Vereinfachungen und Vereinseitigungen

Hartmut Krauss über die Zuwanderungsdebatte in Deutschland

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Während die CSU für die diesjährige Wahl des Europa-Parlaments mit fremdenfeindlichen Slogans am rechten Rand nach Stimmen fischt, zeichnen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in ungewohnter Eintracht das Bild von der Zuwanderung der Bürger aus armen EU-Staaten wie Rumänien und Bulgarien in einem rosigen Licht. Dabei verhalten sich die Positionen rein spiegelbildlich - und so ist die deutsche Zuwanderungsdebatte auf beiden Seiten von Vereinfachungen und Vereinseitigungen geprägt. - Meint Hartmut Krauss, der 30 Jahre lang auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung tätig war und dabei Erfahrungen mit Migranten verschiedener Herkunft sammeln konnte.

Herr Krauss, Sie kritisieren die Studie 12 gute Gründe für Zuwanderung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Warum?
Hartmut Krauss: Zuwanderung ist ein hochkomplexes, widersprüchliches und heterogenes Geschehen, das sich aus sehr unterschiedlichen subjektiven Beweggründen zusammensetzt und Akteure betrifft, die in ihren Eigenschaftsmerkmalen oftmals sehr stark differieren. Deshalb ist eine ebenso sorgfältige wie differenzierte Analyse erforderlich, die sich keinen fremdgesetzten Tabus beziehungsweise interessenpolitischen Vorgaben beugt und weder negativen noch positiven Vorurteilen folgt. Nur auf dieser Grundlage lassen sich dann auch die langfristigen Effekte der Zuwanderung für die Aufnahmegesellschaft abschätzen und anhand transparenter Kriterien bewerten.
In der aktuellen Debatte hat nun die CSU das pauschale Gefahrenbild einer einseitigen Zuwanderung in die Sozialsysteme an die Wand gemalt und die populistische Parole kreiert: "Wer betrügt, der fliegt!" Darauf antwortet nun das IW mit einer ebenso einseitigen spiegelverkehrten Behauptung "Zuwanderung ist per se ganz was Tolles"- für die Wirtschaft, für die Sozialsysteme, für die Kommunen, für die Bevölkerung: Alles nur Bereicherung.
Konstruiert wird hier in reklametechnischer Manier der realitätsabstrakte Typus einer homogen positiven Zuwanderung, der nur hochqualifizierte und unmittelbar integrationsfähige Migranten mit guten Deutschkenntnissen kennt, beziehungsweise vorkommen lässt, die sich kulturell-normativ sofort reibungslos einfügen und Deutschland vor dem demographischen Untergang retten. Um aber eine solche Aussagen machen zu können, bleiben grundlegende Sachverhalte ausgeblendet.

"Privatkapitalistische Nutzung von Vorteilen - Sozialisierung von Nachteilen"

