Vereinfachungen und Vereinseitigungen

Seite 3: "Zentraler differenzierender Faktor ist die Qualifikation"

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Wie hoch ist der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in der Jugend- und Arbeitslosigkeitsstatistik und was sind die Gründe dafür?

Hartmut Krauss: Unabhängig vom Konjunkturverlauf und der Gesamtmenge der registrierten Arbeitslosigkeit ist der Anteil von arbeitslosen Zugewanderten beziehungsweise Personen mit Migrationshintergrund - über einen längeren Zeitraum beobachtet - konstant doppelt so hoch wie der Anteil von Einheimischen ohne Migrationshintergrund.

Der Integrationsbericht2 stellt fest: "Menschen mit Migrationshintergrund haben an der insgesamt positiven Arbeitsmarktentwicklung vergleichsweise geringer partizipieren können: 2010 lag die Erwerbstätigenquote von Migranten bei 61,2%, und die von Menschen ohne Migrationshintergrund bei 73,5%."

Ein zentraler differenzierender Faktor ist die Qualifikation.3: "Während nur 15 % der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund im Alter von 20 bis 64 Jahren keinen beruflichen Abschluss haben, gilt dies für 44% der Befragten mit Migrationshintergrund. Am höchsten liegt der Anteil der Unqualifizierten mit 72 % bei den in Deutschland lebenden Menschen türkischer Herkunft, von denen fast jede/r Fünfte (18,2 %) Deutsche/r ist."

Infolge der schulischen Ausbildungs- und beruflichen Qualifikationsmängel ist der Anteil von Migranten an den Arbeitslosen und Transfereinkommensbeziehern überproportional hoch. Während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung lediglich um die 20 Prozent beträgt, waren im Juni 2013 sechsunddreißig Prozent der Arbeitslosen Menschen mit Migrationshintergrund. Von diesen wiederum bezogen knapp drei Viertel http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/menschen-wirtschaft/bundesagentur-fuer-arbeit-jeder-dritte-arbeitslose-hat-auslaendische-wurzeln-12677000.html: "Das heißt, dass sie vorher keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I in einem Arbeitsverhältnis erworben haben. Zwei von drei Personen haben zudem keinen formalen Berufsabschluss aufzuweisen. In der Gruppe ohne Migrationshintergrund ist es lediglich ein Drittel."

Grundsätzlich gilt demnach, dass aufgrund des deutlich geringeren durchschnittlichen Qualifikationsniveaus auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen (Erfahrung mit länger als 12 Monate andauernder Arbeitslosigkeit) bei Menschen mit Migrationshintergrund generell und bei männlichen Türken mit 43,6% besonders hoch ist (zum Beispiel im Vergleich zu Polen mit 28,9%).

Während türkisch-muslimische Zuwanderer einerseits im Durchschnitt das schlechteste Qualifikationsprofil und deshalb eine besonders hohe Rate von Arbeitslosengeld-II-Beziehern aufweisen, leben sie andererseits vergleichsweise in größeren Bedarfsgemeinschaften mit einem höheren Kinderanteil und daraus resultierend mit einem höheren Transfereinkommen. Hervorstechend ist auch die niedrige Erwerbsbeteiligung von türkischstämmigen Frauen.

Was die jüngeren Altersgruppen betrifft, so betrug 2010 der Anteil der Migranten im Alter von 25 bis unter 35 Jahren ohne beruflichen oder Hochschulabschluss 31,6%. Bei der gleichaltrigen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund lag er im Vergleich bei 9,2%.

"Eigentümliche Verflechtung von sozialen, sprachlichen und kulturellen Einflussfaktoren"

Manfred Cremer, der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung, bemängelt nicht nur das Fehlen schulischer Elementarkenntnisse wie etwa Deutsch und Mathematik bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, sondern auch unterentwickelte soziale Basiskompetenz und Disziplin. Welche Faktoren sind nach ihrer Meinung dafür verantwortlich?

Hartmut Krauss: Es gilt also erst einmal festzuhalten: Während allenthalben ein "Fachkräftemangel" beklagt wird, wird andererseits fortlaufend eine große Zahl an Schulabbrechern und ausbildungsunfähigen Schulabgängern reproduziert. Dazu gehören allerdings auch Jugendliche ohne Migrationshintergrund, wenn auch in relational niedrigeren Anteilen. Cremer sprach von jährlich 150.000 Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf dem Ausbildungsmarkt, von denen circa 70 Prozent aufgrund von Ausbildungsunreife keinen Ausbildungsplatz finden. Auch vor diesem Hintergrund ist der undifferenzierte Schrei nach pauschal "mehr Zuwanderung" zu hinterfragen.

Dominiert disparate Zuwanderung, also das quantitative Übergewicht bildungsferner und soziokulturell sowie identitätspolitisch divergenter Zuwanderergruppen, so wirkt sich das mittel- und langfristig negativ auf den gesellschaftlichen Bildungsstand aus.

