesehenen Magazins National Geographic: Das Ergebnis war 1982, in der Steinzeit der Computergrafik, ein wunderbares, phantasmatisches Cover. Leider nur zeigte es seine beiden zentralen Bildinhalte - die Pyramide und die Reiter - in einem perspektivischen Verhältnis, das in der analogen Wirklichkeit nicht herstellbar ist. Für Puristen, die noch an den dokumentarischen Charakter der Fotografie glaubten, kam so etwas einer Fälschung gleich. Dabei hatte sich bereits der Fotograf alle Mühe gegeben, der ägyptischen Realität ein wenig mehr Schönheit einzuhauchen. Er hatte ein extremes Teleobjektiv verwendet, um die Größe der Pyramiden zu übertreiben, und er hatte die drei Kamelreiter dazu gebracht, in den richtigen Bildausschnitt zu reiten. Doch am Ende hatte er ein Querformat geschossen, wie es für Doppelseiten geeignet ist, und Titelblätter von Magazinen sind nun einmal hochkant. Weshalb die Redaktion, um Platz für das Magazin-Logo zu schaffen, die Distanzen auf dem Foto per Computer ändern ließ - und damit, als einige scharfe Augen die Manipulation entdeckten, einen Sturm der Entrüstung auslöste.
Es war der erste in einer langen Reihe von Skandalen um digitale Bildbearbeitungen. Was aber, wenn die Computerkünstler neben die Pyramide, sagen wir, die Freiheitsstatue und den Kampanile gezaubert hätten? Ein solcher Eingriff wäre kaum als Fälschungsversuch, sondern als künstlerisches Experiment eingestuft worden. Heute, da digitale Montagen sich auf jedem Heimcomputer bewerkstelligen lassen, sind fantastische Bildmanipulationen dieser Art inflationär und mit kommerziellen Programmen auch in 3-D-Welten auszuführen. Für den Realismus der dabei entstehenden Datenräume ist es irrelevant, ob es sich bei den fotografischen Vorlagen um dokumentarische Bilder oder um Produkte einer "synthetischen Integration" handelt, wie die digitale Montage derweil euphemistisch heißt. Jedem, der sich ein wenig mit dem PC auskennt, ist materielle Wirklichkeit somit in ihrer fotorealistischen Reproduktion gänzlich elastisch geworden. Diese neue Erfahrung der digitalen Epoche, im Computer Realitätsfragmente problem- und nahtlos neu gruppieren zu können, musste irgendwann auch außerhalb des Datenraums ästhetische Konsequenzen zeitigen.
Am Las Vegas Boulevard lassen sie sich besichtigen. Da ist etwa von weitem über dem dichten Verkehr der 96 Meter hohe Kampanile zu erkennen, samt geflügeltem Löwen und Erzengel Gabriel. Kommt man näher, schwanken in der grellen Wüstensonne an rotweiß gestreiften Molen schwarze Gondeln. Der Canale Grande verläuft entlang einer Piazza, die auf der einen Seite vom Strip und auf den anderen von venezianischen "Klassikern" begrenzt wird, vom gothischen Ca' d'Oro, von Desdemonas Palazzo Contarini und natürlich vom Dogenpalast. Wer das Venetian rein optisch wahrnimmt, erkennt sofort: Diese kondensierte Venedig-Version verhält sich zum italienischen Original wie das National-Geographic-Cover zur unzulänglichen ägyptischen Realität. Beide verändern die jeweilige Vorlage unter ästhetischen wie praktischen Gesichtspunkten und produzieren so eine zweite, verbesserte Realität, eine Über-Wirklichkeit.
Der entscheidende Unterschied natürlich besteht darin, dass es sich beim Venetian nicht um eine Bild-, sondern um eine Realmontage handelt. Die visuelle Illusion wurde Architektur. Anders als Fotos und anders auch als heute noch virtuelle 3-D-Welten kann dieses Kunst-Venedig vom Betrachter betreten und mit allen fünf Sinnen erlebt werden. Die Realmontage nimmt so im materiellen Raum Erfahrungen vorweg, die sich als virtuelle Realität allererst ankündigen. Die Nähe der aktuellen Las-Vegas-Architektur zu Datenwelten ist denn auch gelegentlich beobachtet worden. Ein amerikanischer Kritiker sprach - in Zusammenhang mit dem Luxor - von "Cyberhistorie". Ein anderer von der "Ausstellung einer virtuellen Kultur in ihrer spektakulärsten Form". Er meinte die inszenierte Fremont Street Experience und ihre Affinität zu ebenso sorgfältig programmierten virtual-reality-Welten.
Die Digitalisierung der Stadtlandschaft
Ein Baldachin, einen halben Kilometer lang und 27 Meter hoch, überspannt die Fremont Street, den alten glitter gulch in Downtown Las Vegas. Im künstlichen Himmelszelt leuchten 211 Millionen Lichter. Sie und das 540 000 Watt-Soundsystem werden von 121 Computern gesteuert. Jede Nacht lockt die High-Tech-Lichtshow 25 000 Schaulustige an und viele von ihnen dann in die Fremont-Kasinos, die für das Gratisspektakel aufkommen. Initiiert hat auch diese Las-Vegas-Variante der Innenstadterneuerung Steve Wynn, um seinem Golden Nuggett-Kasino zu mehr Geschäft zu verhelfen; realisiert hat sie Jon Jerde, der hervorragendste Vertreter der neuen Entertainment-Architektur.
