Vergebung für einen Terroristen
Das Vereinigte Königreich, die IRA und ein Filmskandal, Teil 2
Teil 1: Gebet für einen Sterbenden
Seit den britischen Parlamentswahlen paktiert Theresa May mit der Democratic Unionist Party, um noch eine Weile lang an der Macht zu bleiben. Das gefährdet den Friedensprozess in Nordirland. Es gibt erste Warnungen, dass wieder Bomben explodieren könnten - gebaut nicht von Islamisten, sondern von Katholiken und Protestanten. Dem Film A Prayer for the Dying, der vor 30 Jahren einen Skandal rund um schöpferisches Eigentum, Investorenrechte und angebliche Sympathien für die IRA auslöste, haben die jüngsten Ereignisse zu einer ungewollten Aktualität verholfen.
Von Stars, Viehhändlern und Kinogehern
Es kann nicht schaden, sich bewusst zu machen, wem wir das Starsystem verdanken, das Fundament der in Hollywood perfektionierten Filmindustrie: Carl Laemmle, dem aus dem schwäbischen Laupheim stammenden Sohn eines Viehhändlers, der in die USA auswanderte und die Universal gründete, nachdem er im Textilgewerbe Karriere gemacht hatte. Laemmle hatte wenig Ahnung vom Filmemachen, wusste aber, wie man Schaufenster dekoriert und ein Produkt bewirbt. Stars waren für ihn wie Kleiderständer, und am liebsten produzierte er Filme, deren Protagonist ein Hund war, weil sie beim Publikum gut ankamen und man den Hauptdarsteller leicht austauschen konnte, wenn es Probleme mit dem Besitzer gab.
Manchmal werden diese Wurzeln des Hollywoodkinos wieder sichtbar, und mitunter mutet es absurd an, was dabei zum Vorschein kommt. Der Vater von Samuel Goldwyn Jr. reiste bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs einmal im Jahr durch Europa, um gut proportionierte junge Damen zu entdecken, die er dem amerikanischen Publikum als "die neue Dietrich", "die neue Garbo" und so weiter präsentierte. Goldwyn der Jüngere gründete 1979 die Samuel Goldwyn Company, um die Integrität und den Ehrgeiz des väterlichen Werkes zu bewahren und fortzusetzen, wie es in einer Verlautbarung hieß.
Für Prayer heuerte der Junior einen Schauspieler an, der durch Rumble Fish, The Pope of Greenwich Village und Nine ½ Weeks zum Star geworden war und als "der neue Marlon Brando" gehandelt wurde: Mickey Rourke. Nachdem Goldwyn und sein in England ansässiger Co-Produzent Peter Snell kurz vor Drehbeginn den Regisseur gefeuert hatten engagierten sie Mike Hodges, um die eine Million Dollar nicht zu verlieren, die sie Rourke unabhängig davon zahlen mussten, ob ein Film entstand oder nicht. Hodges geriet bald zwischen die Fronten, weil es nun Streit zwischen Rourke und Goldwyn gab.
Nach einer sehr kurzen Vorbereitungszeit liefen die Dreharbeiten zunächst reibungslos. Dann ließ sich Goldwyn Jr. die ersten Muster zeigen und war unzufrieden mit der Leistung des Hauptdarstellers (siehe Teil 1). Rourke verstrickte sich in einen Kleinkrieg mit dem Produzenten und ließ dessen Vertreter vor Ort vom Set werfen, während Goldwyn erfolglos nach Gründen suchte, wie er den Star durch einen anderen ersetzen und den Vertrag mit der Millionengage stornieren könnte. Mike Garfath, der Kameramann, erinnert sich, dass die Arbeit öfter unterbrochen wurde, weil der Regisseur wieder einmal mit dem Produzenten in Amerika telefonieren musste.
Trotz dieser Widernisse beendete Hodges die Dreharbeiten wie geplant im Dezember 1986 - im vorgegebenen Zeitrahmen und innerhalb des Gesamtbudgets in Höhe von sechs Millionen Dollar. Ende Februar 1987 war seine Schnittfassung fertig. Er übergab sie an Peter Snell, der sie an seinen amerikanischen Partner weiterreichte. Dann traten die Sachwalter des imaginären Zuschauers in Aktion, der immer herhalten muss, wenn ein Film gegen den Willen des Regisseurs geändert wird. Diesen Zuschauer müssen wir uns als einen ziemlich dummen, zumindest aber denkfaulen Menschen vorstellen, der anspruchslose, linear und nach Schema F erzählte Geschichten sehen will.
Der amerikanische Zuschauer ist noch etwas denkfauler als der europäische, weshalb besonders Samuel Goldwyn Jr. darauf bestand, den Film umzuschneiden, im Interesse des Publikums, versteht sich. Dieses Publikum hat dabei selten eine Wahl, weil im Kino üblicherweise nur läuft, was Produzenten und Verleiher dem von ihnen konstruierten Zuschauer zumuten wollen. Durch Gewöhnung nähern sich der imaginäre und der real existierende Zuschauer im Laufe der Zeit einander an. So schafft man sich seine eigene Wirklichkeit, wenn man am längeren Hebel sitzt.
Zwei bis drei Minuten weniger
Normalerweise spricht ein Produzent mit dem Regisseur über Änderungswünsche. Im Idealfall kommt eine allgemein befriedigende Lösung dabei heraus, und man kann Beispiele dafür nennen, dass ein Film dadurch besser wurde (und Beispiele für das Gegenteil). Hodges konsultierte keiner mehr, nachdem er seine Version abgegeben hatte. Im Juli sah er, was aus seiner Fassung geworden war: "Der Film war komplett umgeschnitten worden, man hatte die Musik und den Ton durch etwas anderes ersetzt. Die Atmosphäre war weg - sie hatten sich für ein routiniertes Filmemachen mit dem Tempo einer Fernsehserie entschieden."
Peter Snell war bemüht, die Sache herunterzuspielen. Er machte geltend, dass man nur zwei bis drei Minuten herausgeschnitten habe, womit er sagen wollte: Was soll die Aufregung? Zwei bis drei Minuten, das könnte tatsächlich hinkommen. Angesichts dessen klingt "komplett umgeschnitten" übertrieben, doch Hodges’ Gefühlslage gibt es treffend wider. Wir sehen nicht eine Einstellung, die er nicht selbst gedreht hat, wohl aber ganze Szenen, die er weggelassen hatte. Manches ist umgestellt, Montagen sind gestrafft und den Schnittregeln Hollywoods angepasst. Es hätte - quantitativ betrachtet - schlimmer kommen können. Und doch hat sich viel verändert, nicht nur die Atmosphäre.
Die Mehrzahl der Filmkritiker hielt es mit Peter Snell. In den zeitgenössischen Besprechungen (und in den Blogs unserer Tage) wird mal direkt und mal zwischen den Zeilen der Zweifel daran geäußert, dass sich der Director’s Cut und die Produzentenfassung wesentlich voneinander unterscheiden könnten. Es ist aber pure Spekulation, von einer Version auf eine andere zu schließen, die man nicht kennt. Viele der Kombattanten focht das nicht an. Sie bildeten sich schon eine Meinung, bevor sie wenigstens die Produzentenfassung gesehen hatten. Für die Zunft der Filmkritiker ist das kein Ruhmesblatt.
Als Prayer in den USA gefloppt war und Snell in England noch von den Mühen sprach, mit denen man dem Film das vom amerikanischen Zuschauer verlangte Tempo gegeben habe (weshalb dann auch der Rest der Welt diese Fassung sehen durfte und keine andere), schlug Goldwyn Jr. eine neue Richtung ein und erklärte sich zum Kämpfer für Vielfalt und nationale Eigenheiten. Er sehe seine Aufgabe darin, teilte er nun mit, britische Regisseure zu ermuntern, an sich und ihre Fähigkeiten zu glauben, statt kopieren zu wollen, was auf dem amerikanischen Markt Erfolg hatte.
Für Hodges war die gekürzte und neu montierte, seiner Tonspur und der Musik von John Scott beraubte Version von A Prayer for the Dying nicht mehr sein Film. Snell hatte ihm ursprünglich versprochen, seinen Namen zurückziehen zu dürfen, falls er das wünschen sollte, hielt sich aber nicht an die Zusage. Als Reaktion darauf engagierte Hodges erstmals in seiner Karriere eine Presseagentur. Er wollte den Kollegen mitteilen, dass das, was da unter seinem Namen lief, nicht sein Film war. Eine entsprechende Notiz sollte die Agentur in Fachblättern wie Variety unterbringen. Das war nicht die beste aller Ideen, weil sich die Dinge nun verselbständigten.
Die Agentur interpretierte den Auftrag anders als ihr Kunde und schickte die Pressemitteilung auch an alle überregionalen britischen Zeitungen. Damit ging im Vereinigten Königreich die Debatte über einen Film los, den bis dahin kaum jemand kannte. Die Auseinandersetzung verschärfte sich, als Sheila Whitaker, die neue Chefin des London Film Festival, A Prayer for the Dying als Eröffnungsfilm auswählte. Das sorgte schon im Vorfeld für heftige Kontroversen. Dabei wurde nicht nur über Kunst und Kommerz gestritten. Es gibt alte Fernsehaufnahmen, in denen ein wütender Mike Hodges seine Sicht der Dinge schildert.
Das ist noch heute durchaus packend, weil man als Making-of-Geschädigter nie einen Regisseur erlebt, der sich nicht arrangiert hat und routiniert die von ihm erwarteten Lobhudeleien abspult, sondern für sein Werk einsteht und gegen Leute aufbegehrt, die es ohne seine Mitwirkung, ohne sein Einverständnis und nach eigenem Gutdünken geändert haben. Der Eklat war Gift für Hodges’ Karriere. Fortan war er als "schwierig" abgestempelt, oder als "hochemotional", wie Snell es formulierte. In einem vom Kommerz regierten Umfeld wie der Filmindustrie vertraut man so einem nur ungern sein Geld an.
"Wenn dem Regisseur nicht erlaubt wird, die Anordnung der Bilder und Töne zu kontrollieren, die er geschaffen hat", sagt Hodges, "kann diese Person nicht länger als der Regisseur betrachtet werden." Darum wollte er seinen Namen entfernt haben. "Diese Sache mit dem Entfernen seines Namens", so Snell, "ist in unserem Geschäft schlicht nicht praktikabel. Jeder, der sechs Millionen Dollar zur Verfügung stellt, um einen Film zu machen, hat das absolute Recht, den Film am Ende des Tages auf jede Art und Weise zu ändern, die ihm gefällt." In dieser Deutlichkeit hört man das selten.
Hodges sollte akzeptieren, dass die Geldgeber an seiner Fassung änderten, was ihnen nicht gefiel, dann aber mit seinem Namen für eine Version einstehen, die er zurückwies, weil es so am besten für die Geschäfte war. Die Schauspieler waren auf Hodges’ Seite. Bob Hoskins und Alan Bates protestierten gegen die Entscheidung der Produzenten. Nachdem sie beide Fassungen gesehen hatten forderten sie vergeblich, den Director’s Cut ins Kino zu bringen. Mickey Rourke distanzierte sich von der Produzentenfassung, die versucht, eine komplexe Charakterstudie in einen geradlinig erzählten Hollywoodthriller zu verwandeln.
Blutiges Erinnern
Sheila Whitaker war mit dem Ziel angetreten, das eher elitäre Festival für ein breiteres Publikum zu öffnen und es politischer zu machen. A Prayer for the Dying schien ihr als Eröffnungsfilm bestens geeignet, weil er ein spannender Thriller mit einem amerikanischen und zwei britischen Stars war und weil man den Film als Einladung zu einer dringend erforderlichen Diskussion über den Nordirlandkonflikt begreifen konnte, die von signifikanten Teilen der britischen und auch der irischen Gesellschaft verweigert wurde. Damit setzte sie sich doppelt in die Nesseln.
Zuerst musste sie sich gegen den Vorwurf wehren, die Erfüllungsgehilfin selbstherrlicher Produzenten zu sein. Dann flog ihr das Ganze vollends um die Ohren, womit wir von der Kunst zur Politik kommen. Die Information, dass Mickey Rourke einen Provo spielte, reichte aus, um die Gemüter in Wallung zu bringen. Ein Teil des Ärgers war der Terminierung geschuldet. Der Beginn des Festivals fiel in die Remembrance Week, die Woche der Erinnerung. Am zweiten Sonntag im November gedenkt man in Großbritannien der Gefallenen der beiden Weltkriege und späterer Konflikte, am 11. November des Waffenstillstandsabkommens zwischen den Alliierten und dem deutschen Kaiserreich.
