Verfassungsrechtliche Verwirrungen um Hartz IV
Viele rechtliche Bedenken werden gegen das schnell gestrickte Gesetz erhoben, aber mögliche Veränderungen könnten noch Jahre auf sich warten lassen
Was weder Gewerkschaften noch Montagsdemonstrationen und Proteste vor den Arbeitsämtern zustande gebracht haben, könnte nun auf juristischem Wege geschehen: eine zumindest teilweise Revision der Hartz IV-Gesetze . Denn nach den Entscheidungen der Sozialgerichte in Düsseldorf und Saarbrücken verstoßen Teile des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt gegen die Verfassung.
In Düsseldorf wurde dem Antrag einer arbeitslosen Frau auf das Arbeitslosengeld II mit der Begründung recht gegeben, dass die Anrechnung von Partnereinkommen bei unverheirateten Paaren dem Grundgesetz widerspricht. Bei homosexuellen Paaren werde das nicht anberechnet und somit verletzte das Gesetz den Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz. Das Bundeswirtschaftsministerium geht dagegen weiter davon aus, dass das Reformgesetz verfassungskonform ist, will aber das Urteil genau prüfen.
In Saarbrücken hatte ein Arbeitsloser, der seit 26 Jahren mit einer Rentnerin in eheähnlicher Gemeinschaft lebt, auf die Bewilligung des Arbeitslosengeldes II in der Höhe von einem Cent geklagt, damit er weiter in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert bleiben kann. Die Arbeitsagentur hatte Bedarf und Rente gegeneinander abgewogen, errechnete einen Überschuss von 118,38 Euro und sah infolgedessen keine Bedürftigkeit. Dem Arbeitslosen wären somit monatlich rund 200 Euro Kosten für den Versicherungsschutz entstanden. In einer Anordnung des Wirtschaftsministers Clement war ursprünglich vorgesehen, dass Arbeitslose sich in diesem Fall selbst versichern müssen und im Höchstfall einen öffentlichen Zuschuss beantragen können. Das Gericht äußerte erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, da damit der Arbeitslose unter das Existenzminimum geriete, und verpflichtete die Agentur zur Zahlung des bedeutungsvollen Cents.
Diese Richtersprüche sind aber nur die Spitze des Eisbergs. Schon im letzten Jahr hatten mehrere Richter und der Bundesbeauftragte für Datenschutz massive verfassungsrechtliche Zweifel gegen das Gesetz angemeldet. Denn aufgrund des Tempos, mit der dieses Gesetz erstellt wurde, konnten zahlreiche widersprüchliche Bestimmungen und Ungenauigkeiten nicht auf ihre Verträglichkeit mit dem Grundgesetz geprüft werden, wobei sich Widersprüche vor allem dadurch ergeben, dass das neu gefasste Sozialgesetzbuch SGB II eine eindeutig marktkonforme Orientierung besitzt, während das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutraler ausgerichtet ist.
So hatte sich der Bundesverfassungsrichter Siegfried Broß auf dem letzten Katholikentag in Ulm dem Gesetz gegenüber reserviert gezeigt und gesagt:
Ob die so genannten Hartz-Gesetze und vor allem die Umsetzung der nächsten Stufe zum 1. Januar 2005 mit der Überführung von wenigstens 1 Mio. Menschen in die "Sozialhilfe" den geschilderten verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht wird, erschließt sich mir bisher noch nicht, ganz abgesehen davon, wie die Eigenleistungen der Betroffenen, zum Teil über Jahrzehnte erbracht, behandelt werden.
Ein Richter des Bundessozialgerichts, Wolfgang Spellbrink, hatte ebenfalls in einem Beitrag der "Juristenzeitung" angesichts der geringen finanziellen Gegenleistungen für ALG II-Bezieher die Legitimationsgrundlage der Zwangsbeiträge zur Arbeitslosenversicherung in der gegenwärtigen Höhe in Zweifel gezogen und zeigte sich erstaunt darüber, dass dies bislang nicht zum Gegenstand einer öffentlichen und juristischen Diskussion gemacht wurde.
Uwe Berlitt, Bundesverwaltungsrichter bezeichnete den Zwang von ALG II-Beziehern, eine sogenannte Eingliederungsvereinbarung zu unterschreiben, als einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Vertragsfreiheit und als einen "sanktionsbewehrten Zwang zur rechtsgeschäftlichen Selbstunterwerfung." Zudem seien Arbeitslose schutzlos ihren Fallmanagern ausgesetzt (FAZ, 16.8.2004, S.2) . Der Unterzeichner wird durch diese "Vereinbarung" einem sogenannten "Fallmanager" unterstellt, in dessen Ermessen es z.B. liegt, ob eine Arbeit dem Arbeitssuchenden zumutbar ist und ob dieser genügend Einsatz bei der Arbeitssuche zeigt. Der Fallmanager kann die Gelder für drei Monate um 30 Prozent kürzen oder ganz verweigern. Bei der Weigerung, die Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, entfällt der Anspruch auf Arbeitslosengeld. Es handelt sich also nicht um eine freiwillige Vereinbarung, sondern - um mit Marlon Brando zu sprechen - um einen Vertrag, "den man nicht ablehnen kann".
