Venezuela: Revolte der Ausgeschlossenen

Von der Umverteilung sind vor allem die Reichen betroffen, unter der hohen Inflation leiden vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten

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Seit Wochen erschüttert eine neue Welle von Protesten Venezuela. Sie treffen das Land in einer schwierigen wirtschaftspolitischen Situation. Insbesondere Jugendliche aus Haushalten mit hohen Einkommen scheinen in dem ölreichen Land immer weniger Perspektiven zu sehen. Zwar gelang es der Opposition am vergangenen Wochenende in Caracas erneut tausende Anhänger zu mobilisieren. Bei der Mehrheit der Proteste handelt es sich jedoch um kleinere, dezentrale Aktionen, so genannte Guarimbas, die häufig geradezu auf Konfrontationen mit der Staatsmacht angelegt sind.

Demonstration der Regierungsgegner am letzten Samstag in Caracas. Bild

Bisher verstärken sich die Proteste vor allem durch das Prinzip Eskalation-Repression. Seit dem 12. Februar kamen bereits elf Menschen ums Leben, welche die Opposition pauschal als Opfer von Polizeirepressionen behandelt. Nach den ersten Ermittlungsergebnissen stellt sich die Lage jedoch komplizierter dar.

So wurden die ersten drei Toten in Caracas vom 12. Februar, darunter auch ein bekannter Unterstützer der Regierung, laut ballistischen Untersuchungen scheinbar mit derselben Waffe getötet. Die in Valencia erschossene Miss Turismo, Génesis Carmona - ihr Fall ging international durch die Presse - starb nach Angaben der Staatsanwaltschaft an einem "Schuss in den Rücken aus den eigenen Reihen".

Drei weitere Tote stammen aus den Reihen des Chavismus. In einem Fall wurde ein Regierungsanhänger erschossen, als er versuchte, eine von Demonstranten errichtete Barrikade zu räumen. Ein Motorradfahrer wurde durch ein an einer Barrikade gespanntes Drahtseil regelrecht geköpft. In einem anderen Fall kam ein Staatsanwalt ums Leben, der mit seinem Fahrzeug eine Barrikade durchbrechen wollte und die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor. Unmittelbar durch Polizeigewalt wurden bisher zwei Demonstranten getötet.

Opposition uneins

Während die Aktionen auf der Straße eskalieren, warnt Henrique Capriles, Führer der Oppositionspartei Primero Justicia, die Anhänger anderer Strömungen der Opposition davor, die Auseinandersetzungen weiter zuzuspitzen. "Die Bedingungen, um jetzt einen politischen Wechsel zu erreichen, liegen nicht vor, wenn du so viele Leute gegen dich hast", so der zweimal unterlegene Präsidentschaftskandidat am Sonntag gegenüber der liberalen Tageszeitung El Universal. Die Opposition müsse zuerst die Mehrheit der Venezolaner in den Barrios, in den Armenvierteln der großen Städte, erreichen. Nur mit dieser sozialen Basis sei es möglich "die in der Verfassung garantierten Mechanismen zu Ablösung der Regierung zu aktivieren".

Mit diesem Hinweis versucht der ehemalige Shooting Star des chronisch zerstrittenen Oppositionslagers seine Kameraden zurück auf einen legalen politischen Weg zu führen. Die einzige gesetzlich vorgesehene Möglichkeit, den amtierenden Präsidenten vorzeitig abzulösen, liegt in einer Volksabstimmung. Ein solches Referendum ermöglicht die venezolanische Verfassung zur Hälfte der Amtszeit eines jeden gewählten Repräsentanten - im Falle von Nicólas Maduro wäre das der Dezember 2015. Bisher kostete dieser Mechanismus zur direkten Beteiligung allerdings nur Gouverneure aus dem Lager der Opposition vorzeitig das Amt.