1987 war der Armistice Day ein Mittwoch und der Tag mit der Eröffnungsgala des London Film Festival. Der Erste Weltkrieg, dessen Ende man da alljährlich feierte, hatte zwar auch mit der Geschichte der IRA zu tun (siehe Teil 1, Osteraufstand 1916), doch um solche Feinheiten ging es längst nicht mehr. Whitaker wurde der Taktlosigkeit und der Verhöhnung der Opfer geziehen, weil sie an diesem Tag einen Thriller zeigen wollte, der gerüchteweise den Terror verherrlichte, oder vielleicht auch nicht, denn so genau ließ sich das ohne Kenntnis des Films nicht sagen, aber das war jetzt auch schon egal.
Dann beging die IRA im nordirischen Örtchen Enniskillen einen Anschlag, der als einer ihrer schlimmsten gilt. Wie in diesem Konflikt üblich hat man diverse Gewalttaten zur Auswahl, wenn man auch die Vorgeschichte erzählen will. Man kann zum Beispiel im April 1987 beginnen, als die Ulster Volunteer Force in Belfast Laurence Marley erschoss. Marley hatte wegen seiner IRA-Aktivitäten mehrere Gefängnisstrafen verbüßt und sich der Organisation nach seiner Haftentlassung wieder angeschlossen, wie die UVF behauptete. Darum wurde er getötet.
Die IRA tötete im Gegenzug den UVF-Mann William Marchant, der ihrer Überzeugung nach an Marleys Erschießung beteiligt gewesen war. Zwischen diesen beiden Morden zerfetzte in der nordirischen Grafschaft Armagh eine Bombe Lord Maurice und Lady Cecily Gibson, die aus dem Urlaub nach Hause fuhren. Lord Justice Gibson war in den Augen der IRA einer jener Richter, die das Rechtssystem pervertierten, um die britische Kolonialherrschaft in Nordirland zu zementieren (unter anderem hatte er drei Polizisten freigesprochen, die angeklagt waren, einen IRA-Mann ermordet zu haben).
Eine Abteilung des Special Air Service wollte wohl ein Exempel statuieren, als sie bei einer Abhöraktion erfuhr, dass die IRA einen Anschlag auf das Polizeirevier in Dorf Loughgall in Armagh plante. Der SAS legte einen Hinterhalt und richtete ein Blutbad an wie in einem Peckinpah-Film. Als acht IRA-Männer mit einer Bombe anrückten eröffnete der SAS das Feuer. Die Bombe explodierte. Danach schossen die SAS-Leute immer weiter auf die Terroristen, bis keiner mehr am Leben war. Getötet wurde auch ein Zivilist, der sich zufällig in der Nähe aufgehalten hatte.
In diesem Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt wusste schon lange keiner mehr, wer irgendwann angefangen hatte und warum. Aufhören wollte aber keiner. Im Juni ermordete die IRA den 20-jährigen Joe McIlwaine, einen Angehörigen des Ulster Defence Regiment (UDR), das aufgestellt worden war, um das Leben und den Besitz der Nordiren gegen bewaffnete Angriffe und Terrorakte zu schützen. Im August wurde in Belfast der katholische Familienvater Michael Power getötet, als er auf dem Weg zum Gottesdienst war. Das war die Rache der Unionisten.
Die Antwort der IRA folgte am 8. November, am Remembrance Sunday. In Enniskillen organisierte die UDR eine Parade, die zum örtlichen Kriegerdenkmal führen sollte. Dort versteckten Provos einen Sprengsatz. Die Bombe ging zur falschen Zeit hoch und brachte eine Hauswand zum Einsturz. Die Wand begrub die Menschen unter sich, die vor ihr standen, um die Gedenkveranstaltung zu sehen. Anstelle von Soldaten, wie geplant, starben zehn Zivilisten und ein Polizist.
Die IRA, die danach einräumte, einen Fehler gemacht zu haben, kostete die Bluttat von Enniskillen viel Rückhalt in der Bevölkerung. Auch Katholiken hatten zunehmend genug von einer Logik, der zufolge der Anschlag ein Erfolg gewesen wäre, wenn die "richtigen" Opfer gestorben wären, und eine 40 Pfund schwere Bombe, die zwischen Soldaten und Zivilisten unterscheidet, gibt es ohnehin nicht. Gerry Adams, der Chef der Sinn Féin, entschuldigte sich 1997 im Namen der republikanischen Bewegung für das Blutbad. Das war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Karfreitagsabkommen von 1998.
Drei Tage nach der Explosion sollte das London Film Festival mit der britischen Uraufführung von A Prayer for the Dying eröffnet werden. Hodges’ Film beginnt damit, dass ein von Mickey Rourke und Liam Neeson geführtes Kommando der Provos britische Soldaten in die Luft sprengen will und stattdessen Schulkinder tötet. Das war wie in Enniskillen, nur dass dort überwiegend Rentner starben. Das Festival wurde nun mit Nikita Michalkows Schwarze Augen eröffnet, einer Verfilmung mehrerer Geschichten von Anton Tschechow.
Der Anschlag von Enniskillen ist das verbindende Element in den Biographien von Jeremy Corbyn, Sheila Whitaker und Mike Hodges. Corbyn wurde damals (und 2017 wieder) dafür geschmäht, dass er trotz solcher Gewalttaten bereit war, mit irischen Nationalisten wie Gerry Adams zu sprechen und sich für unschuldig Verurteilte einsetzte. Whitakers Vorhaben, das Festival mit Prayer zu eröffnen, wurde zum unverzichtbaren Bestandteil der Nachrufe, die später auf sie geschrieben wurden. Hodges war nun der Regisseur eines Skandalfilms, dem heute noch der Ruf anhaftet, die Gewalt der IRA irgendwie gutzuheißen - wenn nicht in der Kinoversion, dann eben im Director’s Cut.
Zu viel katholische Kirche für ein protestantisches Amerika
Prayer bot nicht nur den von Whitaker gewünschten Gesprächsstoff, der Film war zu nahe an der Wirklichkeit. Bevor er Priester wurde war der von Jack Higgins, dem zur Melodramatik neigenden Autor der Romanvorlage, erdachte Michael da Costa beim SAS, jener durch das Gemetzel von Loughgall wieder einmal ins Gerede gekommenen Spezialeinheit, die wegen ihrer Brutalität gefürchtet war. Hodges war das zu dick aufgetragen. Der Director’s Cut belässt es bei Andeutungen zum militärischen Hintergrund da Costas. In der Kinoversion ist wieder eingefügt, was bei Hodges im Schneideraum geblieben war.
Die Vergangenheit des Priesters wird dadurch martialischer als für die Geschichte nötig. Das ist einer der untauglichen Versuche, auf dem Umweg über die Figuren aus dem Drama einen Actionfilm zu machen, mit Gangstern, Terroristen und einem ehemaligen SAS-Mann, der im Koreakrieg war und fünf Jahre in einem chinesischen Foltergefängnis verbracht hat. In der Kinoversion wirkt das aufgesetzt und spekulativ. Problematisch ist auch, dass die Hauptfigur der Gewalt abschwört und dann im Auftrag von Jack Meehan dessen Konkurrenten erschießt.
Drehbuch wie Romanvorlage verwenden einige Zeit darauf, das zu motivieren. Fallon will eigentlich nur abhauen, nach Übersee, braucht dafür aber falsche Papiere. Die soll ihm der Waffenhändler Kristou liefern. Meehan sorgt dafür, dass es Pass, Geld und eine Schiffspassage nur im Austausch für den Mord gibt. Als Fallon darauf nicht eingeht zwingt Meehan Kristou, den flüchtigen Provo an die Polizei zu verraten. Eine Antiterroreinheit macht nun Jagd auf Fallon.
Derart in die Enge getrieben nimmt Fallon den Auftrag doch noch an. Getarnt als Priester schießt er Krasko in den Kopf. Rotes Blut spritzt auf eine weiße Marienstatue. Das ist eines von vielen religiösen Bildern, die den Film durchziehen. In der Kinoversion ist die christliche Ikonographie noch da, allerdings in reduziertem Umfang. Wenn man aus einer Kette von Bildern einzelne Glieder entfernt ändert man Bedeutung und Zusammenhang. Die Kinofassung ist mehr an Schauwerten interessiert als am Kontext, aus dem sich der tiefere Sinn ergibt.
Ich würde sagen, dass es für Goldwyns Geschmack zu viel Religion gab in A Prayer for the Dying. Fallon, Meehan, Pater da Costa - alles Katholiken in einem Film, den er in den protestantisch geprägten USA verkaufen wollte. Also wurde das Religiöse reduziert, auch auf der Tonspur. Im Director’s Cut hört man mehrfach Kirchenglocken, was nicht verwunderlich ist, weil viele Szenen in einer Kirche spielen. In der Kinoversion ist das Läuten leiser geworden, oder man hört es gar nicht mehr. Dafür hört man die Musik von Bill Conti. Das ändert die Atmosphäre. Man sieht die Kirche, doch akustisch ist sie nun weniger präsent.
Tote Kinder und Hitchcocks Eltern
Die Produzentenversion kommt flott zur Sache. Pater da Costa geht durch den Friedhof. Er trägt seinen Priesterornat, hat ein Gebetbuch in der einen und einen Schirm in der anderen Hand, wird Zeuge des Mordes. Es hat aufgehört zu regnen. Krasko kniet am Grab seiner Mutter. Fallon tritt hinter ihn, peng (kleines peng, mit Schalldämpfer), Blut spritzt, Auftrag ausgeführt. Fallon ist als Priester verkleidet, weil er darauf spekuliert, dass sich mögliche Beobachter nur an einen Mann in einer Soutane erinnern werden. Da Costa nimmt die Tat anders wahr, weil er selbst Priester ist, konzentriert sich auf das Gesicht des Täters.
Fallon legt auf da Costa an, will aber keinen Priester töten, hebt die Patronenhülse auf und verlässt den Tatort. Da Costa bleibt mit dem sterbenden Krasko zurück. Nur: Warum ging er überhaupt durch diesen Friedhof? Weil Pfarrer das nun mal so machen? So einfach ist es nicht. In der Kinoversion ist der Pfarrer da nur unterwegs, weil durch den Zeugen zwei dramatische Konflikte eröffnet werden. Einer von Meehans Männern beobachtet den Mord und die Komplikationen. Meehan verlangt von Fallon, auch da Costa umzubringen. Fallon weigert sich. Da Costa verweigert der Polizei gegenüber die Aussage, nachdem Fallon den Mord gebeichtet hat (vgl. Hitchcocks I Confess). So kann die Geschichte weitergehen.
Im Director’s Cut hat der Mord ein Vorspiel. Wir sehen eine Beerdigung. Der Friedhof ist genau charakterisiert, als Teil der Großstadt London, und nicht, wie in der Kinoversion, auf Grabsteine und Statuen reduziert. Wer schon mal auf der Central Line zwischen den U-Bahn-Stationen Leyton und Leytonstone unterwegs war - vielleicht, um zu sehen, wo Alfred Hitchcock geboren wurde und aufwuchs - ist an dem riesigen Friedhof vorbeigefahren. Gedreht wurde im katholischen St. Patrick’s Cemetery. Hitchcocks Eltern sind hier begraben und Mary Jane Kelly, das fünfte Opfer von Jack the Ripper, was auf die Phantasie des jungen Alfred sehr anregend wirkte (und sich in Filmen wie The Lodger niederschlug).
Hodges hat sich für einen Platz am Rand des Friedhofs entschieden, damit in ein paar Metern Entfernung die U-Bahn vorbeirattern kann, mit der die Stimme des Priesters konkurrieren muss. Im Director’s Cut gibt es ein Nebeneinander von Diesseits und Jenseits, uralten religiösen Konzepten und moderner Alltagswirklichkeit. Mit dem Zug wird wieder aufgenommen, was im Prolog (siehe Teil 1) begonnen hat, mit dem Traktor des falschen Bauern (im Friedhof wird gleich ein falscher Pfarrer auftreten), mit dem in die Luft gesprengten Schulbus und dem Fluchtauto der Provos.
Fahrzeuge sind wichtig in einem Film, der von der letzten - auch spirituellen - Reise eines Sterbenden erzählt. Wer die U-Bahn entfernt und die Geräusche der diversen Vehikel durch Musik verdrängt beschädigt eine sorgfältig geknüpfte Kette von Assoziationen. Auch die Beerdigung ist wichtig. Nach den Szenen mit Kristou und Meehan und einer Fallon geltenden Polizeirazzia ist irgendwie nachvollziehbar, warum der Provo Krasko in den Kopf schießt, obwohl er nicht mehr töten wollte. Wirklich überzeugend ist es nicht. Hodges geht das Problem offensiv an, statt so zu tun, als wäre es nicht da.