Welche Faktoren und Tatbestände lässt das Institut ihres Erachtens außen vor?
Hartmut Krauss: Erstens die angehäuften Effekte und strukturellen Verfestigungen vergangener disparater Zuwanderung und zweitens die sozialökonomischen und soziokulturellen Ambivalenzen aktueller Immigration. So wandern eben derzeit nicht nur Akademiker aus Südosteuropa ein, sondern gleichzeitig Niedrigqualifizierte und Analphabeten ohne reelle Chancen auf dem Arbeitsmarkt, aber dafür als leichte Beute für Ausbeuter aller Art: Vermieter von heruntergekommenen Unterkünften zu Wucherpreisen, dubiose Behördenhelfer, die sich ihre Dienstleistungen teuer bezahlen lassen, Unternehmer mit Niedrigstlöhnen für Tagelöhner und Scheinselbständige auf dem "Arbeiterstrich"– das Ganze oftmals auch in funktionsgerechter Kombination und vermittelt über Sub-Sub-Subunternehmensverkettungen.
Hartmut Krauss
Können Sie das empirisch erhärten?
Hartmut Krauss: Die vom IW selbst angesprochene Struktur der Zuwanderungspopulation der 2000er Jahre besagt, dass der Anteil der Personen ohne beruflichen Abschluss mit 40 Prozent deutlich höher liegt als der Akademikeranteil mit 29,1 Prozent.
Zwar mag die Zuwanderung von Personen mit mehrheitlich geringer Qualifikation und habitualisierten Niedriglohnerfahrungen punktuell und kurzfristig den Lohnsenkungsstrategien von bestimmten Unternehmergruppen dienlich sein. Allerdings werden dann - wie schon im Fall der "Gastarbeiterimmigration" der 1960er Jahre – die Folgekosten der unternehmerischen Teilinteressen der Gesamtgesellschaft (öffentliche Haushalte, Steuerzahler, Kommunen, Bildungssystem, Allgemeinbevölkerung et cetera) aufgebürdet. Ein klarer Fall des bekannten Musters: Privatkapitalistische Nutzung von Vorteilen - Sozialisierung von Nachteilen in Form der Abwälzung auf die Gesamtbevölkerung.
Laut einer statistischen Hintergrundinformation der Bundesagentur für Arbeit vom Dezember 2013 hat sich bei Personen aus den acht neuen Mitgliedstaaten vom Mai 2004 die Zahl der Arbeitssuchenden im Vorjahresvergleich um 24 Prozent und bei Personen aus Rumänien und Bulgarien um 46 Prozent erhöht. Bei Leistungsempfängern im SGB-II-Bezug betrug der Anstieg im ersten Fall plus 18 Prozent und bei Bulgaren und Rumänen plus 48 Prozent, während es insgesamt nur einen leichten Anstieg von 0,2 Prozent gab.
Nach Angaben des Spiegel hat die Auswertung statistischer Angaben ergeben, dass Ende 2012 in Brennpunktstädten wie Duisburg und Dortmund nur 10,8 Prozent beziehungsweise 14,8 Prozent der dorthin zugewanderten Bulgaren und Rumänen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgingen. "Rund 90 Prozent aller dort beim Jobcenter gemeldeten Bulgaren und Rumänen", so das Nachrichtenmagazin, hätten "keine abgeschlossene Berufsausbildung und damit kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt."
Wenn man solche gravierenden Aspekte nicht in die Betrachtung einbezieht, entsteht ein schiefes, hier: schönfärberisches und politisch desorientierendes Trugbild.
Ist das alles nicht zu sehr aus Sicht der Wirtschaft argumentiert? Gibt es hier keine humanitäre Verpflichtung der wohlhabenden EU-Staaten? Vergessen Sie hier nicht, dass es bei den Zuwanderern Menschen gibt, die wie die Roma in ihren Heimatländern unter extremer Armut leiden müssen und denen es in Deutschland definitiv besser ergehen wird, was generell zu begrüßen wäre?
Hartmut Krauss: Ich argumentiere nicht aus der Sicht der Wirtschaft, sondern aus einer ganzheitlich-kritischen Perspektive. Der ökonomistische Utilitarismus, wie er von der Kapitallobby vertreten wird, sieht nur den abschöpfbaren Nutzen ungesteuerter beziehungsweise fehlgesteuerter Zuwanderung (billige Fachkräfte, Dumpinglöhner, Saisonarbeiter et cetera) und pickt sich hier die Rosinen raus. Die gesamtgesellschaftlichen Folgen der akkumulierten Massenzuwanderung von unqualifizierten Personen, die kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, überproportional im Sozialtransfersystem zu finden sind und überdies grundrechtsfreie und antiemanzipatorische Ghettos bilden, werden diskursiv ausgeblendet und der Gesamtgesellschaft aufgebürdet.
Eine echte, an die Wurzeln gehende "humanitäre Verpflichtung" wäre es hingegen, primär vor Ort die desolaten Bedingungen zu ändern, die Armutsauswanderung erzeugen. Ganz im Sinne von Marx‘ kategorischem Imperativ, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist".
Das bedeutet konkret: Erstens Zurückdrängung und Überwindung der sozialrassistischen Ausgrenzung und massiven Anfeindung der Roma in den osteuropäischen Auswanderungsländern. Hier wäre tatsächlich ein EU-Auflagenregime angebracht.
Zweitens die Durchführung von gezielten Integrationsmaßnahmen für Roma primär in den Herkunftsländern sowie in den Ländern, in die Roma verstärkt eingewandert sind.
Drittens ist anzuerkennen, dass die Roma eine spezielle Problemgruppe mit besonderem Unterstützungs- aber auch Veränderungsbedarf darstellen, der man nicht so ohne weiteres die "Arbeitnehmerfreizügigkeit" überstülpen kann. Das heißt: Auswanderungswillige Roma sind nach festzulegenden Kontingenten auf die EU-Staaten aufzuteilen. Hier wiederum ist festzustellen, dass die Staaten laut Spiegel noch nicht einmal ansatzweise die 26,5 Milliarden Euro an Fördergeldern zur sozialen Integration abrufen, die über die letzten fünf Jahre umgesetzt werden sollten.
Viertens ist realistisch anzuerkennen, dass die Roma nicht nur Opfer, sondern auch Täter sind, die an reaktionär-autoritären und patriarchalischen Clanstrukturen festhalten, zum Teil ihre Kinder nicht in die Schule schicken und desintegrative Verhaltensweisen aufweisen. Zur Differenzierung gehört demnach auch, unmittelbar betroffene Einheimische, die sich als Anwohner über problematische Verhaltensweisen von Zugezogenen beklagen, nicht reflexartig als "rassistisch" zu stigmatisieren und dadurch ungelöste Konflikte des Zusammenlebens nur unnötig zu verschärfen. Zudem wird berichtet, dass die Spannungen zwischen türkischstämmigen Bewohnern und den neuen Zuwanderern häufig besonders ausgeprägt seien.

