Venezuelas "Reichsbürger" gegen die Verfassungsreform
Wahl von verfassunggebender Versammlung in Venezuela an diesem Sonntag. Opposition und Regierung setzen alles auf eine Karte
Vor der Wahl zur verfassunggebenden Versammlung in Venezuela ist die Lage angespannt. Die linksgerichtete Regierung unter Präsident Nicolás Maduro hält trotz massiver Kritik im Land und auf internationaler Ebene - vor allem aus den USA, der EU und rechtsgerichteten Staaten Lateinamerikas - an dem Vorhaben fest.
Das oppositionelle Parteienbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) setzt ebenfalls alles auf eine Karte: Die Regierungsgegner wollen die Verfassungsreform um jeden Preis verhindern. Ein Ergebnis: Im Zuge andauernder und kompromissloser Proteste seit Anfang April wurden bereits über 100 Menschen getötet, staatliche Institutionen angegriffen und Nahrungsmittel vernichtet. Dass die Opposition an dieser Strategie der Spannung festhalten kann, liegt vor allem an der Unterstützung aus dem Ausland - auch aus Berlin.
Mit der Verfassungsreform, der zweiten in der jüngsten Geschichte Venezuelas und unter den regierenden Linksnationalisten, will die Regierung Maduro eine Reihe sozialer Rechte im Grundgesetz verankern. Ein Mittel dazu sind reservierte Sitze für bestimmte soziale Gruppen. Die Opposition kritisiert dieses Vorgehen als undemokratisch und wirft der Regierung vor, die Macht zentralisieren zu wollen, mehr noch: Venezuela werde in eine Diktatur geführt.
Der so deklarierte "Kampf gegen die Diktatur" wirkt sich unmittelbar auf die Aktionsformen aus. Nach einer ersten Phase gewaltsamer Proteste Anfang 2014, bei denen Dutzende Menschen getötet wurden, sind nun erneut über 100 Todesopfer zu beklagen. Grund dafür ist mitnichten nur die Anwendung von Gewalt durch die Sicherheitskräfte, sondern vor allem auch ein zunehmend paramilitärisches Vorgehen der Demonstranten, die Straßenblockaden errichten und selbstgebaute Schusswaffen sowie Mörser verwenden.
Mehrere tatsächliche oder mutmaßliche Anhänger der Regierung wurden von vermummten Demonstranten lebendig angezündet, zuletzt traf diese Mordmethode Ende der Woche zwei Mitglieder der Armee. In der internationalen Presse spielt dieser Terrorismus von Teilen der Opposition bis auf wenige Ausnahmen keine Rolle.
Verfassungsreform und die Opposition
Die Warnungen vor einem Ende der Demokratie in Venezuela sind nach einem näheren Blick auf das Vorhaben am Sonntag nur noch schwer nachvollziehbar. Denn die Vertreter der verfassunggebenden Versammlung, die an diesem Sonntag gewählt werden, sollen keine neue Verfassung ausarbeiten, sondern die Reformverfassung von 1999 in Teilen überarbeiten. Das bedeutet, dass es sich nicht um eine "Neugründung des Staates" handelt, in deren Rahmen die klassischen Gewalten aufgelöst und neu konstituiert werden.
Die verfassunggebende Versammlung würde - anders als 1999 und bei entsprechenden Prozessen etwa in Bolivien oder Ecuador - parallel zu Judikative, Exekutive und Legislative bestehen. Das Gremium solle dazu beitragen, eine übergeordnete und demokratisch legitimierte Instanz zu schaffen, um den schweren institutionellen Konflikt und die politische Gewalt im Land zu überwinden, sagte der regierungsnahe Verfassungsrechtler Hermann Escarrá. Der Jurist spielt damit auf den schier unüberwindbaren Streit zwischen der Regierung Maduro und dem seit Ende 2015 oppositionell dominierten Parlament an.
Der Streit zwischen Legislative und Exekutive hatte sich seit dem Sieg der MUD-Parteien bei den Parlamentswahlen im Dezember stetig verschärft. Unmittelbar nach der Wahl hatten die Regierungskritiker versucht, die Macht des Präsidenten einzuschränken und ihn de facto abzusetzen. Die Regierung reagierte mit politischen Angriffen auf das Parlament, der Oberste Gerichtshof setzte wegen mutmaßlichen Wahlbetrugs drei Abgeordnete ab.
Der Konflikt hat sich seither soweit zugespitzt, dass die Opposition in der vergangenen Woche die Gründung einer Parallelregierung ankündigte und eigene Richter für einen "Obersten Gerichtshof" wählte. Unmittelbar vor der Wahl an diesem Sonntag mobilisierte die MUD-Allianz dem inzwischen zweiten Generalstreik und der "Einnahme von Caracas". Die Armee rief sie zum Widerstand gegen die Regierung auf.