Begraben wird ein totes Mädchen in einem Kindersarg. Das erinnert an die nordirischen Schulmädchen, die Fallon bei der vermurksten IRA-Operation in die Luft gesprengt hat, weshalb er nie mehr töten wollte. Jetzt wird er gleich wieder morden und einen weiteren Kreislauf der Gewalt in Gang setzen, an deren Ende es mehrere Tote geben wird, ihn selbst inklusive. Bei Hodges ist das voll bitterer Ironie. Seine Version ist durchdachter und außerdem atmosphärischer, weil er sich Zeit lässt, eine Stimmung zu etablieren und weil die Welt ihren Klang behält, statt in Contis gefällige Kompositionen getaucht zu werden.
Da Costa spitzt Weihwasser auf den Kindersarg, verschluckt vom prasselnden Regen. Nach der Beerdigung, wenn der Regen nachlässt, hören wir die Tropfen, die von einer steinernen Pietà in eine Pfütze fallen. Der Himmel klart auf, Vögel singen. Dann setzt die zurückhaltende, akzentuierende statt sich wie ein Teppich über das Geschehen legende Musik von John Scott ein, indem sie den Klang der Tropfen aufnimmt. Wenn Fallon dem Gangster Krasko in den Kopf schießt rattert wieder eine U-Bahn vorbei. Die Produzentenfassung ersetzt das Rattern des Zuges durch Contis anschwellende Spannungsmusik.
Dadurch wird der Effekt, wenn Kraskos Blut auf die Marienstatue spritzt, ein anderer. Die Gewalt wird ästhetisiert. Das fürchterliche Stöhnen des Sterbenden überhört man leicht, weil die Musik so dominant ist. Der Sarg des kleinen Mädchens, das bei Hodges beigesetzt wird, fungiert als Überschrift für die gesamte Mordszene ("Tote Kinder") und als Kommentar. In Nordirland sprengt Fallon die Schulmädchen in die Luft. In London tötet er Jan Krasko. Kristou gibt Fallon die Mordwaffe, und eine Entschuldigung liefert er gleich mit. Krasko ist ein brutaler Verbrecher, ein Zuhälter und Drogendealer. Die Welt wird zum besseren Ort, wenn er tot ist. Dem mag so sein. Hodges lässt solche Ablenkungsmanöver aber nicht gelten.
Die Pietà, von der der Regen tropft, bevor Tropfen von Kraskos Blut die Jungfrau Maria besudeln, zeigt eine Mutter mit ihrem toten Sohn. Krasko ist ein alter Mann und doch auch ein Kind, der Sohn seiner Mutter, deren in den Grabstein eingelassenes Photo er küsst, bevor Fallon auf ihn schießt. Das unterläuft die Rechtfertigungsstrategien, mit denen der Wert eines Menschenlebens kategorisiert wird, mit deren Hilfe die Mörder begründen, wer getötet werden darf und wer nicht: Katholiken oder Protestanten, Kinder oder Erwachsene, ehrbare Bürger oder Gangster, Jesus Christus (in dessen Namen auch ordentlich gemordet wurde) oder die beiden Räuber, die man mit ihm kreuzigte.
Courage, Bier und blinde Wut
Unabhängig davon, wer erschossen wird: Das Töten eines Menschen, sagt der Film, führt nur zu weiterer Gewalt. Durch den Mord an Krasko wird die Welt nicht besser. Vielmehr gerät der unschuldige da Costa ins Visier der Gangster. Meehan schickt ein paar Männer, die seine Kirche anzünden sollen. Da Costa löscht daraufhin das Feuer, nicht seine Wut. Er geht zu Meehans Stammkneipe, um ihn zur Rede zu stellen. Bei Hodges gibt es auf der Tonspur ein Klavier, die Stimmen der Gäste und das Signalhorn eines Schiffs, weil die Kneipe direkt an der Themse liegt. Wir sind im East End, auf der Isle of Dogs, und so hört es sich auch an.
In der Kinoversion fleht eine Violine, damit wir gleich wissen, wie traurig das alles ist. Selber denken ist unerwünscht. Meehan lässt da Costa aus dem Pub werfen. Bei den Mülltonnen vor der Kneipe verliert da Costa die Kontrolle über sich und den aufgestauten Ärger. Hier braucht man die SAS-Vergangenheit des Priesters, weil sie erklärt, warum ihm zwei Gangster und ein Barmann nicht gewachsen sind. Wie von Sinnen prügelt da Costa auf die hilflos wirkenden Männer ein. Das verbindet ihn mit Fallon. Beide sind Profis, die keine mehr sein wollen; beide haben der Gewalt abgeschworen; beide werden rückfällig.
An der Fassade des Pubs ist in großen Leuchtbuchstaben das Wort COURAGE angebracht, das früher an vielen Londoner Kneipen zu sehen war. Mit dem Schriftzug "Take Courage" wurden Passanten nicht dazu aufgefordert, Mut zu fassen, sondern im Pub ein dort ausgeschenktes Bier der einst von John Courage gegründeten Brauerei zu trinken. Heute könnte man anhand der Leuchtreklame vom Thatcherismus und von der Gentrifizierung der Docklands erzählen. Das alte Anchor Brewhouse, in dem das Courage-Bier gebraut wurde, steht noch (gleich unterhalb der Tower Bridge), wurde aber in den 1980ern in Luxusapartments umgewandelt.
Hodges reduziert COURAGE durch die Wahl des Bildausschnitts auf RAGE. Man kann diesen Regieeinfall zu plakativ finden. Was ausformuliert ziemlich bemüht klingt (aus dem Mut, den da Costa braucht, um dem Gangster gegenüberzutreten, wird die blinde Wut), ist visuell aber sehr effektiv, als Beleuchtung und als Kommentar zur Szene bei den Mülltonnen. Vor den vier Buchstaben, R-A-G-E, steht Jack Meehan im feinen Anzug und mit seidener Krawatte. Er beobachtet da Costas Ausraster, bleibt ganz kühl und sagt: "Ich glaube, Sie wissen nicht genau, wer ich bin … Pater."
Der Film hat da ein spannendes Dreiecksverhältnis konstruiert. Der Gangster, der sich selbst als Geschäftsmann sieht, ist eiskalt und vertritt die profitorientierte Art der Gewalt. Der Priester ist ein Idealist, der vor dem Pub so in Rage gerät, dass er wild um sich schlägt. Fallon ist das Bindeglied. Als IRA-Kämpfer hat er ebenfalls als Idealist angefangen, aber beim Töten ist er der abgeklärte Profi, oder zumindest spielt er diese Rolle, und als Meehans Auftragskiller tötet er für den ungestörten Fortgang der Geschäfte und zum eigenen Vorteil, nicht für sein Ideal von einem perfekten Irland (für den Mord an Krasko, Meehans Konkurrenten, kriegt er Geld und einen falschen Pass).
Die Frontlinien werden auf diese Weise so unübersichtlich, wie Hodges sie haben will. Das dient nicht der Relativierung der Gewalt. Es macht es vielmehr schwieriger, sich selber von ihr freizusprechen und sie den anderen zuzuschieben. Die Kinoversion leidet darunter, dass da ohne Rücksicht auf Verluste gekürzt wurde. Im Director’s Cut wird die RAGE-Szene im Beichtstuhl vorbereitet. Fallon tut sich schwer, die richtigen Worte zu finden. Leichter wäre es, sagt er, wenn er mit da Costa bei einem Glas Bier im Pub sitzen und sich aussprechen könnte. Bier und Pub bringen dann zwar den Priester und den Gangster zusammen, doch Fallon ist zumindest gedanklich mit dabei.
Da, wo da Costa über sich und seine Brutalität erschrickt und wo in der Kinoversion die schluchzende Geige wieder einsetzt sind im Director’s Cut kurze Flashbacks eingefügt. Wir sehen Kraskos Blut, das auf die Marienfigur spritzt und Fallon, der mit der Pistole auf den Priester zielt, ohne abzudrücken. Im Friedhof hat alles angefangen. Inzwischen ist da Costa vom Zeugen einer Gewalttat zum Täter geworden. Das stürzt ihn in eine Krise. Der Director’s Cut ist dichter, handwerklich besser und vielschichtiger als die Kinoversion, deren Bearbeiter weder solche Flashbacks wollten noch zu viel Gerede bei der Beichte.
Ein Ave Maria für das Bestattungsinstitut
Manchmal könnte man fast meinen, dass es den Produzenten vor allem darauf ankam, sich von Hodges’ Umgang mit dem Ton zu distanzieren. Nach dem Mord an Krasko fährt Varley, der das Ganze beobachtet hat, zu Meehans Bestattungsinstitut, um dem Boss und seinem Bruder Billy zu berichten, dass Fallon den Auftrag ausgeführt hat und es mit Pater da Costa einen Zeugen gab. Der Dialog der Gangster darf ohne Musik von Bill Conti stattfinden. Bei Hodges dagegen hört man im Hintergrund eine traurig-erhebende, von einer Frauenstimme gesungene Weise, mit der John Scott das Kunststück fertig bringt, Fahrstuhlmusik und Kirchenlied zu kombinieren.
Meehan beschallt damit sein Beerdigungsinstitut in Endlosschleife, weil er denkt, dass so die pietätvolle Atmosphäre entsteht, die seine Kunden erwarten, wenn sie einen Sarg kaufen. Die Musik korrespondiert sehr schön mit dem Religionskitsch, der den Hintergrund für das Gespräch der Gangster über Mord und Geschäft abgibt: einem aufgemalten Himmel, mit den Strahlen des göttlichen Lichts, die durch die Wolken dringen. Wer hier wohl erleuchtet wird? Dem Gangsterboss ist jedenfalls die Vorfreude anzumerken, weil er an dieser Stelle der Handlung noch erwartet, dass Fallon zu da Costas Kirche gegangen ist, um nun auch den Priester umzubringen. Scheinheiligkeit ist eines der Themen von Hodges’ Film.
Einmal betritt Meehan den Verkaufsraum. Zur vollen Stunde läuten die Glocken von Big Ben. Das ist Teil der Selbstdarstellung. Meehan präsentiert sich der Kundschaft als Londoner Geschäftsmann, als Lokalpatriot und Stütze der Gesellschaft. Bonati, im Zweitberuf ein Gangster, trägt eine Plastikschürze wie ein Metzger und besprüht die Blumenbouquets mit Wasser. Meehan drückt einen Knopf. Einer der Särge beginnt sich zu drehen, die Musik geht los. Bonati reicht dem Chef eine frische Nelke für sein Knopfloch. Damit ist alles für den neuen Arbeitstag bereit.
Meehan, ganz Gentleman, nimmt an einem repräsentativen Schreibtisch Platz. Von hier aus regiert er den legalen Teil seines Reiches, in dem auf Knopfdruck ein Verkaufsmechanismus in Gang gesetzt und die christliche Vorstellung vom Tod und vom ewigen Leben in Kitsch und Kommerz übertragen wird. Hodges hat mit Ironie und Sorgfalt die angemessene Stimmung etabliert. Die Produzentenfassung nimmt auf so etwas keine Rücksicht. Die nun gekürzte Szene beginnt mit Bonati als Reinigungsmann. Meehan sitzt bereits am Schreibtisch. Nur ein paar Sekunden weggeschnitten, um das Tempo zu erhöhen, sagte Peter Snell, der Produzent. Was soll die Aufregung?
Antwort: Es ist etwas völlig anderes, ob der König am Anfang einer Szene sein Reich betritt, dieses inspiziert und persönlich auf den Knopf drückt, weil er allein den Zugriff auf das Räderwerk hat (sei es das Räderwerk des Staates, des Bestattungsinstituts oder der Unterwelt), oder ob er morgens schon auf dem Thron sitzt, als ob man ihn dort am Abend davor vergessen hätte. Wer im Kino den Blick kontrolliert hat die Macht. Hodges weiß das. Bei ihm setzt sich Meehan an den Tisch, schaut (von ihm aus) nach links und sieht Bonati (im Gegenschuss). Die Produzenten wussten es scheinbar nicht.
In der Kinoversion sieht man zuerst Bonati. Dann wird auf Meehan geschnitten, der den Blick abwendet. Souverän wirkt das nicht. Auch die Musik läuft schon, weil Meehan hier eben nicht der Mann ist, der den Knopf drückt (einen Knopf, der genauso entfernt wurde wie die Glocken von Big Ben). Anstelle von Scotts Kirchenlied für Fahrstühle und Kaufhäuser ist Schuberts "Ave Maria" zu hören. Das ist total daneben. Das "Ave Maria", dürften sich die Herren Goldwyn und Snell gedacht haben, ist das Lied für eine weltweite Konsumkultur, es spricht die meisten Zuschauer an, und ohnehin geht Schubert immer. Das tut er nicht.
