Venezuelas Problempräsident

Juan Guaidó schreibt zum Foto, das ihn und seine Anhänger nach dem Eindringen ins Parlament zeigt: #100diputados

Westliche Staaten und ihre Verbündeten haben sich mit der Parteinahme für den selbsternannten Interimspräsidenten Guaidó in eine Sackgasse manövriert

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Der Kampf um die Kontrolle des Parlaments in Venezuela ist an Absurdität kaum mehr zu überbieten. Nachdem der Regierungsgegner Juan Guaidó vor einem Jahr zum Präsidenten der seit 2015 oppositionell dominierten Nationalversammlung gewählt wurde (Putschversuch in Venezuela), verhinderten Kontrahenten aus den eigenen Reihen gemeinsam mit der Regierungsfraktion nun seine Wiederwahl. Guaidó ließ sich daraufhin bei einer provisorischen Abgeordnetenversammlung im Sitz einer regierungskritischen Tageszeitung für eine weitere Amtszeit bestätigen und gleich auch wieder zum Interimspräsidenten wählen, zu dem er sich Ende Januar vergangenen Jahres selbst erklärt hat ("Interimspräsident" in Venezuela bekommt Gegenwind).

Demokratisch oder auch nur nachvollziehbar ist das alles auf keiner Seite mehr. Auch die internationalen Unterstützer beider Seiten machen keine gute Figur. Nachgeben aber will niemand, denn beim Kampf um Venezuelas Nationalversammlung geht es schon lange nicht mehr um den Parlamentarismus. Es geht um Symbolpolitik, um Kräftemessen und um medienwirksame Bilder.

Guaidó selbst ist das beste Beispiel dafür. Am 23. Januar vergangenen Jahres, als das Land des Endes der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez gut sechs Jahrzehnte zuvor gedachte, erklärte sich der bis dahin weitgehend unbekannte Oppositionspolitiker bei einer Kundgebung in Caracas kurzerhand zum Interimspräsidenten - ohne Wahl und mit einer verfassungsrechtlich fragwürdigen Begründung. Die Selbstinthronisierung stößt seither auch in den Reihen der Regierungsgegner auf wachsende Kritik.

Dennoch muss Guaidó an dem Konstrukt festhalten. Sollte er das Amt des Parlamentspräsidenten verlieren, hätte er auch keine Begründung mehr, sich als "Interimspräsident" gegen Amtsinhaber Nicolás Maduro zu inszenieren und den Zugriff auf Millionenmittel aus den USA zu behalten. Daher hält er auf Biegen und Brechen an seiner Strategie fest, auch wenn er zuletzt kaum mehr Anhänger mobilisieren konnte.

Dem Chavismus ist es in dem Lagerkampf indes gelungen, eine Minderheitenfraktion der gemäßigten Opposition auf seine Seite zu ziehen. Ein Coup, zweifelsohne, wenn auch politisch fragwürdig: Gegen einige der Oppositionellen, die sich nun im Zweckbündnis mit dem Chavismus gegen Guaidó gestellt haben, werden Korruptionsvorwürfe erhoben.

Zwei Parlamente, kein Parlamentarismus

Die Lage ist in der Tat kompliziert. Und beim Blick auf die Ereignisse im Parlament vor einigen Tagen wird es nicht einfacher. Tatsächlich ist bislang nicht zweifelsfrei erklärbar, was am vergangenen Sonntag geschah, als die Nationalversammlung gemäß Artikel 219 der Verfassung zu ihrer ersten Sitzung im Parlament zusammenkam.

Guaidó behauptete, er und weitere Mitstreiter seien ausgesperrt worden, um seinen Widersacher Luis Parra von der rechtskonservativen Partei Zuerst Gerechtigkeit (Primero Justicia) den Weg zu ebnen. Maduro "ließ Guaidó und einer ganzen Reihe von Oppositionspolitikern am Sonntag schlicht den Zugang zum Parlament versperren", behauptete das deutsche Nachrichtenmagazin Spiegel, zahlreiche andere Medien und auch die Bundesregierung. Sie alle tappten damit willfährig in eine Propagandafalle des selbsternannten Interimspräsidenten.