"Was in Deutschland ein "Mindestlohn" ist, ist in Rumänien ein Hochlohn"

Welche Auswirkungen wird nach Ihrer Einschätzung die Zuwanderung auf das Lohngefüge in Deutschland haben?
Hartmut Krauss: Zunächst einmal muss man festhalten, dass die EU in ihrer jetzigen Form in ökonomischer, sozialpolitischer und rechtlicher Hinsicht eine absolute Fehlkonstruktion darstellt.
So ist es ein Unding, Länder mit einem extremen Produktivitäts- und Wohlstandgefälle, also in ihren Grundparametern sehr ungleiche Ökonomien, formalrechtlich zu deregulieren und wie "Gleiche" mit reziproken Ansprüchen und Handlungsmöglichkeiten zu behandeln, anstatt zunächst einmal im Rahmen eines entschleunigten Erweiterungsprozesses die gravierenden Niveauunterschiede und damit auch die Auswanderungsgründe abzubauen.
Was zum Beispiel in Deutschland ein "Mindestlohn" ist, ist verglichen mit einem rumänischen oder bulgarischen Durchschnittslohn ein Hochlohn. Das gilt gleichermaßen für das Rentenniveau, Kindergeldzahlungen, Transfereinkommen, Gesundheitsversorgung et cetera.
Welche Folgen hat das konkret?
Hartmut Krauss: Sind erst einmal genügend Arbeitskräfte mit einem entsprechend vorgeprägten Einkommens- und sozialpolitischen Horizont immigriert und ist der Mindestlohn mit diversen Ausnahmeregelungen eingeführt, lässt sich das Durchschnittseinkommen ungeniert absenken.
In diesem fehlkonzipierten EU-Rahmen bedeutet "Arbeitnehmerfreizügigkeit" im Grunde nichts anderes als den Bau einer Einbahnstraße von den "ärmeren" in die "reicheren" Länder unter der strafandrohenden Oberaufsicht des EU-bürokratischen Kommandosystems als neuer Superregulierungsbehörde. Auf diese Weise werden einerseits die strukturellen Niveauunterschiede zwischen den EU-Ländern verfestigt, beziehungsweise vertieft und andererseits die Bedürfnisse mancher Kapitalgruppen nach einer billigeren Anspruchssorte von "doppelt freien" Lohnarbeitern befriedigt. Die Geprellten sind dann letztendlich die Steuern und Sozialabgaben zahlenden Erwerbstätigen der "reicheren" Länder – Lohnabhängige sowie kleine und mittlere Selbständige, die nicht in Steueroasen flüchten können.