Der Baldachin ist Jerdes Markenzeichen. Mit ihm pflegt er historische, also weitgehend ungeplant entstandene Straßenzeilen als stilistische Einheit zu inszenieren, als Quasi-Innenräume. Die Fremont Street Experience besteht so wesentlich darin, dass eine zuvor öffentliche Innenstadtstraße nach dem Modell von Malls in eine halböffentliche, zentral verwaltete und ästhetisch unifizierte Zone verwandelt wurde. Entscheidend für den Erfolg des Unternehmens war allerdings das organisierte Unterhaltungsangebot. Der öffentliche Raum, der dem Transit diente, wandelte sich zu einer Art Veranstaltungssaal, einem - in den Worten der Las-Vegas-Werbung - "linearen urbanen Theater für Fußgänger entlang der vertrauten Ikonen der Stadt und in ihrem historischen Herzen".
Ohne den Einsatz ganzer Batterien von Computern wäre ein tägliches Spektakel wie die Fremont Street Experience nicht denkbar. Digital fundiert ist sie aber nicht nur technisch, sondern auch ästhetisch. Sie "kreiert ein immersives Environment in dem das Virtuelle real und das Reale virtuell wird", urteilt Mark C. Taylor: "Die Glittergosse wurde ... in etwas transformiert, das genaugenommen ein gigantischer Computerterminal oder eine virtual-reality-Maschine ist. ... Beim Schlendern erfährt man die zeitige Zeitlosigkeit, die im Computer herrscht."
Technischem, ökonomischem und politischem Wandel entsprach die Baukunst stets; in der Schaffung neuer, oft stilbildender Gebäudearten - Bank, Börse, Behörde, Bahnhof, Mietskaserne, Flughafen, Supermarkt, Einkaufszentrum -, aber ebenso in der funktionalen und ästhetischen Modifikation existierender Formen. Die nachhaltigen sozialen Veränderungen der Gegenwart manifestieren sich jedoch nur noch begrenzt materiell. Waren etwa zu analogen Zeiten Verlagerungen in der Art der Abwicklung von Finanzgeschäften oder in den Unterhaltungsinteressen der Massen am Publikums- oder Transportverkehr abzulesen und durch entsprechende bauliche und städtebauliche Maßnahmen zu kanalisieren, so hat solcher Wandel zu digitalen Zeiten allenfalls begrenzte Folgen im öffentlichen Raum. In dem Maße, in dem sich soziale Aktivitäten in den Cyberspace verlegen, übernimmt er wesentliche Funktionen der Architektur - und gewinnt so funktionalen und vor allem stilbildenden Einfluß auch auf die steinernen Neubauten, die weiterhin dem Alltagsleben materielle Gestalt geben.
Für die historisch anstehende Verschmelzung von Architektur und Stadtplanung mit dem Infodesign der virtuellen Strukturen, simulierten Räume und semiologischen Systemen, die zunehmend die materielle Realität überlagern, hat sich der Begriff Elektrotektur eingebürgert. Sie reagiert auf die zunehmende Allgegenwart digitaler Informationen, auf ihr Eindringen in die öffentlichen Räume der Städte, wie es sich in Internet-Handys, in vernetzten Automobilen und vor allem in Softwear ankündigt. Solche Computer, die sich am Körper tragen lassen - die ersten Normalverbraucher-Wearables hat IBM für dieses Jahr angekündigt -, sind mehr als ein Mittel zur Steigerung von Effizienz. Sie stellen einen kulturgeschichtlichen Meilenstein dar, einen Entwicklungssprung zur Integration des Homo sapiens ins neue digitale Medium. Denn Wearables ermöglichen nicht nur unsere permanente Vernetzung. Sie erlauben die Schaffung von augmented realities, die Medialisierung und virtuelle Verbesserung der Realität selbst: ihre Überlagerung mit Informationen, etwa mit Gebrauchsanweisungen, Bestandslisten, geographischen Orientierungshilfen, aktuellen Nachrichten zum jeweiligen Realitätsausschnitt - Wetter, Verkehrssituation, Sicherheitslage - oder natürlich Werbung.
Eine solche Aufbesserung der Wirklichkeit durchs digitale Medium wird gegenwärtig in zahlreichen wissenschaftlichen Experimenten erforscht. Erste avantgardistische Verschmelzungen von medialer und materieller Wirklichkeit bieten auch schon Werke der High-Tech-Kunst. Mit telematischen Installationen und immersiven Umwelten versuchen sie, Daten- und Realraum zu integrieren und Wahrnehmungsbrücken zwischen realer und virtueller Welt zu schlagen. Die Parallelen zwischen diesen vielfältigen Anstrengungen - in der universitären und industriellen Forschung, in der Hypertextliteratur, in der CyberArt, in zahllosen Online-Unterhaltungen - und eben den Entwicklungen avancierter High-Tech-Illusionsarchitektur nach dem Muster von Fremont Street und Venetian fallen ins Auge. Gemeinsam ist ihnen der Versuch, Techniken totaler Immersion zu entwickeln und damit Realität wie Virtualität zu entgrenzen.