Wir sind hier in einem sorgfältig charakterisierten, mit individuellen Eigenschaften ausgestatteten Teil von London und nicht in einer Fußgängerzone, in der weltweit operierende Ladenketten ihre Einheitswaren feilbieten. Man muss nicht Hodges’ Original gehört haben, um auf die Idee zu kommen, dass das "Ave Maria" fehl am Platze ist, auch wenn es überall auf der Welt bei Beerdigungen sehr gern genommen wird. Schubert passt weder zu Meehan und seinem Institut noch zu seinen Kunden, und zu der Szene auch nicht. Die Leute, die Hodges’ Film bearbeitet haben, hatten schlicht kein Interesse an den Charakteren.
Bei Jenny Fox im Bordell
Zu einer gut konstruierten Geschichte gehört die logische, in sich stimmige Abfolge der Szenen. Einmal trifft sich Docherty mit Ainsley - das ist (siehe Teil 1) der Judas mit den Wundmalen an den Händen - auf einer Autofähre. Ainsley gibt ihm einen Zettel mit der Adresse von Fallons Versteck. "Ich gehe nicht mal in die Nähe von diesem Ort", sagt der überraschte Docherty. Von welchem Ort? Gemeint ist das Bordell. Schnitt. Fallon in seinem Zimmer bei Jenny Fox. Jenny serviert das Frühstück wie im Hotel - nur mit dem Unterschied, dass sie einen weißen Bademantel trägt. Fallon verlässt das Zimmer, obwohl ihn Jenny anfleht, es nicht zu tun.
Man hört die Angst in Jennys Stimme. "Ich habe Billy versprochen, dass du hierbleibst", ruft sie Fallon hinterher. "Geh nicht!" Billy hat ihr aufgetragen, mit Fallon zu schlafen und ihn so im Bordell festzuhalten. Einer, der so sexbesessen ist wie Jack Meehans Bruder kann sich nicht vorstellen, dass das nicht gelingt. Jenny hat Angst, dass er sie schlagen wird, wenn Fallon trotzdem zu da Costa geht. Sie sieht klein und hilflos aus und unschuldig wie ein Kind, in ihrem weißen Bademantel und an dem Bett, in dem sie sonst die Freier bedient, die Meehan zu ihr schickt.
In der Kinoversion fehlt die Szene. Docherty schaut auf die Adresse, will nicht hingehen, Schnitt. Anna da Costa verlässt das Pfarrhaus. Fallon kommt und fragt nach ihrem Onkel. Die Kombination der Szenen (Docherty mit der Bordelladresse/Pfarrhaus) ist ohne Sinn und Verstand. Handwerkliche Fehler wie diesen gibt es in der Produzentenfassung erstaunlich viele. Das ist umso bemerkenswerter, als Snell und Goldwyn behaupteten, dass sie den ihnen zu wenig mainstreammäßigen Film zum Wohle des amerikanischen Zuschauers umschneiden mussten. Besser ist er dadurch nicht geworden.
Vielleicht sind die Fehler ein Indiz dafür, dass das amerikanische Kino bereits dabei war, etwas zu verlieren, das es immer ausgezeichnet hatte: Die Fähigkeit, handwerklich sehr gut gemachte Geschichten zu erzählen. Noch ein Beispiel: Meehan zeigt Fallon den Ofen in seinem Krematorium. "Sie halten sich vom Priester fern", sagt Fallon. Schnitt. Ein Frauenbein in Stöckelschuh und schwarzem Seidenstrumpf. Wir sind im Bordell. Jenny versucht, Fallon anzumachen und bietet an, die Nacht mit ihm zu verbringen. Was soll das da? Vom Verbrennungsofen zum Bein der Prostituierten: Das muss einer der dümmsten Anschlüsse im Film der 1980er sein.
Hodges hat die Szene gedreht, sie in seiner Schnittfassung aber nicht verwendet, weder hier noch an einer anderen Stelle. Jenny mit Frühstückstablett und im weißen Bademantel war ihm lieber, weil die Frau da noch verlorener wirkt. In der Kinoversion trägt sie eines ihrer Hurenoutfits. So oder so ähnlich empfängt sie ihre Freier. Schwarze Seide ist erotischer als ein weißer Frotteestoff. Fallon liegt auf dem Bett. Jenny bewundert sein Tattoo. "Ich liebe Männer mit Tätowierungen", sagt sie und greift Fallon in den Schritt. "Vielleicht ein andermal", sagt er und schiebt sie aus dem Zimmer.
Die Produzenten wollten wohl mehr Sex. Also nahmen sie, was sie finden konnten und klatschten es irgendwo dazwischen. Viel war es nicht. Der Provo zwischen zwei Frauen, der Hure und der blinden Nichte des Pfarrers. Man braucht kaum Phantasie, um sich auszumalen, was daraus hätte werden können. Hodges machte das nicht mit und sein Material gab nicht genug her, um den Film entsprechend umzuarbeiten. Jenny geht für Meehan anschaffen, seit sie mit 14 schwanger wurde. Das Kind verwendet der Zuhälter seitdem als Druckmittel. Hodges verweigert die Erotisierung ihres Daseins als Zwangsprostituierte. Man sieht nur sexuelle Gewalt.
Londoner jenseits der Grenze
Das Schöne am Drehen an Originalschauplätzen ist, dass sie dem Film eine weitere Bedeutungsebene geben, wenn man sie richtig integriert, denn sie bringen ihre eigene Geschichte mit. Hodges kann das gut. Fallon und Docherty treffen sich (siehe Teil 1) im Victoria Park. Das ist der Park mit dem Brunnen, den eine Philanthropin errichten ließ, damit sich die Armen des East End dort laben und - sofern sie keine Analphabeten waren - an religiösen Sinnsprüchen erbauen konnten, wenn sie nicht gerade unter menschenunwürdigen Umständen schuften oder sich prostituieren mussten.
Vom Victoria Park ist es nicht allzu weit bis zur Kirche von Pater da Costa. Gedreht wurde in St. Luke’s in Canning Town (Jude Street), einer Kirche wie einem Schlachtschiff. Das Gebäude im neugotischen Stil ist das Ergebnis eines Artikels mit dem Titel "Londoners over the Border", den Charles Dickens 1857 in seiner Wochenzeitschrift Household Words veröffentlichte. Dickens hatte Canning Town besucht und war entsetzt darüber, unter welchen Umständen Menschen dort leben mussten.
Um die in den schnell wachsenden Victoria Docks benötigten Arbeiter und ihre Familien unterzubringen hatte man auf dem Marschland billige Häuser ohne Wasserversorgung und ordentliche Kanalisation errichtet. Zusätzlich zur extremen Armut gab es Pocken- und Choleraepidemien. Dickens forderte Kirche und Gesellschaft auf, etwas zu unternehmen. Also wurde Geld gesammelt und St. Luke’s gebaut, um etwas für das Seelenheil der Armen zu tun und eine Anlaufstation für wohltätige Organisationen zu schaffen. An der qualvollen Enge, in der die Menschen leben mussten und an den anderen Missständen änderte sich vorerst wenig.
In den 1930ern beschloss man, die als Schandfleck empfundenen Slums von Canning Town und Silvertown abzureißen und durch höherwertige Sozialbauten zu ersetzen. Das kam nur schleppend voran. Ihren ganz eigenen Beitrag zur Stadtentwicklung leisteten die Nazis. Die deutsche Luftwaffe bombardierte im Blitzkrieg die Docks, weil sie eine Lebensader der britischen Wirtschaft waren. Im East End richteten die Bombardements schwere Verwüstungen an. Getroffen wurde auch die (anglikanische) St. Luke’s Church, wovon sie sich trotz mehrerer Renovierungsphasen nie mehr ganz erholte.
1985 wurde die Kirche säkularisiert. Für Prayer war St. Luke’s der ideale Drehort. Der alte Kasten war ungenutzt und hatte den baufälligen Charakter, den man brauchte, ohne ihn erst künstlich herstellen zu müssen. Die Kirche ist das Sinnbild für ein renovierungsbedürftiges Christentum, das genauso in einer Krise steckt wie der es repräsentierende Pfarrer, nachdem er die Gangster mit dem Deckel einer Mülltonne blutig geschlagen hat. Auf die Säkularisation folgte die Gentrifizierung. Heute sind Büros, eine Arztpraxis und ein Café in dem Gebäude untergebracht. Immobilienmakler bewerben die sündteuren Eigentumswohnungen in der Nachbarschaft mit dem Blick auf die alte Kirche und mit dem Hinweis auf Charles Dickens.
Das hallenartige Gebäude, in dem Meehan seine Särge präsentiert, fand Hodges in Südlondon, wo es damals noch solche Häuser gab und nicht die seelenlosen Zweckbauten, die da heute stehen. Schon immer fasziniert vom Bestattungswesen, ließ er es sich nicht nehmen, uns das Beerdigungsinstitut in all seiner protzig-morbiden Schönheit vorzuführen. Die Geschäftsgrundlage ist der Tod. Er übe keine körperliche Gewalt gegen Leute aus, sagt Meehan einmal, denn: "Ich bin Bestattungsunternehmer. Ich begrabe Menschen, oder ich verbrenne sie. Für mich ist der Tod eine Kunstform."
Die körperliche Gewalt wird von Subunternehmern erledigt. Fallon erschießt Krasko auf dem Friedhof. Anschließend wird durchexerziert - am Beispiel mehrerer Leichen und in die Handlung eingewoben -, was danach geschieht. Zuerst beauftragt man - wie Mrs. Orton - einen Bestatter. Dann gibt uns Jack Meehan ein Beispiel seiner Kunst. Im Einbalsamierraum seines Instituts liegt der schrecklich zugerichtete Körper einer jungen Frau. "So sad", sagt Meehan. "Vor drei Tagen vergewaltigt und ermordet. Es war nicht einmal dunkel. Fürchterlich. Was ist aus dieser Welt geworden?" Als wäre das sein Stichwort taucht Billy hinter einem Vorhang auf, Jacks sadistischer Bruder.
Asche zu Asche, oder auch: "Fuck the mourners!"
Meehan wird den geschundenen Frauenkörper so wiederherstellen, dass man eine schöne Leiche beisetzen kann. "Hübsches kleines Ding", sagt er. "Sie hat nur acht Pints Balsamierflüssigkeit gebraucht. […] Sie könnte eine Braut sein." Dabei bemalt er die Lippen im nun makellosen Gesicht der Frau mit roter Farbe. Ein Hauch von Nekrophilie liegt in der Luft (bei Interesse: Acht Pints sind umgerechnet rund viereinhalb Liter Flüssigkeit). Den Produzenten wurde das wahrscheinlich unheimlich. Also entfernten sie wenigstens die frankensteinähnliche Einstellung, in der Jack der Frauenleiche zuflüstert, dass er ihr jetzt neues Leben geben wird.
Die einen begraben ihre Angehörigen, die anderen lassen sie einäschern. Dann führt der Weg vom Bestattungsinstitut zum Krematorium. Der tote Mr. Orton ist der stille Gast in einer Szene mit viel schwarzem Humor. Vier Gangster sitzen in einem Leichenwagen und fahren mit Ortons Sarg an der St. Luke’s Church vorbei. Fred Varley sitzt am Steuer. Die Aufgabe besteht eigentlich darin, eine pietätvolle Seriosität auszustrahlen, weil die Gangster jetzt als Bestatter im Einsatz sind. Jack sieht jedoch, wie Superintendent Miller die Kirche verlässt. Miller ist der Polizist, der seit zehn Jahren versucht, ihm das Handwerk zu legen.
"Scheiße", sagt Jack. "Das ist Miller. […] Fahr um den Block, Fred!". "Was ist mit den Trauernden?", fragt Fred. "Wir kommen zu spät zum Krematorium." "Scheiß auf die Hinterbliebenen", sagt der deutsch synchronisierte Billy, und im Original: "Fuck the mourners!". Das Ficken sollte schon bleiben, weil es gleich danach um Sex gehen wird. Zunächst aber kommt Fallon mit Anna da Costa aus der Kirche. Im Hintergrund fährt wieder der Leichenwagen vorbei. Das ist die Art von grimmigem, dem schönen Schein ein Ende machenden Humor, mit dem in Hodges’ Filmen immer zu rechnen ist.