"Rumänischer Niedriglohn plus Spesen"

Was bedeutet das?
Hartmut Krauss: Aktuell ist bereits erkennbar, dass eine recht große Zahl von Zuwanderern aus Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Spanien, Portugal und Italien ihr Niedrigeinkommen mit staatlichen Transferzahlungen "aufstocken" müssen. Das bedeutet: Es wird zum Teil zugleich im Interesse bestimmter Unternehmergruppen in den deutschen Niedriglohnarbeitsmarkt und entgegen den Allgemeininteressen in das Sozialtransfersystem eingewandert. So sind nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit im Juni 2013 sechsunddreißig Prozent der 27.000 Leistungsbezieher aus Rumänien und Bulgarien sogenannte "Aufstocker" gewesen. Generell wird eingeräumt, dass Neuzuwanderer in der Regel ein unterdurchschnittliches Einkommen erzielen und deshalb häufiger aufstocken müssen.1
Hinzu kommt, dass deutsche Großunternehmen in südosteuropäischen Zweigniederlassungen zum Beispiel gut ausgebildete rumänische Arbeitskräfte zu den landesüblichen Einkommen beschäftigen und damit bis zu 90 Prozent Lohnkosten einsparen. Zugleich werden diese Arbeitskräfte immer wieder phasenweise in den deutschen Mutterfirmen eingesetzt, erhalten dort aber weiterhin den rumänischen Niedriglohn plus Spesen. Diese werden dann dem Lohn zugerechnet, und so spart sich das Unternehmen die Sozialabgaben.
Ein betroffener Fachingenieur berichtete in der Sendung Monitor vom 9. Januar 2014: "Nach einiger Zeit habe ich es von meinen deutschen Kollegen erfahren, dass ich nur ein Zehntel von deren Gehalt bekomme. Am Anfang bekamen wir nicht einmal 300,-Euro im Monat. Plus Spesen, 35,-Euro am Tag."

"Die Gewerkschaften sind in erster Linie Interessenvertreter der Stammbelegschaften großer Betriebe mit exportwirtschaftlicher Ausrichtung"

Wenn dem so ist, warum zeigen sich die deutschen Gewerkschaften dann so zuwanderungsaffin?
Hartmut Krauss: Zunächst einmal gehört es ja grundsätzlich zur politisch-korrekten Hausordnung des gegenwärtigen Herrschaftskartells, pauschal, undifferenziert und positiv-vorurteilsvoll "zuwanderungsaffin" zu sein. Als asymmetrischer "Sozialpartner", der sich der Logik der globalkapitalistischen Standortkonkurrenz unterworfen hat, sind die Gewerkschaften integraler Bestandteil dieses Kartells, das sich um eine wettbewerbsfähige "Willkommenskultur" bemüht. Hinzu kommt, dass die Gewerkschaften in erster Linie Interessenvertreter der Stammbelegschaften großer Betriebe mit exportwirtschaftlicher Ausrichtung sind und jenseits ritueller Kampfrhetorik den betriebswirtschaftlichen Trickle-Down-Standpunkt tief verinnerlicht haben: Hauptsache "mein" Unternehmen macht Profit. So wird dann schon bald etwas für mich via Tarifverhandlungen durchsickern.
Nun ist es ja durchaus richtig, sich gegen dumpfe Ausländerfeindlichkeit zu engagieren und völkische Reinheitspropaganda zu bekämpfen. Aber in seiner vulgarisierten und simplifizierten Form kippt dieser gutmenschliche Populismus oft um ins Reaktionäre und Unwahre. Denn nicht jeder Hinweis auf negative Folgen disparater Zuwanderung oder rückständige, autoritäre und antiemanzipatorische Einstellungen und Verhaltensweisen von Zuwanderern ist gleich "rassistisch" oder "fremdenfeindlich". Vielmehr – und dieser Tatbestand entgeht vielen "Antifaschisten" - befinden sich gerade auch unter Zuwanderern nicht wenige Rechtsextremisten.
So wäre es neben der Bekämpfung der unsäglichen Ausbeutung von zugewanderten Billigarbeitskräften durch deutsche Unternehmen eine wichtige Aufgabe für die Gewerkschaften, auch gegen die reaktionären und fundamentalistischen Zuwanderergruppen (Graue Wölfe, Salafisten et cetera) zu demonstrieren und sich stärker gegen Rüstungsexporte in die islamischen Golfstaaten und den Technologietransfer in den iranischen Gottesstaat zu wenden.