Die deutsche Bundesregierung und Venezuelas "Reichsbürger"
Besonnene Stimmen gehen in dieser zugespitzten Lage schnell unter. Der Vatikan und die lateinamerikanische Regionalorganisation Celac versuchen seit Wochen, Gespräche zwischen den verfeindeten politischen Lagern zu ermöglichen. Eines der größten Hindernisse dabei ist die Einflussnahme aus dem Ausland.
Die USA, die Europäische Union und rechtsgerichteten Staaten Lateinamerikas stärken der Opposition zunehmend den Rücken, so auch die Bundesregierung. Nach einem zweifelhaften Referendum der Regierungsgegner, das in Organisation, Ablauf und Resultat nicht überprüfbar war, sprach Außenamtssprecherin Maria Adebahr in Berlin von einem "überwältigenden Wählerwillen, den Venezuela beziehungsweise die Wähler dort jetzt zum Ausdruck gebracht haben". Die deutsche Botschaft in Caracas stehe in "laufendem Kontakt mit Oppositionsvertretern". Diese Linie vertreten deutsche Diplomaten auch in Brüssel und in internationalen Foren. Kritik an der zunehmenden Gewalt der Opposition gibt es nicht.
Das Problem: Die Opposition in Venezuela bewegt sich selbst immer weniger auf dem Boden rechtsstaatlicher Prinzipien. Die zunehmend kompromisslose Ablehnung staatlicher Strukturen, die Aufrufe zum bewaffneten Kampf, paramilitärische Angriffe auf staatliche Institutionen, Lynchmorde, rassistische Hetze gegen politische Gegner - all dies erinnert immer mehr an die Bewegung der Reichsbürger in Deutschland. Denn auch in Venezuela will ein wachsender Teil der Regierungsgegner die aktuellen Verhältnisse der unter Präsident (1999-2013) Hugo Chávez gegründeten "5. Republik" gewaltsam ändern und das Rad der Zeit zurückdrehen.
Die demokratische Legitimität der chavistischen Regierungen war von den Vertretern der alten Oligarchie niemals anerkannt worden. Darauf wiesen - was im Westen schnell mal vergessen wird - schon der Putschversuch gegen Präsident Chávez im April 2002 und folgende Sabotageaktionen hin. Die Absurdität besteht daher darin, dass militante Ewiggestrige in Deutschland zu Recht bekämpft, in Venezuela aber gefördert werden.
Warnung von deutscher Botschaft in Caracas
So kann die Opposition in Venezuela weiter zu "Aktionen des zivilen Ungehorsams" und einen neuen Streik aufrufen. Diplomatische Vertretungen ausländischer Staaten und venezolanische Sicherheitskräfte bereiten sich auf eine Eskalation der Situation vor. Zu entsprechenden Schritten trägt auch der Umstand bei, dass in dieser Woche Destabilisierungspläne des US-Auslandsgeheimdienstes CIA gegen Venezuela publik wurden.
Die deutsche Botschaft in Caracas verwies in einer Rundmail an Bundesbürger in dem südamerikanischen Land auf "Demonstrationen und Straßensperren sowie neue Aktionen des Oppositionsbündnisses MUD: für den 26. und 27. Juli einen Streik, gefolgt von der Einnahme Caracas’ am 28. Juli." An den Folgetagen seien weitere Aktionen möglich. "Ich möchte Sie daher (...) noch einmal bitten, (...) sich von großen Menschenansammlungen fern zu halten", heißt es in dem Rundschreiben.
Die venezolanische Armee ließ Kontakttelefonnummern verteilen, um Sabotageakte und bewaffnete Angriffe zu melden. Demonstrationen wurden verboten, bei Straßenblockaden wurde sofortige Haft angedroht.
Keine Neuigkeiten gab es bezüglich einer möglichen Verschiebung der Wahl der Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung. Präsident Maduro hatte sich vor wenigen Tagen erneut mit deutlichen Worten zu einem Dialog mit der Opposition bekannt. Erstmals stellte Maduro dabei auch in Aussicht, diese für den 30. Juli angesetzte Wahl zu verschieben. Ziel sei es, zwischen den politischen Lagern ein "Abkommen zur Koexistenz" zu erreichen.
Trotz einiger Treffen von Vertretern von Regierung und Opposition wurde dabei jedoch offenbar keine Einigung erzielt. Mehrere hochrangige Vertreter der Wahlbehörde CNE bestätigten, dass die Wahl am Sonntag stattfinden werde. Neue Gespräche zwischen Regierung und Opposition schließt das aber nicht aus. Die Konstituierung der Verfassungsversammlung kann auch nach diesem Sonntag schließlich noch verschoben werden. Voraussetzung wäre, dass die schwere institutionelle Krise aus freien Stücken aller Beteiligter überwunden wird. Der Druck dafür wird nach diesem Sonntag größer sein.