Ein Blick auf den Polizisten genügt, um die Fassade aus Pietät und unternehmerischer Ehrbarkeit zum Einsturz zu bringen. Statt zum Krematorium zu fahren umkreist der Leichenwagen mit einem Sarg und vier Gangstern die Kirche. Mr. Orton, seine Witwe und die Trauergäste sind nicht mehr wichtig. Hier geht es jetzt um Mord und sexuelle Gelüste. Das hat Vorrang. Warum sexuelle Gelüste? "Fallon!", sagt Jack. Und Billy: "Er ist mit da Costas Nichte zusammen. Sie ist blind. Ein blindes Mädchen hatte ich noch nie!" Damit ist Billy so gut wie tot. Bald wird er in derselben Lage wie Mr. Orton sein. Er weiß es nur noch nicht.
Weil man nicht ewig mit einer Leiche um eine Kirche herumfahren kann landet der tote Mr. Orton doch noch im Krematorium. Jack nützt die Gelegenheit, um Fallon durch sein Reich zu führen. Nachdem ein Priester bei der Trauerfeier das Amen gesprochen hat wird der Sarg hinter die Kulissen gebracht. Die Gebrüder Meehan, nun wieder die würdevollen Bestatter, schieben ihn in den Ofen. Jack zeigt Fallon das Regal mit den sorgfältig beschrifteten Pappschachteln, in denen die Urnen mit der Asche der Verstorbenen zwischengelagert werden.
Alles hat hier seine Ordnung. Die Angehörigen erhalten später eine "Ruhe in Frieden"-Karte mit einer Nummer, damit sie wissen, wo die Urne beigesetzt wurde und es keine Verwechslung gibt. Für Mr. Orton ist es jetzt soweit. Meehan zeigt Fallon voller Stolz, wie der Verbrennungsofen funktioniert und startet das Feuer. Im Director’s Cut wird von hier nicht - wie in der Produzentenfassung - auf das Frauenbein in Strumpf und Stöckelschuh geschnitten, weil das trotz der schwarzen Seide ein Blödsinn ist. Meehan nimmt eine Urne und setzt die Führung fort. Neben dem Krematorium betreibt er eine Parkanlage, als letzte Ruhestätte. Dort spazieren sie jetzt entlang.
"Asche zu Asche", sagt Meehan. "Alles, was bleibt, ist eine ‚Ruhe in Frieden’-Karte. Mit der richtigen Nummer." Er zeige Fallon das alles, erläutert er, weil sie beide Profis in Fragen des Todes seien: "Ich dachte, dass Sie das interessieren könnte." Die Produzenten interessierte es nicht. Am Ende bleibt womöglich nur eine Grabnummer von uns übrig - vielleicht wollten sie dem Publikum diesen Gedanken nicht zumuten. Oder sie störten sich am Schornstein des Krematoriums, der im Hintergrund in die Höhe ragt. In einer Gesellschaft, die den Tod systematisch verdrängt, sieht man so etwas nicht gern. Meehans Urnenpark musste weg.
Karfreitagsabkommen und Europäische Union
Dem Brexit verdanke ich die Erkenntnis, wie viel Zündstoff die "Rest In Peace"-Karte enthält. Um das zu verstehen sollten wir einen letzten Blick in die Vergangenheit werfen - eine Vergangenheit, die vom Entstehungsjahr des Films aus die Zukunft war. Zehn Jahre nach dem Skandal um A Prayer for the Dying, im Oktober 1997, traf sich der nach einem Erdrutschsieg der Labour Party zum Premierminister gewählte Tony Blair in Belfast mit Gerry Adams und dem im März 2017 verstorbenen Martin McGuinness. Die Teilnehmer schrieben damit Geschichte.
Es war das erste Treffen zwischen einem britischen Premierminister und Führern der Sinn Féin, seit David Lloyd George und die irische Delegation mit Michael Collins 1921 in der Downing Street zusammengetroffen waren, um den anglo-irischen Vertrag auszuhandeln, der dann den Bürgerkrieg von 1922/23 auslöste. 1998 einigten sich die Regierungen der Republik Irland und Großbritanniens sowie der meisten nordirischen Parteien auf das Belfast Agreement, das als Karfreitagsabkommen bekannt ist, weil die Einigung am Karfreitag (10. April 1998) erzielt wurde.
Ratifiziert wurde das Abkommen nach Volksabstimmungen in Nordirland und der Republik Irland, wo die eine Wiedervereinigung mit den sechs nördlichen Grafschaften verlangende Verfassung geändert werden musste. Das nach langen und zähen Verhandlungen zustande gekommene Vertragswerk ist sehr kompliziert und legt unter anderem fest, wie Nordirland regiert werden soll. Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es mehr Protestanten als Katholiken gibt wird im nordirischen Regionalparlament nicht nach dem üblichen Mehrheitsprinzip entschieden.
Um Gesetze zu verabschieden sind parallele Mehrheiten in den Lagern der Unionisten und der Nationalisten erforderlich. In der Exekutive teilen sich die Unionisten und die Nationalisten die Macht. Eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland ist nicht ausgeschlossen, setzt aber voraus, dass die Mehrheit der Nordiren dafür ist. Die einzige größere Partei, die sich gegen das Karfreitagsabkommen aussprach und für ein Nein beim Referendum warb war die vom presbyterianischen Pfarrer und politischen Hardliner Ian Paisley gegründete Democratic Unionist Party (DUP).
Paisley war davon überzeugt, dass es ein friedliches Zusammenleben von Protestanten und Katholiken nicht geben könne. Er war nicht einmal bereit, mit Vertretern der Sinn Féin am Verhandlungstisch zu sitzen, weil das für anständige Leute wie ihn ein Ding der Unmöglichkeit sei. Seinen Widerstand gab er schließlich auf, und 2007 bildeten er und Martin McGuinness eine von den beiden größten nordirischen Parteien getragene Regionalregierung, der DUP und der Sinn Féin. (Nachfolgerin des 2014 verstorbenen Paisley als Vorsitzende der Demokratischen Unionisten wurde Arlene Foster.)
Warum die Sinn Féin 1998 einem Abkommen zustimmte, das doch sehr weit von dem entfernt ist, wofür die IRA jahrzehntelang gekämpft (und getötet) hatte, gibt den Historikern bis heute Rätsel auf. Eine wesentliche Rolle dürfte gespielt haben, dass Großbritannien und die Republik Irland seit dem 1. Januar 1973 Mitglieder der Europäischen Union waren. Die EU bewährte sich auch da als Friedensprojekt, weil sie die Beziehungen zwischen beiden Mitgliedsstaaten vertiefte. Im viel gescholtenen Brüssel begegneten sich routinemäßig Politiker und Beamte aus beiden Ländern.
Das half beim Aufbau von Vertrauensverhältnissen, und es bildeten sich neue Rahmenbedingungen heraus, innerhalb derer das Vereinigte Königreich und die Republik Irland gemeinsam an der Lösung des Konflikts arbeiten konnten - unterstützt von Bill Clinton, der sich und sein politisches Gewicht als erster US-Präsident aktiv in die Verhandlungen einbrachte. Das von der EU ausgegebene Ziel, das allmähliche Zusammenwachsen der Mitgliedsstaaten, erleichterte den katholischen Nationalisten das Umdenken, auch der IRA.
Durch den Abbau von Grenzen schien sich ein Weg aufzutun, über Diskussionen und Verhandlungen eine Wiedervereinigung zu erreichen, die sich nicht hatte herbeibomben lassen. Das sahen nicht alle so. Das Karfreitagsabkommen hat wieder einmal zur Spaltung der IRA geführt, mit der Real IRA als einer paramilitärischen Terrororganisation, die weiter auf den bewaffneten Kampf setzt, auch wenn sie nur sporadisch Anschläge verübt. Leute, die für die Provos Waffen und Sprengstoff beschafft hatten und Kompromisse kategorisch ablehnten, wechselten zur "echten" IRA.
Da sind sie heute noch, oder sie haben ihr Wissen an die nächste Generation weitergegeben. 2011 gründeten ehemalige Provos eine Organisation, die von sich behauptet, die einzig wahre IRA zu sein (und darum auch keinen Namenszusatz zu brauchen). Man ist gut beraten, sich keinen Illusionen hinzugeben. Die Lage bleibt explosiv und der Friedensprozess ein zartes Pflänzchen, das man hegen und pflegen sollte, statt ihm durch politische Taktiererei das Wasser abzugraben. Schon allein durch die Ankündigung eines Brexit-Referendums verhärteten sich in Nordirland wieder die Fronten.
Quadratur des Kreises
Nach dem Sieg der Brexit-Befürworter, im Januar 2017, kam das gemeinsame Regierungshandeln der DUP und der Sinn Féin praktisch zum Erliegen. Inzwischen wird wieder gefeilscht, aber Theresa Mays Entscheidung, aus Gründen des Machterhalts mit Arlene Fosters DUP zu paktieren, hat die Lage alles andere als vereinfacht. May wurde dafür sogar von gemäßigten protestantischen Gruppierungen in Nordirland heftig kritisiert, und von den Katholiken sowieso. Die besser in die 1950er als in die Gegenwart passende Haltung der DUP gegenüber Abtreibung, Ehe für alle und Frauenrechten ist dabei noch das geringste Problem.
Gerichte werden prüfen müssen, ob die Premierministerin gegen das Karfreitagsabkommen verstoßen hat, um mit den zehn Stimmen der DUP eine hauchdünne Mehrheit abzusichern. Im Abkommen ist festgelegt, dass die Regierungen der Republik Irland und des Vereinigten Königreichs dessen Einhaltung garantieren. Das wirft die Frage auf, wie May als "ehrliche Maklerin" zwischen der Sinn Féin und der DUP agieren will, wenn ihre Regierung vom Abstimmungsverhalten einer dieser beiden Parteien abhängig ist.
Die DUP will die Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland unbedingt verhindern. Darum wünscht sie sich einen harten Brexit, der Ulster rechtlich und politisch vom EU-Mitglied Irland entfernen würde. Einen weichen Brexit wünscht sie sich aber auch, weil eine Grenze mit strikten Personen- und Warenkontrollen zu schweren Verwerfungen führen sowie die wirtschaftlich schwache und auf Subventionen angewiesene Provinz weiter isolieren und dadurch beschädigen würde. Die IRA könnte wie immer geartete Grenzkontrollen zu Gewalttaten provozieren, mit den dann unvermeidlichen Gegenreaktionen militanter Protestanten.
Theresa May muss jetzt also eine Unionistenpartei zufrieden stellen, die sich einen harten und einen weichen Brexit wünscht und außerdem eine "poröse" Grenze zwischen Nord und Süd, was bisher mehr eine rhetorische Figur zum Verbergen der allgemeinen Ratlosigkeit ist als eine konkrete politische Idee. Im eigenen, in sich zerrissenen Lager hat sie es mit einem harten Kern von Brexit-Befürwortern zu tun, die bereits davor warnen, dass eine irgendwie "poröse" Grenze zum Einfallstor für genau jene unerwünschten Ausländer werden könnte, die durch den Brexit von der britischen Insel ferngehalten werden sollten.
Irische Republikaner mögen den Vorschlag, die Grenze (soweit es die Kontrollen betrifft) in die Irische See zu verlegen, weil so eine Trennlinie zwischen Nordirland und der britischen Insel gezogen würde. Aus demselben Grund hat die DUP den Vorschlag vehement zurückgewiesen und als Verrat am anglo-irischen Vertrag von 1921/22 gegeißelt. Leo Varadkar, seit dem 14. Juni 2017 irischer Premierminister, tut gern seine Überzeugung kund, dass der Brexit einen Keil zwischen die Briten und ihre Provinz in Irland treiben und er die Wiedervereinigung noch erleben werde.
Am 4. August besuchte der schwule Sohn einer irischen Mutter und eines in Indien geborenen Vaters Belfast. Tags darauf nahm er an einem Frühstück anlässlich der Gay Pride Parade teil und sagte, dass die Ehe für alle bestimmt auch in Nordirland bald kommen werde (die sechs Grafschaften sind der einzige Teil Großbritanniens, in dem keine gleichgeschlechtlichen Ehen geschlossen werden können). Arlene Foster ist eine Paisley-Schülerin und demnach eine mit allen Wassern gewaschene Politikerin. Ihr dürfte nicht entgangen sein, dass Varadkar angereist war, um Werbung für den Süden als ein weltoffenes und tolerantes Land zu machen und so den Weg zur Wiedervereinigung zu ebnen.
In gesellschaftspolitischen Fragen hat die Republik Irland, kürzlich noch von einem reaktionären Katholizismus geprägt, Nordirland inzwischen abgehängt. Das liegt ganz wesentlich an Foster und ihren Parteifreunden, die Leugnern der Klimakatastrophe, Kreationisten und christlichen Fundamentalisten eine Heimat bieten und Ulster am liebsten in den 1950ern einzementieren würden. Junge Protestanten fühlen sich von der DUP immer weniger repräsentiert. Varadkar signalisiert ihnen, dass Katholiken keine Monster sind und sie sich vor einer Vereinigung des Nordens und des Südens nicht fürchten müssen.