Die Ursachen für die kognitiven, kenntnisbezogenen und sozialen Kompetenzdefizite sind vielfältig und nicht monokausal ableitbar. Auf jeden Fall verstellt die simplifizierende und latent verschwörungsideologische Rede von der immer wieder hervorgekehrten "sozialen Benachteiligung" (welches vorsätzlich handelnde Subjekt benachteiligt hier eigentlich?) die reale Komplexität der Problemlage. Demgegenüber verhält es sich meines Erachtens so:

Kinder aus Zuwandererfamilien, deren Eltern (a) aus der Unterschicht stammen, (b) einen niedrigen Bildungsstatus und eine geringe Bildungsorientierung aufweisen, (c) gemäß religiös-autoritären ("prämodernen") Prinzipien beziehungsweise unreflektierten Traditionen erziehen, (d) kaum oder nur schlecht Deutsch sprechen und (e) mit einem extremen Wertekonflikt zwischen häuslichem Autoritarismus (hierarchischer Kollektivismus) und schulischem sowie gesellschaftlichem Selbständigkeitskodex (liberaler Individualismus) konfrontiert werden, sind sozialisatorisch so negativ konditioniert, dass die bereits in der vorschulischen Entwicklung angehäuften und später weiterwirkenden Entwicklungsnachteile durch die Bildungsinstitutionen mitunter noch abgeschwächt, aber nicht mehr kompensiert werden können.

Es ist also nicht die soziale Unterschichtzugehörigkeit "an sich", sondern die eigentümliche Verflechtung von sozialen, sprachlichen und kulturellen Einflussfaktoren, die hier negativ zum Tragen kommt.

"Von den Betroffenen wird die vorgefundene Tradition als gottgewolltes Schicksal empfunden"

Wie erklären Sie sich generell das schlechte schulische Abschneiden von Kindern mit Migrationshintergrund?

Hartmut Krauss: Es geht gar nicht pauschal um den Migrationshintergrund an und für sich, sondern um die konkrete Konstitution dieses soziokulturellen Hintergrunds. Leider wird in der staatsnahen Auftragsforschung und den Medien nicht genügend beziehungsweise zu selten zwischen den unterschiedlichen Zuwanderergruppen unterschieden. So zeigen zum Beispiel bei gleicher oder sehr ähnlicher Soziallage vietnamesische Schüler deutlich bessere Lernleistungen als Kinder und Jugendliche aus konservativ-islamisch geprägten Milieus und erreichen überwiegend sogar bessere Schulabschlüsse als ihre deutschen Mitschüler.

Negativ ausschlaggebend sind offenkundig folgende integrationswidrigen Kernmerkmale, wie sie zwar nicht für alle, aber doch für große Teile der zugewanderten islamischen Community immer noch zutreffen: (a) subjektive Prägung durch eine vormoderne und religiös-autoritäre Lebensweise, (b) individuelle Gebundenheit an eine repressiv überwachte und traditionalistisch normierte Gemeinschaft mit einer patriarchalischen Ehrenmoral und dementsprechenden Geschlechtsrollenmustern, wie sie der Islam umfassend legitimiert und (c) Bildungsferne gepaart mit einer starken "antiaufklärerischen" Ablehnung bis hin zu Verachtung der Grundprinzipien einer säkular-demokratischen Gesellschaft.

Dabei wird von den Betroffenen die vorgefundene "Tradition", in die sie hineingeboren werden, vielfach entweder als gottgewolltes und damit subjektiv hinzunehmendes "Schicksal" empfunden und damit als unveränderbare Gegebenheit verdinglicht, der man sich fraglos unterwerfen muss oder aber gegenüber der kulturellen Moderne aktivistisch-kämpferisch ("fundamentalistisch" beziehungsweise "islamistisch") in Form einer muslimischen Identitätspolitik verteidigt.

Hinzu kommt der nach wie vor defizitäre Sprachstand vieler türkischstämmiger Kinder und Jugendlicher. Nach der PISA-Studie4 sind drei Viertel der Jugendlichen mit Eltern aus der Türkei in Deutschland geboren und aufgewachsen. "Umso auffälliger ist, dass weniger als ein Drittel dieser Schülerinnen und Schüler im Alltag überwiegend deutsch spricht und fast 20 Prozent sogar angeben, hauptsächlich die türkische oder die kurdische Sprache zu verwenden". Während die Aussiedler-Jugendlichen zu über 40 Prozent überwiegend deutsch sprechen, obwohl fast 90 Prozent von ihnen nicht in Deutschland geboren sind, stellt sich die Situation für die Jugendlichen türkischer Abstammung umgekehrt dar. "Fast drei Viertel von ihnen sind in Deutschland geboren. Aber weniger als ein Drittel gehört zur Gruppe der 'Deutschsprachigen'"5.

Welche Auswirkungen wird die Einwanderung nach Deutschland auf die jeweiligen Heimatländer haben?

Hartmut Krauss: Hier gibt es sehr gegensätzliche Szenarien. Für die Türkei war der Auswanderungseffekt positiv. Da dort zwischen 1955 bis 1975 die Bevölkerungszahl von 24 auf 40 Millionen Menschen gestiegen war - was einem Wachstum von 2,4% jährlich entsprach - hatte der türkische Staat ein großes Eigeninteresse an der Auslagerung eines Teils seiner Überbevölkerung. Damit profitierte er zum einen unmittelbar durch die Entlastung des eigenen Arbeitsmarktes und zum anderen zusätzlich durch Deviseneinnahmen sowie durch Gratismodernisierung in Form reimportierter Qualifikationen.

Ganz anders sieht es jetzt im Fall von Rumänien, Bulgarien und anderen ähnlich strukturierten postsozialistischen Krisenländern aus: Hier führt die Abwanderung von Fachkräften und Hochqualifizierten zur Vertiefung und Erweiterung von Rückständen und Defiziten in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen, beschleunigt die Krisendynamik und forciert die Erzeugung von Wirtschaftsflüchtlingen, darunter – wie bereits aktuell- eben auch von Niedrigqualifizierten.

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