Tatsächlich war die vermeintliche Aussperrung eine inszeniert Fake-News. Sei es, weil es zuletzt still um Guaidó geworden ist; sei es, weil er sich seiner Wiederwahl nicht sicher war und einen Befreiungsschlag brauchte. Fakt ist, dass Videos klar zeigen, dass er in das Parlament hätte gehen können, die Teilnahme an der Sitzung aber verweigerte. Stattdessen bestand er darauf, mit einem Abgeordneten, dessen Mandat suspendiert worden war, in den Plenarsaal zu gehen. Drinnen befanden sich nach Angaben des neuen Parlamentspräsidiums 151 der 167 Abgeordneten, was auch der Guaidó-Mitstreiter Williams Dávila bestätigte. Das notwendige Quorum war damit nach Artikel 221 der Verfassung gegeben, für die Wahl eines neuen Präsidenten und seiner Stellvertreter waren 76 Stimmen nötig.

Auf Parra, einem windigen inneroppositionellen Kontrahenten von Guaidó, entfielen 81 Stimmen. Was keine der beiden Seiten erklären konnte: Wenn bei der improvisierten Parallelsitzung unter Guaidós Leitung später 100 Abgeordnete für ihn votierten, hätten mehrere Mandatsträger doppelt abgestimmt haben müssen; einmal für Parra und ein zweites Mal für Guaidó.

Wortmeldungen aus Washington und Moskau

Seither befindet sich Venezuelas Parlament in einem skurrilen Ausnahmezustand. Mitte der Woche tagte die Nationalversammlung mit Abgeordneten der regierungsnahen Minderheitenfraktion Großer Patriotischer Pol (Gran Polo Patriótico) unter Leitung von Parra. Als die Sitzung beendet war, stürmten Guaidó und seine Mitstreiter das Gebäude, während Parra eilig das Plenum verließ.

In dem dunklen Plenarsaal - das Licht war abgestellt worden - hielten sie eine weitere Sitzung ab, in deren Verlauf der bisherige Amtsinhaber erneut vereidigt wurde. Die Doppelsitzung zeigt: Die Maduro-Regierung sieht von einer gewaltsamen Konfrontation ab und setzt stattdessen auf die politische Schwächung des Guaidó-Lagers. Denn natürlich wäre es möglich gewesen, die Erstürmung des Parlaments durch den selbsternannten Interimspräsidenten zu verhindern. Guaidó wird nun - wo auch immer - ein Parlament tagen lassen, das ebenso wenig normative Macht hat wie er als Interimspräsident.

Zudem wird die Zukunft Venezuela schon lange nicht mehr im Parlament ausgehandelt, das im Machtkampf zerrieben wurde, sondern von den Anführern beider Lager und ihren Schutzmächten. Die US-Regierung drohte nach der Doppelwahl von Sonntag mit weiteren Sanktionen gegen die Regierung von Präsident Maduro. Washington werde die wirtschaftliche und diplomatische Hilfe für das Guaidó-Lager verstärken, hieß es von dieser Seite. "Die USA werden mehr unternehmen, um der Nationalversammlung und ihrer legitimen Führung durch verstärkten Druck gegen die Diktatur, ihre Führer und Verbündeten innerhalb und außerhalb Venezuelas zu helfen", sagte der US-Sondergesandte für Venezuela Elliott Abrams, der zugleich bekräftigte, dass das Guaidó-Lager und sein Parlament von den USA mitfinanziert wird: "Wir haben einige Mittel, die wir für die Nationalversammlung verwenden können". Im vergangenen September hatte die Trump-Regierung bereits 52 Millionen US-Dollar für die Unterstützung des selbsternannten Interimspräsidenten freigegeben.