Aktuelle Zahlen des privaten Meinungsforschungsinstituts Hinterlaces bestätigen Henrique Capriles in seiner Strategie. Nicht einmal ein Viertel der Venezolaner halten die Straßenproteste für sinnvoll oder glauben, dass die Ablösung von Präsident Nicolas Maduro irgendwelche Verbesserungen bringen würde. Dagegen würden fast 30 Prozent empfehlen, ein Referendum zur Abberufung abzuwarten und die ganz überwiegende Mehrheit des Landes, nämlich fast drei Viertel der Befragten, ist der Auffassung, dass eine solche Entscheidung grundsätzlich nur auf dem Weg der Wahlen getroffen werden sollte.

Diese Zahlen zeigen einmal mehr, dass die Venezolaner nicht nur grundsätzlich demokratische Lösungsformen bevorzugen, sondern auch - anders als die meisten Lateinamerikaner - ein vergleichsweise hohes Vertrauen in ihre politischen Institutionen haben.

Rückfall in die Vergangenheit der Opposition

Ihren Ausgangspunkt nahmen die Demonstrationen Anfang Februar in den westlichen Bundesstaaten Táchira, Zulia und Mérida. Hier - im sprichwörtlichen "Wilden Westen" - liegen einerseits die historischen Hochburgen der Oppositionsparteien Un Nuevo Tiempo (Sozialdemokraten) und COPEI (Christdemokraten), deren Politiker Venezuela bis zum Wahlsieg von Hugo Chávez systematisch heruntergewirtschaftet hatten.

Während die Chavisten in den meisten der 23 Bundesstaaten frühzeitig die Gouverneursposten gewannen, regierte im Westen weiter die alte politische Elite. Gleichzeitig lebt die Region mehr als jede andere vom Schmuggel zwischen Kolumbien und Venezuela. Alle Güter des täglichen Bedarfs, welche in Venezuela hoch subventioniert und preisgebunden sind - Treibstoff und Lebensmittel - werden im großen Maßstab nach Kolumbien verbracht. Auf dem Rückweg gelangt Kolumbiens wichtigstes Exportgut, das Kokain, über die Anden nach Venezuela, um von hier aus in die Abnehmerregionen USA und Europa verfrachtet zu werden.

Anfang des Jahres startete die Bundesregierung eine Offensive gegen die De-facto-Mächte in der Region, eine gefährliche Melange aus Schmugglern, kolumbianischen Paramilitärs, Nationalgarde und lokalen Eliten. Dabei kam der Chávez-Partei PSUV zugute, dass bei den Regionalwahlen im Dezember 2012 erstmals ein Regierungswechsel in der Region erreicht werden konnte. Dass Táchira und Zulia seitdem sozialistische Gouverneure haben, sagt aber noch nichts über die tatsächlichen Machtverhältnisse aus, denn große Teile des Staatsapparats, inklusive Staatsanwaltschaften und Polizei, bestehen weiter aus Anhängern Opposition.

Die kann darüber hinaus auf eine militante Studentenbewegung an den Hochschulen der Region setzen. Von hier aus begann die aktuelle Protestwelle mit Unterstützung von oppositionellen Bürgermeistern. Studentische Aktivisten errichteten Barrikaden in den Stadtzentren, attackierten Polizeiposten und öffentliche Gebäude. Bei einem Angriff mit Molotowcocktails auf den Regierungssitz des PSUV-Gouverneurs in Táchira, Vielma Mora, wurden neun Studenten verhaftet.

Erst am 12. Februar, dem "Tag der venezolanischen Jugend", weiteten die Aktionen sich landesweit auf andere Hochburgen der Opposition wie Valencia und die Oberschichtsviertel der Hauptstadt Caracas aus. Seitdem unterstützt ein Teil des Oppositionsbündnisses "Tisch der demokratischen Einheit" die Proteste. Insbesondere die Enfants terribles des Oppositionslagers, Maria Corina Machado und Leopoldo López, greifen dabei auf die historischen Parolen des Oppositionslagers zurück. Das Land befinde sich im Griff einer "Castro-kommunistischen Diktatur", das politische System sei eine "Tyrannei", die jetzt gestürzt werden müsse. Mit diesen Parolen hatte das Oppositionslager gegen den Chavismus mobilisiert und war damit regelmäßig grandios gescheitert.