"Die Zuwanderungsdebatte verdrängt die notwendige Bekämpfung der Ursachen"

Von welchen Zusammenhängen lenkt Ihrer Meinung nach die Zuwanderungsdebatte ab?
Hartmut Krauss: Je nach Interessenstandpunkt und ideologischer Ausrichtung wird von vielerlei Aspekten abgelenkt. Ich will hier nur folgende Punkte anführen:
  1. Hinter der Propagandafront der pauschalen Hochjubler der Zuwanderung verbergen sich die bereits angesprochenen proftitlogischen Nutzenkalküle diverser Großbetriebe, aber auch die Interessen der verzweigten Migrationsindustrie, die von der Verlagerung extern erzeugter Probleme nach Deutschland und Europa lebt.
  2. Zudem verdrängt die Zuwanderungsdebatte in ihrer jetzigen Form die eigentlich notwendige Fokussierung und Bekämpfung der Ursachen von Auswanderung und Flucht aus entwicklungsblockierten, vormodern-bevölkerungsexplosiven oder durch intraislamische und interreligiöse Konflikte zerrissenen Ländern. Es ist absurd und selbstzerstörerisch zu glauben, Westeuropa und Deutschland könnten unbegrenzt als sozialpolitischer Abladeplatz und therapeutische Weltreparaturwerkstatt für Probleme fungieren, die in nichtwestlichen Herrschaftsgebieten von dortigen menschenrechtsfeindlichen Despoten, kriegerischen Kleptokraten, religionsfanatischen "Glaubenskriegern" und konfliktanheizenden Regionalmächten wie dem schiitischen Iran und den sunnitischen Golfmonarchien verursacht und eskaliert werden.
  3. Innereuropäisch ist es ein skandalöses politisches Paradoxon, dass ein ungarischer EU-Kommissar, der aus einem ultrareaktionär regierten Land stammt, das als unangefochtener Spitzenreiter in Sachen Rassenhass auf Roma gilt, der deutschen Gesellschaft diktieren will, wie die Zugänge zum Sozialtransfersystem zu regeln sind und die hiesigen Behörden zu arbeiten haben.
  4. Nicht zuletzt lenkt die aktuelle Zuwanderungsdebatte von den mittlerweile strukturell verfestigten Problemen vergangener disparater Zuwanderung und den hauptsächlichen Problemgruppen unter den Zuwanderern ab.

"Zentraler differenzierender Faktor ist die Qualifikation"

Wie hoch ist der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in der Jugend- und Arbeitslosigkeitsstatistik und was sind die Gründe dafür?
Hartmut Krauss: Unabhängig vom Konjunkturverlauf und der Gesamtmenge der registrierten Arbeitslosigkeit ist der Anteil von arbeitslosen Zugewanderten beziehungsweise Personen mit Migrationshintergrund - über einen längeren Zeitraum beobachtet - konstant doppelt so hoch wie der Anteil von Einheimischen ohne Migrationshintergrund.
Der Integrationsbericht2 stellt fest: "Menschen mit Migrationshintergrund haben an der insgesamt positiven Arbeitsmarktentwicklung vergleichsweise geringer partizipieren können: 2010 lag die Erwerbstätigenquote von Migranten bei 61,2%, und die von Menschen ohne Migrationshintergrund bei 73,5%."
Ein zentraler differenzierender Faktor ist die Qualifikation.3: "Während nur 15 % der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund im Alter von 20 bis 64 Jahren keinen beruflichen Abschluss haben, gilt dies für 44% der Befragten mit Migrationshintergrund. Am höchsten liegt der Anteil der Unqualifizierten mit 72 % bei den in Deutschland lebenden Menschen türkischer Herkunft, von denen fast jede/r Fünfte (18,2 %) Deutsche/r ist."
Infolge der schulischen Ausbildungs- und beruflichen Qualifikationsmängel ist der Anteil von Migranten an den Arbeitslosen und Transfereinkommensbeziehern überproportional hoch. Während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung lediglich um die 20 Prozent beträgt, waren im Juni 2013 sechsunddreißig Prozent der Arbeitslosen Menschen mit Migrationshintergrund. Von diesen wiederum bezogen knapp drei Viertel http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/menschen-wirtschaft/bundesagentur-fuer-arbeit-jeder-dritte-arbeitslose-hat-auslaendische-wurzeln-12677000.html: "Das heißt, dass sie vorher keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I in einem Arbeitsverhältnis erworben haben. Zwei von drei Personen haben zudem keinen formalen Berufsabschluss aufzuweisen. In der Gruppe ohne Migrationshintergrund ist es lediglich ein Drittel."
Grundsätzlich gilt demnach, dass aufgrund des deutlich geringeren durchschnittlichen Qualifikationsniveaus auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen (Erfahrung mit länger als 12 Monate andauernder Arbeitslosigkeit) bei Menschen mit Migrationshintergrund generell und bei männlichen Türken mit 43,6% besonders hoch ist (zum Beispiel im Vergleich zu Polen mit 28,9%).
Während türkisch-muslimische Zuwanderer einerseits im Durchschnitt das schlechteste Qualifikationsprofil und deshalb eine besonders hohe Rate von Arbeitslosengeld-II-Beziehern aufweisen, leben sie andererseits vergleichsweise in größeren Bedarfsgemeinschaften mit einem höheren Kinderanteil und daraus resultierend mit einem höheren Transfereinkommen. Hervorstechend ist auch die niedrige Erwerbsbeteiligung von türkischstämmigen Frauen.
Was die jüngeren Altersgruppen betrifft, so betrug 2010 der Anteil der Migranten im Alter von 25 bis unter 35 Jahren ohne beruflichen oder Hochschulabschluss 31,6%. Bei der gleichaltrigen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund lag er im Vergleich bei 9,2%.

