Venezuela: Revolte der Ausgeschlossenen
Seite 2: Die radikalen 20 Prozent
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Dementsprechend muss Henrique Capriles, der aktuell als Gouverneur den Bundesstaat Miranda regiert, die aktuelle Mobilisierung des disparaten Teils der Opposition wie ein alptraumhaftes Déjà-vu erscheinen. Einerseits kann er die Einheit der Opposition nicht riskieren. Aktuell besteht das Bündnis aus 29 Parteien, von denen keine einzige eine landesweit arbeitsfähige Struktur aufweisen kann. Also muss er gute Mine zum bösen Spiel machen. Andererseits ist ihm, wie jedem halbwegs rational denkenden Venezolaner klar, dass hier nicht "die Jugend", ja nicht einmal "die Studenten" auf der Straße sind, sondern nur ein kleiner aber sehr meinungsstarker Teil aus diesen Bevölkerungsgruppen.
Eine ungefähre Tendenz der tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse erfasste kürzlich eine landesweite Untersuchung des Instituts GIS XXI. Fast 80 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren sind an einer Schule oder Hochschule eingeschrieben. Genau so viele kommen aus Familien der beiden unteren Einkommensschichten C und D. Fast drei Viertel der venezolanischen Jugendlichen halten das aktuelle politische System der partizipativen Demokratie für das bestmögliche und glatte 60 Prozent betrachten den Sozialismus als bestes Wirtschaftssystem.
Insgesamt geben diese Zahlen recht deutlich die Ergebnisse der chavistischen Sozialpolitik wieder. Bei der Frage nach den wichtigsten Problemen des Landes spielen die klassischen Armutsthemen Lateinamerikas - Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnen und öffentliche Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung - unter Jugendlichen praktisch keine Rolle mehr. Stattdessen werden die Kriminalitätsentwicklung (23 Prozent), die steigenden Lebenshaltungskosten (20 Prozent) und Probleme bei der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs (16 Prozent) genannt, aber selbst hier zeichnet sich kein eindeutiges Großthema für die Opposition ab. Gerade bei ihrem wichtigsten Thema, der seit Jahrzehnten zunehmenden Gewaltkriminalität, steht die Argumentation der Opposition zudem auf äußerst wackligen Füßen, denn die höchsten Kriminalitätsraten verzeichnet das Land in den von der Opposition regierten Bundesstaaten Miranda, Táchira, Zulia und Mérida, wo sie selber für die skandalöse Ineffizienz der Polizeibehörden und der Staatsanwaltschaften verantwortlich ist.
Das heißt allerdings nicht, dass die chavistische Politik nicht auch Verlierer produzieren würde. Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes haben die reichsten 20 Prozent des Landes im vergangenen Jahrzehnt etwa zehn Prozent ihrer Einkommen verloren. Gleichzeitig sind die Löhne der vier unteren Einkommensschichten anteilig jeweils um zwei bis drei Prozentpunkte gestiegen.
Noch viel schmerzhafter als diese gesellschaftliche Umverteilung dürfte die Angehörigen der ehemaligen Elite jedoch treffen, dass sie aus den politischen Institutionen des Landes konsequent ausgegrenzt werden. Um einem Matthäus-Effekt vorzubeugen, demzufolge den Reichen gegeben und den Armen genommen wird, hatte Hugo Chávez beim Aufbau neuer politischer Institutionen kompromisslos auf Personal aus seiner sozialen Basis gesetzt. Diese Proletarisierung des öffentlichen Lebens stellt für die venezolanische Oberschicht nicht nur eine unvorstellbare kulturelle Erniedrigung dar, sie verbaut ihrem Nachwuchs auch jede Zukunftsperspektive in einem Land, in dem wirtschaftliche Perspektiven fast ausschließlich von der Kontrolle über die Ölmilliarden abhängen.
Krisensymptome im Chavismus
Die teilweise verzweifelten Töne der aktuellen Proteste dürften ihre Ursachen denn auch darin haben, dass ein Teil der Opposition nach 15 Jahren Chavismus die Geduld verliert. Bei den letzten Kommunalwahlen schnitten ihre Repräsentanten erneut äußerst schlecht ab - 70 Prozent der Rathäuser gingen an die Sozialisten der PSUV - und bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen sind es noch fünf lange Jahre.
Bereits nach ihrer letzten Niederlage im April 2013 setzte die Opposition auf gewalttätige Proteste, damals noch mit der ausdrücklichen Unterstützung von Henrique Capriles, der behauptete, Nicólas Maduro und die PSUV hätten das Wahlergebnis gefälscht. Nachdem der Nationale Wahlrat dem Druck der Straße nachgab und eine komplette Neuauszählung der Stimmen zugestand, lösten sich die Vorwürfe in Luft auf. Zurück blieben zehn Tote, ausnahmslos aus dem Regierungslager.
Inzwischen, fast ein Jahr später, hat sich die Situation in Venezuela jedoch deutlich verändert. Insbesondere das Thema Währungs- und Finanzpolitik ist der Regierung scheinbar komplett entglitten. Die Kehrseite der Umverteilungspolitik ist eine dramatische Inflationsrate. Die erhöhte Geldmenge wird nicht ausreichend in produktive Strukturen investiert, sondern durch den privaten Groß- und Einzelhandel in Form von andauernden Preiserhöhungen abgesaugt. Da diese Gewinne in der Landeswährung schnell an Wert verlieren, versuchen die privaten Unternehmer das Geld auf dem schwarzen Markt möglichst in ausländische Währungen, mit Vorliebe in Dollar, umzutauschen. So haben der private Einzelhandel und der Devisenschwarzmarkt die Inflationsrate im vergangenen Jahr auf 56 Prozent getrieben. Dies ist der schlechteste Wert seit Amtsantritt der Regierung Chávez im Jahr 1998 und geht deutlich auf Kosten der Kaufkraft der venezolanischen Bevölkerung.
Und ein weiteres Problem zeichnet sich deutlich ab. Der Chávez-Nachfolger Nicólas Maduro besitzt nicht annähernd das öffentlichkeitswirksame Geschick seines Vorgängers. Während Hugo Chávez sich einmal die Woche mehrere Stunden Zeit nahm, Grundsätzliches und Tagespolitisches vor laufenden Kameras zu erläutern und damit der Opposition regelmäßig den Wind aus den Segeln nahm, fällt Nicólas Maduro bisher vor allem durch ungeschicktes Reagieren auf. Auch in der aktuellen Krise, bei der er die Regierungsgegner pauschal als "faschistische Banditen" abqualifiziert, gab Maduro bisher keine überzeugende Figur ab. Und so warnen inzwischen auch ausgewiesene Unterstützer der Chavismus wie der Schriftsteller Ronaldo Muñoz: "Dass die Rechte mit allen Mitteln versucht, die Regierung zu stürzen, ist nicht neu. Dass sie dafür Unterstützung erhält, liegt auch an Fehlern der Regierung."