Erst als Henrique Capriles vor den Präsidentschaftswahlen 2012 einen rhetorischen Komplett-Umschwung einleitete und begann, das chavistische Programm zu kopieren, konnte das Oppositionslager wieder Gewinne verzeichnen. Das wichtigste Merkmal seiner Politik ist seitdem, dass er die Sozialpolitik des Chavismus nicht mehr grundsätzlich ablehnt, sondern verspricht, sie besser und effizienter umzusetzen (Der Kampf um Venezuelas Präsidentschaft wird international geführt). Mit diesem "sozialdemokratischen Chavismus" erreichte Capriles bei den letzten Wahlen fast die Hälfte der abgegebenen Stimmen (Venezuela: Sozialist Maduro gewinnt nur knapp).

Die radikalen 20 Prozent

Dementsprechend muss Henrique Capriles, der aktuell als Gouverneur den Bundesstaat Miranda regiert, die aktuelle Mobilisierung des disparaten Teils der Opposition wie ein alptraumhaftes Déjà-vu erscheinen. Einerseits kann er die Einheit der Opposition nicht riskieren. Aktuell besteht das Bündnis aus 29 Parteien, von denen keine einzige eine landesweit arbeitsfähige Struktur aufweisen kann. Also muss er gute Mine zum bösen Spiel machen. Andererseits ist ihm, wie jedem halbwegs rational denkenden Venezolaner klar, dass hier nicht "die Jugend", ja nicht einmal "die Studenten" auf der Straße sind, sondern nur ein kleiner aber sehr meinungsstarker Teil aus diesen Bevölkerungsgruppen.

Eine ungefähre Tendenz der tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse erfasste kürzlich eine landesweite Untersuchung des Instituts GIS XXI. Fast 80 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren sind an einer Schule oder Hochschule eingeschrieben. Genau so viele kommen aus Familien der beiden unteren Einkommensschichten C und D. Fast drei Viertel der venezolanischen Jugendlichen halten das aktuelle politische System der partizipativen Demokratie für das bestmögliche und glatte 60 Prozent betrachten den Sozialismus als bestes Wirtschaftssystem.

Insgesamt geben diese Zahlen recht deutlich die Ergebnisse der chavistischen Sozialpolitik wieder. Bei der Frage nach den wichtigsten Problemen des Landes spielen die klassischen Armutsthemen Lateinamerikas - Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnen und öffentliche Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung - unter Jugendlichen praktisch keine Rolle mehr. Stattdessen werden die Kriminalitätsentwicklung (23 Prozent), die steigenden Lebenshaltungskosten (20 Prozent) und Probleme bei der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs (16 Prozent) genannt, aber selbst hier zeichnet sich kein eindeutiges Großthema für die Opposition ab. Gerade bei ihrem wichtigsten Thema, der seit Jahrzehnten zunehmenden Gewaltkriminalität, steht die Argumentation der Opposition zudem auf äußerst wackligen Füßen, denn die höchsten Kriminalitätsraten verzeichnet das Land in den von der Opposition regierten Bundesstaaten Miranda, Táchira, Zulia und Mérida, wo sie selber für die skandalöse Ineffizienz der Polizeibehörden und der Staatsanwaltschaften verantwortlich ist.

Das heißt allerdings nicht, dass die chavistische Politik nicht auch Verlierer produzieren würde. Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes haben die reichsten 20 Prozent des Landes im vergangenen Jahrzehnt etwa zehn Prozent ihrer Einkommen verloren. Gleichzeitig sind die Löhne der vier unteren Einkommensschichten anteilig jeweils um zwei bis drei Prozentpunkte gestiegen.