"Eigentümliche Verflechtung von sozialen, sprachlichen und kulturellen Einflussfaktoren"

Manfred Cremer, der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung, bemängelt nicht nur das Fehlen schulischer Elementarkenntnisse wie etwa Deutsch und Mathematik bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, sondern auch unterentwickelte soziale Basiskompetenz und Disziplin. Welche Faktoren sind nach ihrer Meinung dafür verantwortlich?
Hartmut Krauss: Es gilt also erst einmal festzuhalten: Während allenthalben ein "Fachkräftemangel" beklagt wird, wird andererseits fortlaufend eine große Zahl an Schulabbrechern und ausbildungsunfähigen Schulabgängern reproduziert. Dazu gehören allerdings auch Jugendliche ohne Migrationshintergrund, wenn auch in relational niedrigeren Anteilen. Cremer sprach von jährlich 150.000 Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf dem Ausbildungsmarkt, von denen circa 70 Prozent aufgrund von Ausbildungsunreife keinen Ausbildungsplatz finden. Auch vor diesem Hintergrund ist der undifferenzierte Schrei nach pauschal "mehr Zuwanderung" zu hinterfragen.
Dominiert disparate Zuwanderung, also das quantitative Übergewicht bildungsferner und soziokulturell sowie identitätspolitisch divergenter Zuwanderergruppen, so wirkt sich das mittel- und langfristig negativ auf den gesellschaftlichen Bildungsstand aus.
Die Ursachen für die kognitiven, kenntnisbezogenen und sozialen Kompetenzdefizite sind vielfältig und nicht monokausal ableitbar. Auf jeden Fall verstellt die simplifizierende und latent verschwörungsideologische Rede von der immer wieder hervorgekehrten "sozialen Benachteiligung" (welches vorsätzlich handelnde Subjekt benachteiligt hier eigentlich?) die reale Komplexität der Problemlage. Demgegenüber verhält es sich meines Erachtens so:
Kinder aus Zuwandererfamilien, deren Eltern (a) aus der Unterschicht stammen, (b) einen niedrigen Bildungsstatus und eine geringe Bildungsorientierung aufweisen, (c) gemäß religiös-autoritären ("prämodernen") Prinzipien beziehungsweise unreflektierten Traditionen erziehen, (d) kaum oder nur schlecht Deutsch sprechen und (e) mit einem extremen Wertekonflikt zwischen häuslichem Autoritarismus (hierarchischer Kollektivismus) und schulischem sowie gesellschaftlichem Selbständigkeitskodex (liberaler Individualismus) konfrontiert werden, sind sozialisatorisch so negativ konditioniert, dass die bereits in der vorschulischen Entwicklung angehäuften und später weiterwirkenden Entwicklungsnachteile durch die Bildungsinstitutionen mitunter noch abgeschwächt, aber nicht mehr kompensiert werden können.
Es ist also nicht die soziale Unterschichtzugehörigkeit "an sich", sondern die eigentümliche Verflechtung von sozialen, sprachlichen und kulturellen Einflussfaktoren, die hier negativ zum Tragen kommt.