Nach einem Gutachten widerspricht die Arbeitsmarktreform in zehn Punkten dem Grundgesetz
Der Professor für Verfassungsrecht an der Uni Köln, Heinrich Lang, sieht durch die Streichung der Ansprüche die über die Zahlung von Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherungsbeiträgen erworbenen werden, eine Verletzung des Eigentumsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 GG. Wenn man den Gedanken Langs weiter entwickelt könnte möglicherweise auch dann eine Verletzung des Art. 14 GG vorliegen, wenn Hartz IV-Bezieher gezwungen werden, langfristige Lebensversicherungen zu kündigen und dadurch erhebliche finanzielle Einbußen erleiden.
Zusätzlich meldete sich der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, zu Wort, der das Sozialgeheimnis bei der Erfassung der Antragsteller und somit das Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung bei der Reform nicht gewahrt sieht, und mahnte an, dass hierbei nur relevante Daten abgefragt werden dürfen.
Im Januar diesen Jahres war der Berliner Rechtsanwalt Ulf Wende in einer von der PDS beauftragten Studie sogar zu dem Ergebnis gekommen, dass die Arbeitsmarktreform in zehn Punkten dem Grundgesetz widerspricht. Unter anderem widerspreche Hartz IV aufgrund der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem Leistungsniveau der etwas veränderten bisherigen Sozialhilfe und dem Ausfall der Einmalleistungen dem Grundrecht auf Menschenwürde (Artikel 1), dem Sozialstaatsgebot (Artikel 20), dem Eigentumsschutz (nach Artikel 14) und dem Rechtsstaatsgebot (Artikel 20 und 28) des Grundgesetzes. Die Zumutbarkeitsregelungen von Hartz IV setzten den Artikel 12 ("Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden") und das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit des Einzelnen gemäß Artikel 2 ("Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit") des Grundgesetzes außer Kraft. Weitere Hartz IV-Maßnahmen beträfen den besonderen Schutz von Ehe und Familie (Artikel 6). Auch würden ältere Menschen und Frauen in besonderem Maße diskriminiert.
Hürden auf dem Weg zur Bundesverfassungsgericht
In dem pauschalen Widerspruchs-Schreiben für Hartz IV-Bezieher von Gert Flegelskamp werden noch folgende Verfassungsverstöße genannt: Die im § 35 des SGB II normierte Erbenhaftung verstößt gegen das Erbrecht Art. 14 Abs. 1 GG. Außerdem wird das Grundrecht auf rechtliches Gehör nach Art. 19 Abs. 4 GG verletzt, da Anfechtungsklagen oder eingelegte Widersprüche gegen die Bescheide der Agentur für Arbeit keine aufschiebende Wirkung mehr haben.. Somit sind die Bezieher des ALG II "nicht gegen willkürliche, unrichtige oder falsche Bescheide ordnungsgemäß im Sinne der Rechtstaatlichkeit geschützt." Da es für Menschen , die über 15 und unter 65 Jahre alt sind und drei Stunden am Tag arbeiten können, keine Sozialhilfe mehr gibt, sind die, die gegen Entscheidungen der Agentur für Arbeit den Rechtsweg beschreiten, bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Sozialgerichte von der Kulanz der für sie zuständigen Behörden abhängig. Für diese Zwischenzeit gibt es zur Regelung von Lebens- und Wohnkosten etc. keine gesetzliche Grundlage mehr. De facto wird also Langzeitsarbeitslosen, die sich wehren, die Lebensgrundlage entzogen.
Um das Gesetz vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen, müssen aber zuerst alle Rechtsmittel ausgeschöpft, d.h. zuerst ist gegen ALG II-Bescheide Widerspruch einzulegen und im Falle der Abweisung kann bei den Sozialgerichten Klage eingereicht werden. Erst wenn diese abgewiesen werden, steht der Weg vor das Verfassungsgericht offen.
Seit Februar 2004 hat jedoch der Bundesrat - "um der Flut aussichtsloser Gerichtsverfahren entgegenzuwirken" - die Einführung "sozialverträglicher" Sozialgerichtsgebühren (erste Instanz 75 Euro, zweite Instanz 150 Euro, dritte Instanz 225 Euro) beschlossen. Außerdem soll von Prozessparteien, soweit es sich nicht um Versicherte, Leistungsempfänger und Behinderte handelt, eine besondere Verfahrensgebühr in Höhe von 150 Euro vor den Sozialgerichten, 225 Euro vor den Landessozialgerichten und 300 Euro vor dem Bundessozialgericht erhoben werden..
Zwar findet sich in der Gesetzesnovelle der Passus, dass "Verfahren in Angelegenheiten der Sozialhilfe, die ab dem 1. Januar 2005 von der Verwaltungs- auf die Sozialgerichtsbarkeit übergehen werden, (...) weiterhin gerichtskostenfrei" sind, es ist aber bislang unklar, ob ALG II-Verfahren ebenfalls unter diese Ausnahmeregelung fallen. Man kann davon ausgehen, dass diese rechtlichen Unklarheiten für potentielle Kläger einen ausgesprochen abschreckenden Charakter besitzen, auch wenn hier nach wie vor rechtliche Möglichkeiten für eine Prozesskostenhilfe (Anrecht auf finanzielle Mittel für einen Kläger, der die Prozesskosten nicht auftreiben kann, wenn hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht) besteht. Weil diese rechtlichen "Unklarheiten" und möglichen Verfassungswidrigkeiten in der Praxis bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durchsetzbar bleiben, profitiert der Finanzminister möglicherweise noch viele Jahre von der mangelnden "handwerklichen" Güte des Gesetzes - zum Nachteil der Arbeitslosen .