In den nächsten Monaten und Jahren könnten sich unerwartete Allianzen bilden. Was, wenn in Britannien ein signifikanter Teil der Befürworter des EU-Austritts im Laufe der Verhandlungen zu der Meinung gelangt, dass ein harter Brexit ohne Nordirland besser wäre als ein weicher Brexit mit der ewigen Trouble-Provinz, die für das Königreich durch die jüngsten finanziellen Zugeständnisse Theresa Mays noch teurer geworden ist (eine Milliarde extra für das Wohlwollen der DUP)? Dann hätten die englischen Konservativen plötzlich ein interessantes Gesprächsthema mit den irischen Nationalisten.
Derzeit weiß niemand, wie es nach dem Brexit weitergehen soll. Bei unübersichtlichen Gemengelagen wie dieser ist die Versuchung besonders groß, sich durch Abgrenzung der eigenen Identität und Gruppenzugehörigkeit zu versichern. Während sich in London eine überforderte und durch den Wahlausgang geschwächte Theresa May an der Quadratur des Kreises versuchen muss wird anderswo gezündelt. Der Oranier-Orden fordert von der DUP, ihren neu gewonnenen Einfluss dafür zu nutzen, dass er in Portadown wieder durch ein Wohngebiet katholischer Nationalisten marschieren darf. Nach schweren Ausschreitungen ist das seit 1998 verboten.
Ruhe in Frieden und katholischer Aberglauben
Im Juli 2017 leisteten die Orangemen ihren Beitrag zum Reformationsjubiläum, womit wir zurück bei Jack Meehan und den "Ruhe in Frieden"-Karten für die Hinterbliebenen wären. Den Oraniern ist aufgefallen, dass in den sozialen Netzwerken viele Protestanten (und sogar evangelikale Fundamentalisten!) bei Trauerbekundungen nach dem Tod eines Menschen die Abkürzung RIP für "rest in peace" oder "requiescat in pace" verwenden. Das zeuge von einer "spirituellen Verwirrung", denn es sei unbiblisch, unprotestantisch und katholischer Aberglauben. Das Argument lautet ungefähr so:
Vor 500 Jahren fiel es Martin Luther wie Schuppen von den Augen und er sah, dass im Moment des Todes die Entscheidung darüber getroffen ist, ob ein Mensch in den Himmel oder in die Hölle kommt. Hinterher lässt sich da nichts mehr machen. Wer etwas anderes glaubt ist dem Papst auf den Leim gegangen. Die Formel "Ruhe in Frieden" (bei Jesus Christus) ist ein Gebet für die Toten und daher unprotestantisch, sagt etwa der Vorsitzende eines Zusammenschlusses evangelikaler Christen in Nordirland. Protestanten rate er davon ab, sie zu gebrauchen.
Der Oranier-Orden, einer der Hauptakteure im auch konfessionell begründeten Nordirlandkonflikt, widmete der Angelegenheit einen Artikel in seiner monatlich erscheinenden Zeitung The Orange Standard. Damit machte er ein Fass auf, das man eigentlich für geschlossen hielt, seit die katholische Kirche und der Lutherische Weltbund 1999 mit ihrer "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" den uralten Streit darüber beilegten, wer wie und wann in den Himmel kommt oder eben nicht.
Ein überkonfessionell operierender Bestattungsunternehmer wie Jack Meehan sollte sein Geschäftsmodell überdenken und genau überlegen, wem er die "Ruhe in Frieden"-Karten gibt und wem nicht. Er könnte plötzlich als Agent des Papstes dastehen, der unschuldige Protestanten zum katholischen Aberglauben verführt. In der langen Geschichte der Troubles haben scheinbar nichtige Anlässe immer wieder ausgereicht, um jemanden zu Gewalttaten gegen die eine oder die andere Seite zu motivieren, gegen Katholiken oder Protestanten, was dann das Pulverfass Nordirland erneut entzündete.
Das Karfreitagsabkommen ist so kompliziert, weil es enorm schwierig war, das Vertragswerk so auszutarieren, dass sich möglichst wenige von den Betroffenen als Verlierer fühlten. Kleine Verschiebungen können eine große Wirkung haben. Den Politikern von der Sinn Féin und gemäßigten protestantischen Gruppierungen in Nordirland, von der Labour Party und aus der Republik Irland würde ich zubilligen, dass es nicht nur politisches Kalkül ist sondern echte Sorge, wenn sie Theresa May Verantwortungslosigkeit vorwerfen, weil sie mit der DUP paktiert (einer Partei mit engen Verbindungen zu den Oraniern), um an der Macht zu bleiben.
Intime Geständnisse
Wenn sich Jack Meehan an der Leiche der vergewaltigten jungen Frau zu schaffen macht steht Fallon dabei und will sich eine Zigarette anzünden. Meehan fordert ihn auf, hier nicht zu rauchen, aus Respekt vor den Toten. Von da an sehen wir regelmäßig Zigaretten, wenn es um das Sterben geht. Das ist mehr als ein makabrer Running Gag. Es ist dem Gedanken geschuldet, dass am Ende auch von uns nicht viel mehr bleiben könnte als die Asche an der Spitze einer brennenden Zigarette. Der Film zeigt mehrere Möglichkeiten, mit dieser Erkenntnis umzugehen.
Meehan verkauft Beisetzungen mit schönen, von ihm kosmetisch behandelten Leichen, die aussehen, als wären sie lebendig. In Pater da Costas Kirche wird die Hoffnung auf das ewige Leben offeriert. Und gleich nebenan ist ein Rummelplatz aufgebaut. Da kann man sich vergnügen, statt an das Sterben zu denken. Nur bei Fallon klappt das nicht, weil er immer den Tod im Schlepptau hat, auch beim Riesenradfahren mit da Costas Nichte. Die Kinoversion will hier "Stimmung", taucht das Ganze in Contis Musik. Nur im Director’s Cut zu hören sind die lustvollen Schreie der jungen Leute, die sich auf einer Rutschbahn in die Tiefe stürzen.
Bei Hodges hören wir auch, was gesprochen wird. Fallon erzählt Anna, wie er das erste Mal, fast noch als Kind und mehr aus Hilflosigkeit und Überforderung denn in Ausübung eines Plans, einen ebenso jungen und ebenso überforderten britischen Soldaten erschoss, und wie er dann weiter tötete. Sein Geständnis schafft eine Intimität mit Anna, die man braucht, um die folgende Liebesszene zu motivieren. Die Produzenten dachten wohl, dass sich diese Intimität schon irgendwie einstellen würde, wenn das Paar gemeinsam Riesenrad fuhr und Conti ordentlich auf die Tube drückte, um alle Zweifel zu übertönen.
Fallons Erzählung, wie er zum Killer wurde, könnte leicht in einen klischeehaften Bekenntniskitsch abgleiten. Die Klangwelt des Rummelplatzes hilft Hodges, dem entgegen zu wirken. Die Schreie von der Rutschbahn könnten auch die Schreie von Fallons Opfern sein. Der Gedanke an den Tod und das lebensbejahende Vergnügen sind enge Nachbarn. Nur im Director’s Cut einmontiert ist Billy Meehan. Er beobachtet das Paar, raucht eine Zigarette und hat bereits beschlossen, Anna zu vergewaltigen. Neben dem Rummelplatz fährt die U-Bahn vorbei. In Hodges’ Film sind auch Fahrzeuge mit dem Tod assoziiert, wie die brennenden Zigaretten.
Vom Riesenrad gehen Anna und Fallon zum Pfarrhaus. Ihr Onkel, sagt Anna auf dem Weg dorthin, sei (bei einem Sterbenden) im Krankenhaus und werde da die ganze Nacht zubringen. Da Fallon begonnen hat, von seiner Vergangenheit zu erzählen, kann man das - nur im Director’s Cut - als Angebot verstehen, das Gespräch fortzusetzen. Vor der Eingangstür bleiben die beiden schweigend stehen, zögern, dann gehen sie hinein. In der Kinoversion sagt Anna erst vor der Tür, dass sie die ganze Nacht haben. Das ist eine nicht unerhebliche Akzentverschiebung und lässt nur eine Deutung übrig: Anna will mit Fallon schlafen.
Liebesnacht mit Kerzenschein und Dracula
Ohne das von ihm gewünschte Supermodel hatte Mickey Rourke keine Lust mehr auf die Liebesszene. Für Hodges war das eine gute Nachricht, weil er gern ganz auf sie verzichtet hätte. So konnte er sie auf ein Minimum reduzieren. Die Szene ist jetzt sehr dezent und in ein zartes Licht getaucht. Der Kameramann Mike Garfath ist zurecht stolz darauf, wie er das gemacht hat. In der Produzentenfassung wurde die Szene leider in Kitsch verwandelt. Zur Musik von Bill Conti könnte man Urlaubsreisen auf die grüne Insel oder Milch von glücklichen irischen Kühen verkaufen.
Anna nimmt Fallon mit ins Schlafzimmer. Im Unterrock zündet sie eine Kerze an. Der Unterrock fällt auf den Boden, Fallon zieht Anna zu sich hoch. Hodges schneidet von ihren nackten Füßen auf Billy, der neben dem Rummelplatz in sein Auto steigt, sich eine Zigarette ansteckt und wartet, bis Fallon gegangen ist. So spielt sich auch die zarte Liebe in der unmittelbaren Nachbarschaft von Tod und Vergewaltigung ab. Die Kinofassung betont die Romantik und überblendet von Annas Füßen auf Fallon, der sich nach dem Sex wieder angezogen hat. Den wartenden Billy lässt sie weg.
Anna liegt im Bett und weint. Sie würde sich so sehr wünschen, sagt sie, Fallon sehen zu können. Fallon nimmt die Kerze, hält sie zwischen sich und Anna. In der Kinoversion ist das der blanke Unsinn, oder sogar grausam, weil da alles auf ein konventionelles Erzählen ausgerichtet ist. Warum sollte ein halbwegs sensibler Mensch einer Blinden, die darunter leidet, dass sie nicht sehen kann, eine brennende Kerze vor die Augen halten? Soll das ein Sehtest sein? Ist Fallon, der Terrorist mit dem Musikstudium, ein verhinderter Augenarzt?
Im Director’s Cut, für den das konventionelle Erzählen des Kommerzkinos nicht das oberste Gesetz ist, wird die Kerze zum Symbol. Sie verbindet mehrere Ebenen, die zueinander in Beziehung stehen: Liebe, Zärtlichkeit, Sex, Gewalt und Tod. Hodges zeigt uns den rauchenden, ungeduldig auf seine Gelegenheit wartenden Billy und dann Fallon, der die Kerze auslöscht, bevor er aus Annas Zimmer nach unten geht. Kaum hat er das Pfarrhaus verlassen taucht Billy - jetzt wieder in beiden Versionen - neben der Treppe zum Schlafzimmer auf.
Billy ist wie einer jener Vampire, die lautlos in die Häuser der braven Bürger eindringen, um deren Frauen zu beißen - nur dass die alten Abwehrmittel nicht mehr helfen. Erotisch wie einst bei Christopher Lee ist auch nichts mehr. Anna steht neben einem Kruzifix und hat ein Kreuz um den Hals hängen, wenn ihr der lachende Billy rote Farbe ins Gesicht sprüht wie ein verrückt gewordener Maskenbildner. Das ist doppelt verstörend, wenn man zuvor gesehen hat, wie Billy (als vorweggenommene Höllenfahrt) die Rutschbahn hinunter fuhr und die Schreie der jungen Vergnügungssuchenden aufnahm, die zugleich die Schreie der Toten sind. Jetzt wird dann gleich sein Lebenslicht ausgelöscht wie die Flamme einer Kerze.
Auf eine verquere, sehr individuelle Weise hat die Version des ehemaligen Katholiken Mike Hodges eine metaphysische Qualität. In der Kinofassung ist davon nicht viel geblieben. Das ist schade, weil es in A Prayer for the Dying um einen auch religiös motivierten Terrorismus geht und um das christliche Heilsversprechen, um den Tod und um das ewige Leben. Die Produzenten wollten lieber einen konventionellen Thriller. Sehr deutlich wird der Unterschied zwischen den beiden Fassungen im Anschluss an die versuchte Vergewaltigung (inspiriert von Hitchcocks Dial M for Murder).