"Von den Betroffenen wird die vorgefundene Tradition als gottgewolltes Schicksal empfunden"

Wie erklären Sie sich generell das schlechte schulische Abschneiden von Kindern mit Migrationshintergrund?
Hartmut Krauss: Es geht gar nicht pauschal um den Migrationshintergrund an und für sich, sondern um die konkrete Konstitution dieses soziokulturellen Hintergrunds. Leider wird in der staatsnahen Auftragsforschung und den Medien nicht genügend beziehungsweise zu selten zwischen den unterschiedlichen Zuwanderergruppen unterschieden. So zeigen zum Beispiel bei gleicher oder sehr ähnlicher Soziallage vietnamesische Schüler deutlich bessere Lernleistungen als Kinder und Jugendliche aus konservativ-islamisch geprägten Milieus und erreichen überwiegend sogar bessere Schulabschlüsse als ihre deutschen Mitschüler.
Negativ ausschlaggebend sind offenkundig folgende integrationswidrigen Kernmerkmale, wie sie zwar nicht für alle, aber doch für große Teile der zugewanderten islamischen Community immer noch zutreffen: (a) subjektive Prägung durch eine vormoderne und religiös-autoritäre Lebensweise, (b) individuelle Gebundenheit an eine repressiv überwachte und traditionalistisch normierte Gemeinschaft mit einer patriarchalischen Ehrenmoral und dementsprechenden Geschlechtsrollenmustern, wie sie der Islam umfassend legitimiert und (c) Bildungsferne gepaart mit einer starken "antiaufklärerischen" Ablehnung bis hin zu Verachtung der Grundprinzipien einer säkular-demokratischen Gesellschaft.
Dabei wird von den Betroffenen die vorgefundene "Tradition", in die sie hineingeboren werden, vielfach entweder als gottgewolltes und damit subjektiv hinzunehmendes "Schicksal" empfunden und damit als unveränderbare Gegebenheit verdinglicht, der man sich fraglos unterwerfen muss oder aber gegenüber der kulturellen Moderne aktivistisch-kämpferisch ("fundamentalistisch" beziehungsweise "islamistisch") in Form einer muslimischen Identitätspolitik verteidigt.
Hinzu kommt der nach wie vor defizitäre Sprachstand vieler türkischstämmiger Kinder und Jugendlicher. Nach der PISA-Studie4 sind drei Viertel der Jugendlichen mit Eltern aus der Türkei in Deutschland geboren und aufgewachsen. "Umso auffälliger ist, dass weniger als ein Drittel dieser Schülerinnen und Schüler im Alltag überwiegend deutsch spricht und fast 20 Prozent sogar angeben, hauptsächlich die türkische oder die kurdische Sprache zu verwenden". Während die Aussiedler-Jugendlichen zu über 40 Prozent überwiegend deutsch sprechen, obwohl fast 90 Prozent von ihnen nicht in Deutschland geboren sind, stellt sich die Situation für die Jugendlichen türkischer Abstammung umgekehrt dar. "Fast drei Viertel von ihnen sind in Deutschland geboren. Aber weniger als ein Drittel gehört zur Gruppe der 'Deutschsprachigen'"5.
Welche Auswirkungen wird die Einwanderung nach Deutschland auf die jeweiligen Heimatländer haben?
Hartmut Krauss: Hier gibt es sehr gegensätzliche Szenarien. Für die Türkei war der Auswanderungseffekt positiv. Da dort zwischen 1955 bis 1975 die Bevölkerungszahl von 24 auf 40 Millionen Menschen gestiegen war - was einem Wachstum von 2,4% jährlich entsprach - hatte der türkische Staat ein großes Eigeninteresse an der Auslagerung eines Teils seiner Überbevölkerung. Damit profitierte er zum einen unmittelbar durch die Entlastung des eigenen Arbeitsmarktes und zum anderen zusätzlich durch Deviseneinnahmen sowie durch Gratismodernisierung in Form reimportierter Qualifikationen.
Ganz anders sieht es jetzt im Fall von Rumänien, Bulgarien und anderen ähnlich strukturierten postsozialistischen Krisenländern aus: Hier führt die Abwanderung von Fachkräften und Hochqualifizierten zur Vertiefung und Erweiterung von Rückständen und Defiziten in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen, beschleunigt die Krisendynamik und forciert die Erzeugung von Wirtschaftsflüchtlingen, darunter – wie bereits aktuell- eben auch von Niedrigqualifizierten.

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