Verfassungstreue oder Blaupause für eine Merkel-Präsidentschaft?

Frank-Walter Steinmeier. Foto: Stephan Roehl / Heinrich-Böll-Stiftung. Lizenz: CC BY-SA 2.0

Steinmeier will Justizministerin Lambrechts NetzDG-Verschärfung erst nach Änderungen daran unterschreiben

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will vor seiner Unterschrift unter die im Juni verabschiedete NetzDG-Verschärfung "die Verabschiedung einer […] Änderungsregelung durch Bundestag und Bundesrat abwarten" (vgl. Gesetz gegen Hass: Steinmeier drängt auf rasche Korrektur). Das geht aus einem Schreiben des Bundespräsidialamts an den Bundesrat hervor, welches der Süddeutschen Zeitung zugespielt wurde.

Evident verfassungswidrig

Hintergrund dieses Abwartens sind drei Gutachten, die das Gesetz gegen "Rechtsextremismus und Hasskriminalität" in seiner derzeitigen Form als evident verfassungswidrig einstufen. Eines stammt vom Freiburger IT-Rechts-Experten Matthias Bäcker, die beiden anderen vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages (vgl. Gesetz gegen Hassrede: Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags hat Bedenken).

Grundlage der Einstufung in diesen Gutachten ist unter anderem ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli, in dem es heißt, "auch Auskünfte über Daten, deren Aussagekraft und Verwendungsmöglichkeiten eng begrenzt sind", könnten "nicht ins Blaue hinein zugelassen werden", sondern bedürften "begrenzender Eingriffsschwellen, die sicherstellen, dass [sie] nur bei einem auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützten Eingriffsanlass eingeholt werden" (vgl. Verfassungsgericht: Staatlicher Zugriff auf Bestandsdaten muss begrenzt werden).

Die Regelungen, die das Bundesverfassungsgericht damit an einem anderen Gesetz beanstandete, finden sich teilweise wortgleich in der NetzDG-Verschärfung wieder. Sie sieht vor, dass Social-Media-Plattformen dem Bundeskriminalamt schon dann Daten ihrer Nutzer liefern sollen, wenn Ermittler noch gar nicht geprüft haben, ob ein Verdacht auf die Verletzung einer Strafvorschrift überhaupt begründet ist. Dass das nicht schon der Fall sein muss, wenn juristische Lauen es meinen, zeigen die Zahlen, die Christoph Hebbecker von der Zentralstelle für Cyberkriminalität im letzten Jahr offenbarte: Von "etwa 700 bis 800 Strafanzeigen" kam der Staatsanwalt bei ungefähr der Hälfte zu dem Ergebnis, dass kein Anfangsverdacht vorliegt.

Lambrechts Begründungsvolte

Justizministerin Christine Lambrecht, die den Gesetzentwurf zu verantworten hat, sagte die für gestern geplante Vorstellung eines weiteren Gesetzes "zur strafrechtlichen Erfassung der sogenannten verhetzenden Beleidigung" kurzfristig ab. Ihren Entwurf zu NetzDG-Verschärfung hatte sie im September auch dann noch verteidigt, als die Gutachten bereits bekannt waren und als bereits darüber spekuliert wurde, ob Steinmeier unterschreibt.

Den mit dem Meldezwang im Gesetz einhergehenden Druck auf die Meinungsfreiheit rechtfertigte sie mit einer bemerkenswerten Volte: "Wir erleben", so Lambrecht, "dass sich unglaublich viele Menschen durch Hasskommentare, durch Hetze im Internet zurückziehen [und] ihre Meinung nicht mehr äußern", weshalb die Meinungsfreiheit ohne weiteren gesetzlichen Druck auf die Meinungsfreiheit "in Gefahr" sei.

Zwei-Stufen-Änderung

Als Bundesjustizministern hat Lambrecht unter anderem die Aufgabe, alle Gesetzesvorlagen ihrer Ministerkollegen bereits im Kabinett auf ihre Verfassungskonformität zu prüfen. Ihre auch noch im September aufrecht erhaltene Position zur NetzDG-Verschärfung weckt einen - wenn man so will - "begründeten Anfangsverdacht", dass sie dieser Aufgabe trotz der 1984 und 1992 abgelegten juristischen Staatsexamen nicht ganz gewachsen sein könnte. Ob das Konsequenzen haben wird, ist angesichts der eher zurückhaltenden Rücktrittskultur, die sich in den Bundeskabinetten der letzten 15 Jahre entwickelt hat, trotzdem fraglich.

Wahrscheinlicher ist, dass Lambrecht ihr Gesetz in leicht veränderter Form noch einmal vorlegt. Das könnte zum Beispiel dadurch geschehen, dass die Social-Media-Plattformen zwar noch massenhaft Postings an das Bundeskriminalamt weiterleiten müssen, aber die Nutzerdaten erst freischalten dürfen, wenn man dort einen Anfangsverdacht vorliegen sieht (vgl. Bundestag: Pflicht für Verdachtsmeldungen ans BKA und Passwortherausgabe).

Tradition und Macht

Steinmeier ist nicht der erste Bundespräsident, der ein Gesetz nicht unterschreibt. Bislang geschah das in der 71-jährigen Geschichte der Bundesrepublik allerdings nur acht Mal. Ein komplettes Novum ist, dass der Bundespräsident dazu noch gleich die Anweisung gibt, Änderungen "möglichst unverzüglich zu erarbeiten und einzubringen". Das zeigt, dass das Machtpotenzial dieses Amts bislang noch nicht ausgeschöpft wurde.

Diese Tradition des Nichtausschöpfens entwickelte sich unter anderem deshalb, weil es in der Frühzeit der Bundesrepublik einen sehr machtbewussten Kanzler und zwei eher zurückhaltende Bundespräsidenten gab. Wäre Konrad Adenauer 1949 Bundespräsident und nicht Bundeskanzler geworden, sähe die praktische Machtverteilung heute vielleicht anders aus.

Aber Traditionen lassen sich ändern. Und sie ändern sich im Laufe der Geschichte auch praktisch. Womöglich noch nicht so sehr durch Steinmeier, als durch einen seiner Nachfolger. Wird beispielsweise Angela Merkel nach ihrem für das nächste Jahr angekündigten Abgang als Kanzlerin Bundespräsidentin, dann könnte sie auf diese Weise die Zügel der Macht in der Hand behalten - vorausgesetzt, der Kanzlerkandidat, für den sich die Union entscheidet, ist handzahm genug.

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