Abgekürzte Bestattung und die nächste Leiche
Anna sticht Billy in Notwehr eine Schere in die Brust. Fallon entsorgt im Krematorium die Leiche. Vom Ofen werden wir dieses Mal nicht zum Bordell gebracht, sondern ins Polizeirevier, denn in einem Krimi braucht man auch die Polizei. Also stellt sich jetzt ein Herr Gaskin von der für innere Sicherheit zuständigen Special Branch bei Superintendent Miller vor. Irgendwann muss sich der Drehbuchautor diese Frage gestellt haben: Wie bringe ich den gegen Meehan ermittelnden Miller und den Fallon suchenden Gaskin so zusammen, dass es sich auf glaubwürdige Weise aus der Handlung ergibt. Leider fiel dem Autor dazu gar nichts ein.
Was tut man da? Man verkohlt den Zuschauer, der ohnehin ein Trottel ist (wenn man nach Produzenten wie Samuel Goldwyn Jr. geht) und macht es so wie hier. "Auf der Straße" erzähle man sich, sagt Gaskin, dass Krasko von einem IRA-Mann erschossen wurde, der Geld und falsche Papiere brauchte. Miller ermittelt in dem Fall. Darum kriegt er Besuch von Gaskin. Martin Fallon heißt der IRA-Mann, sagt Gaskin. Fallon?", fragt Miller. Den hat er doch bei da Costa getroffen, in der Kirche! Aber wo könnte er jetzt sein? Wo könnte Meehan ihn versteckt haben?
Machen wir doch eine Razzia, sagen sich die Polizisten. In Jack Meehans Spielcasino und in seinen "Hotels" (Bordellen). So wird’s gemacht. Der Zuschauer weiß jetzt, dass die Polizei Fallon auf der Spur ist. Wenn das nicht für atemberaubende Spannung garantiert. An der drögen Szene ist auch zu sehen, warum sich die Produzenten darüber beklagten, dass Hodges sich nicht an das Drehbuch gehalten habe. Er drehte sie so wie geschrieben, ließ sie dann aber weg, weil man sie nicht braucht und weil sie - unter handwerklichen Gesichtspunkten - eigentlich nur peinlich ist, ein Beispiel für schlechte Drehbucharbeit.
Hodges’ Version ist besser und logischer. Der Fallon der Produzenten scheint ein rechter Depp zu sein. Erst bringt er Billys Leiche ins Krematorium, um sie spurlos verschwinden zu lassen. Dann bleibt die Asche im Ofen liegen, damit sich der penible Jack Meehan am nächsten Morgen überlegen kann, wer das mal gewesen ist. Bei Hodges wird die Bestattung nicht plötzlich abgebrochen. Fallon geht mit der Urne in den Park, von dem man als Zuschauer der Kinoversion nichts weiß, weil da auch schon gekürzt wurde. Inzwischen ist früher Morgen, weil das Verbrennen eines Menschen Zeit in Anspruch nimmt.
Unter einer Trauerweide verstreut Fallon Billys Asche. Gleich danach stirbt sein bester Freund. Hodges schneidet von der Trauerweide auf Siobhan Donovan, die telefonisch Anweisung erhält, Docherty zu töten, weil er es nicht übers Herz brachte, Fallon zu liquidieren und für die IRA jetzt ein Verräter ist. Siobhan schießt Docherty eine Kugel in die Stirn. Kaum ist die eine Leiche entsorgt gibt es schon die nächste. Die Produzentenfassung betont die Kriminalhandlung. Im Director’s Cut ist es der sinnlose Kreislauf der Gewalt, der im Zentrum des Interesses steht. Das ist nicht ganz dasselbe.
Sprengsatz im Raum-Zeit-Kontinuum
Hodges erinnert sich an schwierige Proben für das dramatische Finale des Films auf dem baufälligen Kirchturm. Alan Bates, Bob Hoskins und er selbst litten unter Höhenangst. Besonders die Fahrt im Aufzug nach oben muss schlimm gewesen sein. Auf dem Turm will Meehan den Priester und seine Nichte mit einer Bombe töten und den Verdacht auf die IRA lenken. Der Rummelplatz neben der Kirche war eine Idee des Regisseurs. Hodges wollte damit zwei Filmen die Referenz erweisen, die er sehr mochte: Hitchcocks Strangers on a Train und Carol Reeds The Third Man.
Vor allem aber kämpfte er für den (nicht ganz billigen) Rummelplatz, weil er wie immer an den Ton dachte. Oben auf dem Turm geht es um Leben und Tod, während unten die Leute ihren Spaß haben. Das schien ihm ein interessanter Kontrast zu sein. Im Director’s Cut akzentuiert die Tonspur, wie nahe der Tod, das weltliche Vergnügen und die Religion beieinander liegen. Meehan macht die Bombe scharf, sagt den da Costas, dass sie noch zehn Minuten zu leben haben, muss sich dann mit Fallon auseinandersetzen, der seinen Plan durchkreuzt und erfährt, dass sein Bruder tot ist (Fallon hat eine "Rest in Peace"-Karte für Billy mitgebracht), und die Jahrmarktsmusik spielt dazu.
Wenn Fallon mit dem Aufzug nach oben fährt schlägt die Kirchenglocke und wenn er nach dem Handgemenge mit Meehan in die Tiefe stürzt hören wir kurz die Harfe und die E-Gitarre, die in der ursprünglichen Komposition von John Scott ein zeitgenössisches und unfolkloristisches Nordirland markieren. Am Anfang hören wir die Harfe und die E-Gitarre, bevor Fallon und seine Terrorzelle anstelle der Militärfahrzeuge einen Schulbus in die Luft sprengen. Dieser vermurkste Anschlag führt Fallon nach London. Jetzt, am Schluss, stürzt er zurück in den Abgrund, aus dem er gekommen ist.
Die Produzentenfassung ist ziemlich schematisch, weniger atmosphärisch und nicht so ambivalent. Die Jahrmarktsgeräusche sind noch da, werden aber bald von Bill Contis Musik verdrängt. Das Glockenläuten (vgl. das Ende von Hitchcocks Vertigo) ist von der Tonspur getilgt. Der Director’s Cut kommt ohne die üblichen Hierarchisierungen aus. Bild, Ton und Musik sind gleichrangige Einheiten. Das macht den Film offener und vielschichtiger, weil sich durch die Verbindung dieser Einheiten mehrere Erzähl- und Bedeutungsebenen ergeben. Contis Musik dagegen dominiert die Kinoversion und gibt vor, was wir denken und fühlen sollen.
Bei Hodges sind kurze Flashbacks eingestreut. Obwohl es sich um weniger als ein Dutzend Einstellungen handelt mussten sie aus der Produzentenfassung komplett verschwinden, weil da das Primat des streng chronologischen Erzählens herrscht, wo so etwas nur irritierend ist. Erst recht musste die Vorausblende weg. Im Rahmen der Hollywood-Konventionen ist ein Flashforward noch viel beunruhigender als die Erinnerungsbilder (vom Mord an Krasko), die da Costa wie Blitze durch den Kopf zucken. Die Rede ist von der Szene, in der Fallon zum ersten Mal in die Kirche kommt und Anna trifft, da Costas blinde Nichte.
Die beiden unterhalten sich. Anna verlässt die Kirche. Fallon bleibt auf einer Bank sitzen und schaut nach oben. Da hängt der gekreuzigte Heiland von der Decke. In der nächsten Einstellung löst sich das Kreuz aus der Verankerung und fällt herunter (nur im Director’s Cut). Ob das Fallons Perspektive ist, er also einen Blick in die Zukunft wirft, oder ob der Film die Chronologie aufbricht und zeigt, was noch passieren wird, bleibt unbestimmt. Hodges dachte schon über das Drehbuch für Black Rainbow nach, als er Prayer inszenierte. Rosanna Arquette spielt da ein betrügerisches Medium und stellt fest, dass sie doch übersinnliche Fähigkeiten hat.
Die leicht metaphysische Einstellung mit dem fallenden Kreuz ist durchaus angemessen. Wir sind hier im Gotteshaus einer Religion, die ein Leben nach dem Tod verspricht und deren Gläubige per Transsubstantiation das Blut ihres Erlösers trinken. Die nächste Szene bringt uns zurück auf den Boden der Tatsachen, und in das Bestattungsinstitut des Gangster-Kapitalisten Jack Meehan, für den auch der Tod nur ein Geschäft ist. Meehan entdeckt, dass einer seiner Angestellten in die eigene Tasche gewirtschaftet hat und lässt den Mann zur Strafe an die Wand nageln. Dann wird Mr. Ainsley zum Arzt gebracht, weil er tags darauf wieder arbeitsfähig sein soll. Das ist eine sehr weltliche, profitorientierte Erlösung von den Sünden.
In der Kinoversion kommt wieder die Polizei dazwischen. Meehan, Ainsley und das Beerdigungsinstitut müssen nach Fallons Blick auf den Gekreuzigten noch warten, weil erst der in der Mordsache Krasko ermittelnde Superintendent Miller einen seiner der Krimikonfektion geschuldeten Auftritte hat. Miller ist zum Friedhof geeilt, um den Tatort zu besichtigen. Tatzeuge Da Costa berichtet, dass Kraskos Mörder mit einer von Terroristen gern verwendeten Ceska geschossen hat. Der Priester kennt sich aus, weil er früher beim SAS war. Miller hat noch beizutragen, dass Jack Meehan involviert ist (Krasko war sein Konkurrent).
Wenn es der Director’s Cut je auf eine DVD geschafft hätte wären die paar Minuten mit Miller und da Costa auf dem Friedhof im Bonusmaterial gelandet, in "Deleted Scenes" - vielleicht mit einem Kommentar des Regisseurs, der uns erklärt, warum er die Szene weggelassen hat. Dafür gab es Gründe. Die Dialoge zeugen wieder von schlechter Drehbucharbeit, weil mit der Holzhammermethode eine Verbindung zwischen dem Gangster und dem Terroristen hergestellt wird. Die Vergangenheit des Pfarrers als Mitglied einer militärischen Spezialeinheit ist eine der forcierteren Erfindungen des Romanautors Jack Higgins. Der Director’s Cut geht dezenter damit um als die Kinoversion.
Gefallener Engel
Beide Fassungen belohnen das genaue Hinsehen, das auch beim kommerziellen Kinofilm weiterhin erlaubt bleibt. Fallon schaut immer wieder mal nach oben. Die Autoren von einigen der Verrisse, die zu Prayer geschrieben wurden, tun das als lächerlichen Manierismus des Schauspielers Mickey Rourke ab. Wenn man verstanden hat, dass Fallon ein katholischer Terrorist auf der Suche nach Erlösung ist, und dass dort das Kreuz hängt, ergibt der Blick nach oben einen Sinn. Interessanter ist natürlich der Director’s Cut, weil da der Blick zur Decke (zum Himmel) zugleich einer in die Zukunft ist und man sich mit Fallon fragen kann, wann das passieren wird, was dort zu sehen ist.
Hodges beantwortet die Frage mit einer Mischung aus Trauer und Ironie. "Wir sehen uns in der Hölle", sagt Fallon am Schluss zu Meehan. Nach einem Handgemenge mit dem Gangster stürzt er als gefallener Engel vom Kirchturm. Auf dem Weg nach unten gelingt es ihm, sich am gekreuzigten Jesus Christus festzuhalten; weil er aber an der glatten Oberfläche keinen Halt findet rutscht er ab und prallt schließlich auf dem Fußboden der Kirche auf. In der Kinoversion ist der Absturz kosmetisch bearbeitet. Das Geräusch des Aufpralls wird von Contis Musik übertönt. Einstellungen mit Fallons zerbrochenem, auf dem Boden liegenden Körper sind entfernt. So wird das Sterben leichter konsumierbar.
Vom Rummelplatz aus beobachten die da Costas, wie auf dem Kirchturm die für sie bestimmte Bombe explodiert und Jack Meehan in Stücke reißt (Karussellmusik im Director’s Cut, Conti in der Kinoversion). Der Priester kommt noch rechtzeitig in das, was von seiner Kirche übrig ist, um zu sehen, wie das über dem Altar hängende Kreuz mit Jesus Christus von der Decke fällt und auf dem Boden aufschlägt wie vorher Fallon. Das ist die Einstellung, die Hodges in seiner Schnittfassung da eingefügt hat, wo Fallon zum ersten Mal in der Kirche sitzt, die blinde Anna getroffen hat und nach oben schaut, zum Kruzifix.
Jetzt, da das Kreuz tatsächlich herunterfällt, in der Gegenwart, sich die frühere Einstellung also als Blick in die Zukunft erweist, fügt Hodges eine Einstellung aus der Vergangenheit ein: Fallon auf dem Hügel in Nordirland, bevor der Schulbus in die für den Militärkonvoi gedachte Sprengfalle fährt. Damit schließt sich ein Kreis. Wer andere tötet, sagt der Film, bringt sich selber um. Nach dem Tod der kleinen Mädchen ist Fallon ein lebender Leichnam; ein Wanderer zwischen den Welten auf der Suche nach einer Sterbemöglichkeit, die er nun gefunden hat.