Russland erklärte indes seine Unterstützung für die Wahl des neuen Präsidenten der Nationalversammlung. Mit der Wahl Parras sei Venezuela zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückgekehrt. "Wir betrachten die Wahl einer neuen Führung des Parlaments als Ergebnis eines legitimen demokratischen Prozesses, der die Rückkehr zur Verfassungsmäßigkeit begünstigt", hieß es in einer Stellungnahme des russischen Außenministeriums.

Wie Bundesregierung und EU versagen

Bei der zentralen demokratischen und außenpolitischen Herausforderung - einem notwendigen moderierten Ausgleich zwischen beiden Lagern und der Restrukturierung der institutionellen Ordnung - versagen Bundesregierung und EU gleichermaßen.

Der stellvertretende Sprecher des Auswärtigen Amtes, Rainer Breul, wiederholte in der Bundespressekonferenz unkritisch die Darstellung Guaidós, eine große Anzahl Abgeordneter sei am Betreten des Parlamentsgebäudes gehindert worden. Dies "führte dann in diesem Gebäude in großer Abwesenheit von Abgeordneten zu einer Sitzung, die so rechtsförmlich gar nicht stattfinden konnte".

Abgesehen davon, dass diese Darstellung inzwischen widerlegt ist, kann die Bundesregierung ebenso wenig wie die Europäische Union erklären, weshalb die parallele Tagung mit handverlesenen Abgeordneten im Sitz der Tageszeitung als legitim erachtet wird. Aus Brüssel hieß es jedenfalls, die EU erkenne Juan Guaidó weiterhin als rechtmäßigen Präsidenten der Nationalversammlung an.

Berlin und Brüssel handeln, so wird deutlich, nach dem Motto "Augen zu und durch". Denn Anerkennung und Agieren von Guaidó als Parlaments- und Interimspräsident ist demokratisch und verfassungsrechtlich immer weniger zu erklären.

  • Guaidó hätte laut venezolanischer Verfassung binnen 30 Tagen Neuwahlen ausrufen müssen.
  • Guaidó ist als Interimspräsident nie ordentlich gewählt worden.
  • Die Begründung einer "absoluten Abwesenheit im Amt" (Artikel 233) von Präsident Maduro war von Beginn an ein umstrittenes Konstrukt.
  • Die Bestätigung Guaidós als Parlaments- und Interimspräsident in der Redaktion der Tageszeitung El Nacional mit ausgewählten Abgeordneten ist kaum zu legitimieren.
  • Dieselben Oppositionellen und Unterstützer, die Guaidós Selbstproklamation ohne Wahl als legitim bezeichnet haben, weil es sich bei der notwendigen Wahl zum Interimspräsidenten im Parlament um eine "Formalie" handele, stellen nun die Wahl Parras zu Guaidós Nachfolger in Frage, weil die Sitzung nicht vom bisherigen Parlamentspräsidenten eröffnet wurde.
  • Mandatsträger der Legislative und politische Parteien dürfen nach Artikel 149 der Verfassung und Paragraph 25 des Parteiengesetzes ohne Erlaubnis des Parlaments nicht ohne weiteres Gelder aus dem Ausland annehmen.

Die zahlreichen Rechtsbeugungen und juristischen Winkelzüge zeigen, wie sehr sich die USA, die EU und rechtsgerichtete Staaten Lateinamerikas mit der Anerkennung Guaidós in eine Sackgasse manövriert haben. Ein Jahr nach der Selbsternennung Guaidós ist die Opposition gespaltener denn je. Bisher führende Parteien der Rechten wie Primero Justicia werden die Zerwürfnisse wohl nicht überleben, die politische und wirtschaftliche Krise hat sich verschärft. Was darauf hindeutet, dass es den Unterstützern von Guaidó - auch in Berlin - nicht um die Rückkehr zu bürgerlich-parlamentarischen Verhältnissen in Venezuela geht, sondern um einen Regimewechsel. Koste es, was es wolle.