Noch viel schmerzhafter als diese gesellschaftliche Umverteilung dürfte die Angehörigen der ehemaligen Elite jedoch treffen, dass sie aus den politischen Institutionen des Landes konsequent ausgegrenzt werden. Um einem Matthäus-Effekt vorzubeugen, demzufolge den Reichen gegeben und den Armen genommen wird, hatte Hugo Chávez beim Aufbau neuer politischer Institutionen kompromisslos auf Personal aus seiner sozialen Basis gesetzt. Diese Proletarisierung des öffentlichen Lebens stellt für die venezolanische Oberschicht nicht nur eine unvorstellbare kulturelle Erniedrigung dar, sie verbaut ihrem Nachwuchs auch jede Zukunftsperspektive in einem Land, in dem wirtschaftliche Perspektiven fast ausschließlich von der Kontrolle über die Ölmilliarden abhängen.

Krisensymptome im Chavismus

Die teilweise verzweifelten Töne der aktuellen Proteste dürften ihre Ursachen denn auch darin haben, dass ein Teil der Opposition nach 15 Jahren Chavismus die Geduld verliert. Bei den letzten Kommunalwahlen schnitten ihre Repräsentanten erneut äußerst schlecht ab - 70 Prozent der Rathäuser gingen an die Sozialisten der PSUV - und bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen sind es noch fünf lange Jahre.

Bereits nach ihrer letzten Niederlage im April 2013 setzte die Opposition auf gewalttätige Proteste, damals noch mit der ausdrücklichen Unterstützung von Henrique Capriles, der behauptete, Nicólas Maduro und die PSUV hätten das Wahlergebnis gefälscht. Nachdem der Nationale Wahlrat dem Druck der Straße nachgab und eine komplette Neuauszählung der Stimmen zugestand, lösten sich die Vorwürfe in Luft auf. Zurück blieben zehn Tote, ausnahmslos aus dem Regierungslager.

Inzwischen, fast ein Jahr später, hat sich die Situation in Venezuela jedoch deutlich verändert. Insbesondere das Thema Währungs- und Finanzpolitik ist der Regierung scheinbar komplett entglitten. Die Kehrseite der Umverteilungspolitik ist eine dramatische Inflationsrate. Die erhöhte Geldmenge wird nicht ausreichend in produktive Strukturen investiert, sondern durch den privaten Groß- und Einzelhandel in Form von andauernden Preiserhöhungen abgesaugt. Da diese Gewinne in der Landeswährung schnell an Wert verlieren, versuchen die privaten Unternehmer das Geld auf dem schwarzen Markt möglichst in ausländische Währungen, mit Vorliebe in Dollar, umzutauschen. So haben der private Einzelhandel und der Devisenschwarzmarkt die Inflationsrate im vergangenen Jahr auf 56 Prozent getrieben. Dies ist der schlechteste Wert seit Amtsantritt der Regierung Chávez im Jahr 1998 und geht deutlich auf Kosten der Kaufkraft der venezolanischen Bevölkerung.

Und ein weiteres Problem zeichnet sich deutlich ab. Der Chávez-Nachfolger Nicólas Maduro besitzt nicht annähernd das öffentlichkeitswirksame Geschick seines Vorgängers. Während Hugo Chávez sich einmal die Woche mehrere Stunden Zeit nahm, Grundsätzliches und Tagespolitisches vor laufenden Kameras zu erläutern und damit der Opposition regelmäßig den Wind aus den Segeln nahm, fällt Nicólas Maduro bisher vor allem durch ungeschicktes Reagieren auf. Auch in der aktuellen Krise, bei der er die Regierungsgegner pauschal als "faschistische Banditen" abqualifiziert, gab Maduro bisher keine überzeugende Figur ab. Und so warnen inzwischen auch ausgewiesene Unterstützer der Chavismus wie der Schriftsteller Ronaldo Muñoz: "Dass die Rechte mit allen Mitteln versucht, die Regierung zu stürzen, ist nicht neu. Dass sie dafür Unterstützung erhält, liegt auch an Fehlern der Regierung."