Die Rückblende und die Vorausblende, die am Schluss des Films in der Gegenwart ankommt, brechen nicht nur das chronologische Erzählen auf (was die Produzenten rückgängig machten). Sie sind auch der subtile Hinweis darauf, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde geben könnte, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt (um es mit Shakespeares Hamlet zu sagen) - etwa die Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen und nicht nur nach oben zur Decke, von der ein gekreuzigter Erlöser hängt, der in der Kinoversion wenig mehr als eine Figur ist, die einem auf den Kopf fällt, wenn man nicht auf sich Acht gibt.
Mike Hodges ist möglicherweise nicht der katholischste aller vom Katholizismus abgefallenen Regisseure (wie gläubig Hitchcock war weiß ich nicht genau), sicher aber einer der spirituellsten. Man merkt das nur nicht immer gleich, weil das Spirituelle bei ihm eher unauffällig in die Handlung eintritt, sich nicht aufdrängt und nichts mit dem Absingen von Kirchenliedern und anderen Ritualen zu tun hat, mit denen wir es einzäunen und festen Regeln unterwerfen. Den Produzenten war das Dezente schon zu viel. Darum wurde es entfernt, so gut es ging.
Letzte Momente im Leben eines IRA-Manns
Ganz ist das Spirituelle und Metaphysische auch aus der Kinofassung nicht verschwunden. Es ist nur leider fragmentiert und auf seinen Gebrauchswert reduziert, weil die Bearbeiter bemüht waren, eindeutige Antworten zu geben, wo Hodges ambivalent bleibt. Am Schluss liegt Martin Fallon unter dem Kruzifix. Ob die auf ihn gefallene Erlöserfigur seine beim Sturz erlittenen Verletzungen noch verschlimmert oder ob sie ihn gegen herabfallende Gesteinsbrocken geschützt hat bleibt offen. Jedenfalls muss da Costa den Sterbenden erst vom gekreuzigten Heiland befreien, ehe er ihn auffordern kann, Gott um Vergebung zu bitten.
Beim Freiräumen kommt der Torso von Jesus Christus neben Fallon zu liegen. Wenn man den Film seiner Ambivalenz beraubt wird das ganz schnell zum Religionskitsch. Hodges beugt dem mit einem Schuss Ironie vor, der sich nicht mehr rückgängig machen ließ: die Figur des Erlösers ist nur noch ein Torso, die abgebrochenen Arme sind weiter ans Kreuz genagelt. Da Costa will unbedingt Fallons Seele retten und drängt ihn, im Moment des Todes einen Akt der Reue zu vollziehen. Gott werde verstehen und warte nur darauf, sagt er. Mit letzter Kraft tut Fallon schließlich, was sich der Priester von ihm erhofft.
"Vater …", sagt Fallon, "bitte … bitte … bitte … Gott … vergib mir." Dann ist er tot. Da Costa spricht ein Gebet für den Verstorbenen. Glücklich ob der Seelenrettung wirkt er dabei nicht, aber irgendwie ist das doch sehr geschäftsmäßig (in der deutschen Synchronfassung noch mehr, weil da eine dem Spirituellen eher abträgliche Tonstudioatmosphäre herrscht). Der Terrorist bittet um die Vergebung seiner Sünden, und der allgegenwärtige Gott wird ihm dann schon verzeihen und ihn zu sich in den Himmel holen, weil sein Stellvertreter auf Erden es versprochen hat.
Im Director’s Cut dauert das Sterben länger, es gibt mehr Dialog, und anders geschnitten ist die Szene auch. Martin Fallon denkt im Angesicht des Todes zuerst an den Kampf für die irische Wiedervereinigung, der immerhin den Großteil seines Lebens bestimmt hat. Für den Film ist das ganz wichtig. Fallon ist ein Mann, der bis zum Ende die Ziele der IRA teilt, auch wenn er deren Methoden nicht mehr gutheißen kann und genug vom Töten hat. Die Kinoversion wurde zu Recht dafür kritisiert, dass der Held auch ein Auftragskiller der Mafia sein könnte, der nicht mehr morden will. Dem Film gibt das etwas Beliebiges.
Der IRA-Bezug wirkt mitunter aufgesetzt und spekulativ, weil der Held Gefahr läuft, zur austauschbaren Figur zu werden, zum Versatzstück in einem konventionellen Thriller. Die Prügel dafür bezog der Regisseur, obwohl es sich um ein Ergebnis von Produzentenwillkür handelt. Goldwyn und Snell war das Thema wohl zu heikel, was dann erst recht zum Skandal führte, weil sich die Kinoversion von Prayer nicht nur an einen schwierigen Stoff wagt, sondern in einigen Passagen den Eindruck vermittelt, als wäre der Terror kaum mehr als ein beliebiges Plotelement.
Der Vorbereitung auf die Sterbeszene dient - in der Mitte des Films - ein Gespräch zwischen dem Priester und dem IRA-Mann mit vertauschten Plätzen. Da Costa sitzt auf einer Kirchenbank. Fallon steht wie ein Prediger auf der Kanzel und spricht darüber, dass wir im Grunde ganz allein sind. In einem Krieg, den alle unbedingt gewinnen wollten, habe er sich auf eine Seite gestellt, Menschen zerstört und viel zu spät gemerkt, dass er mit jedem Schuss auch sich selbst zerstört habe. Da Costa wirft Fallon Heuchelei vor, weil er angeblich nicht mehr töten will und es doch gerade wieder getan hat (der Mord an Krasko).
In der Produzentenfassung ist die Szene verstümmelt. Im Director’s Cut will Fallon von Gott nicht nur wissen, weshalb er den Glauben an ihn verloren hat (man beachte die Ironie). Er hätte auch gern von Gott erklärt, warum so viele Iren immer noch den bewaffneten Kampf wollen, und wie sich die Liebe zu Gott damit vereinbaren lässt, dass man Mord und Blutvergießen akzeptiert. Gute Frage. Leider wird sie in der Kinoversion nicht mehr gestellt. Nur die Erwähnung eines "Krieges" blieb erhalten, weil sich Rourke mit den Produzenten überworfen hatte und die Szene nicht neu gedreht werden konnte.
Bei Hodges spricht Fallon von den Leuten, die bei Anschlägen der IRA gestorben sind und von den Angehörigen, denen er einen geliebten Menschen genommen und deren Leben er dadurch ebenfalls zerstört habe. Damit wird ein zentraler Aspekt des Nordirlandkonflikts berührt (und anderer Konflikte dieser Art), jener der "Kollateralschäden". Aktionen auf der einen Seite steigerten die Gewaltbereitschaft auf der anderen, weil ständig neue, auch gänzlich unbeteiligte Opfer zu beklagen waren, was wiederum zu Gegenreaktionen führte und so weiter.
Erst mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 wurde der jahrzehntelange Kreislauf der Gewalt durchbrochen. Der Director’s Cut mit einem an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidenden Martin Fallon lässt erahnen, dass die bis dahin kaum für möglich gehaltene Kompromissbereitschaft der katholischen Nationalisten und der pro-irischen Protestanten auch ein Resultat der Erschöpfung der Kämpfer war. Zur Zeit der Troubles setzte man sich mit so einem Film leicht zwischen alle Stühle. Die Produzenten bekamen offenbar Angst vor der eigenen Courage, als sie Hodges’ Schnittfassung sahen.
Der Held der Kinoversion ist weniger kaputt (und somit heldenhafter). Das Dilemma des IRA-Kämpfers wird da, wo es durch Kürzungen zu bewerkstelligen war, auf eine allgemeine Ebene gehoben, was wohl die kommerzielle Verwertbarkeit erhöhen sollte. Dem Film hat das geschadet und nicht genützt, weil das Allgemeine in die Beliebigkeit entschwebt, wenn ihm die spezifische Grundlage fehlt. Wer einen Thriller über einen Provo in Auftrag gibt und dann möglichst keine Irland-Bezüge haben will, weil das Ärger einbringen könnte, hat sich das falsche Projekt ausgesucht.
Verdammnis oder Erlösung?
"Um Gottes Willen", sagt da Costa zum sterbenden Martin Fallon (nur im Director’s Cut), "der Kampf ist vorbei. Bitte Gott um Vergebung." In der Produzentenfassung macht Fallon das auch brav, damit der Zuschauer mit einem guten Gefühl aus dem Kino gehen kann. Hodges dagegen schneidet im entscheidenden Moment auf die in die Kirche gekommene Anna. So bleibt offen, ob Martin mit dem Wort "Gott …" auf den Lippen stirbt, oder mit dem "Gott … vergib mir" der Kinoversion. Sicher ist, dass er bei Hodges ohne Musik aus dem Leben scheiden darf. Das macht die Szene stärker, weil keine von außen dazugegebenen Emotionen von der Leistung der Schauspieler ablenken.
Nur im Director’s Cut gibt es nach Fallons Tod einen Kameraschwenk, der noch einmal den vom Kreuz abgebrochenen Jesus Christus ins Bild rückt. Der Torso fungiert als Fragezeichen. Hat Fallon Gott um Vergebung gebeten oder nicht? Wird Gott, falls er existiert, Gnade walten lassen? Oder ist die ihrer Arme beraubte Skulptur das Symbol für die Heilsversprechen einer Religion, die ihre Gläubigen schon vor der Explosion in einem renovierungsbedürftigen, vom Abriss bedrohten Kirchenbau empfing? Die Kinoversion braucht die Einstellung nicht, weil der Religionsteil mit der Bitte um Vergebung und dem Gebet des Priesters abgehakt ist.
Im Director’s Cut verweilen diese Fragen noch zwischen den Bildern, wenn die Sanitäter Fallons Leiche abtransportieren. Die Feuerwehr löscht den Brand. Die ermittelnden Beamten tragen Trenchcoats und eilen in die Kirche. Die Sinnlosigkeit ihrer Bemühungen kommentiert eine Stellwand, die Kirche und Rummelplatz trennt. Dort ist die Karikatur eines Polizisten in Bobby-Uniform aufgemalt. Vor der Karikatur steht Siobhan Donovan. Sie ist gekommen, um sich zu versichern, dass Fallon tot ist. Über den Lichtern des Jahrmarkts wölbt sich ein nachtschwarzer Himmel. Den Produzenten war das wohl zu finster. Deshalb ließen sie den Abspann - in heller Schrift - nach oben steigen.
Siobhan ist inzwischen unter den Schaulustigen verschwunden. Beruhigend ist das nicht. Sie ist die Auftragskillerin von der IRA, die weiter mordet und dabei nicht zwischen Freund und Feind unterscheidet, wenn die Führung beschlossen hat, dass es der Sache dient. Wenige Tage vor der Europa-Premiere wurde A Prayer for the Dying von der so angedeuteten Wirklichkeit eingeholt. In Enniskillen explodierte eine Bombe und riss elf Menschen in den Tod. Der Skandal rund um die geplante Galaveranstaltung beim London Film Festival und der Streit zwischen Regisseur und Produzenten liegen bis heute wie dunkle Schatten über dem Film, obwohl sich kaum mehr jemand daran erinnern kann.
Das sollte einen nicht davon ablenken, wie unerschrocken sich beide Fassungen der entscheidenden Frage stellen: Kann es für einen Terroristen, der viele Menschen auf dem Gewissen und das Leben der Angehörigen ruiniert hat, so etwas wie Vergebung und Erlösung geben? Damals, 1987, war es von Publikum und Kritikern offenbar zu viel verlangt, sich dieser Frage auszusetzen. Jetzt, 30 Jahre später, ist sie so aktuell wie eh und je. Nur die Protagonisten des Dramas haben sich geändert. Der Brexit hat das Potential, die alten Akteure zurück auf die Bühne zu holen. A Prayer for the Dying bleibt unbedingt sehenswert.
In Deutschland ist die Produzentenfassung von A Prayer for the Dying - unter dem dämlichen Verleihtitel "Auf den Schwingen des Todes" - bei Koch Media auf DVD und Blu-ray erschienen. Leider gibt es keinerlei Bonusmaterial, wie schon bei der alten MGM-DVD. Besser ist die Limited Edition (Blu-ray, Region Free, kein deutscher Ton) von Twilight Time, erhältlich bei Screen Archives Entertainment in den USA. Zusätzlich zur Produzentenfassung erhält man Interviews mit Mike Hodges und Mike Garfath, den Trailer und ein Booklet mit einem Text von Julie Kirgo. Nur auf den Director’s Cut wartet man wahrscheinlich immer noch, wenn die Kinoversion längst auf 4K Ultra HD erschienen ist. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.