Gebet für einen Sterbenden
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Das Vereinigte Königreich, die IRA und ein Filmskandal
Nach dem Brexit wird durch Irland eine EU-Außengrenze verlaufen. Pessimisten warnen bereits vor dem Wiederaufflammen eines alten, sehr blutigen Konflikts. Grund genug, sich an einen Film zu erinnern, der heute so aktuell ist wie vor 30 Jahren, als er für einen Skandal sorgte. Von A Prayer for the Dying gibt es die Kinoversion und die Fassung des Regisseurs Mike Hodges, über die schon viel geredet wurde, obwohl sie kaum jemand gesehen hat. Wodurch sich die beiden Fassungen unterscheiden, und was sich aus dem Film und der nun 100-jährigen Geschichte der IRA für die Terrorbekämpfung lernen lässt, erfährt man hier.
Bomben in Manchester
Die Folgen des Bombenterrors der IRA sind bis heute sehr präsent. Als sich am 22. Mai 2017 Salman Abedi in der Manchester Arena in die Luft sprengte und 22 Menschen mit in den Tod riss weckte das bei älteren Semestern schlimme Erinnerungen an den 15. Juni 1996. Damals wurde in der Innenstadt von Manchester die größte Bombe (1.500 Kilogramm) zur Detonation gebracht, die in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg je explodierte. Bei Fernsehsendern und der Polizei gingen vorher mehrere Warnungen der IRA ein. Die Behörden evakuierten 80.000 Menschen. Wie durch ein Wunder gab es keine Todesopfer (aber mehr als 200 Verletzte).
Zwei Jahre davor kam Salman Abedi in Manchester zur Welt. Seine libyschen Eltern waren vor dem Gewaltregime von Oberst Muammar al-Gaddafi nach England geflohen. Das ist voll bitterer Ironie. Die Opfer der 1996 in der Corporation Street hochgegangenen Autobombe versuchen seit geraumer Zeit, Schadenersatz von Libyen einzuklagen, weil sie überzeugt sind, dass Gaddafi der IRA das Semtex lieferte. Der 2011 ermordete Diktator ist damit auch Teil einer unter den Mancunians geführten Diskussion darüber, ob man sagen kann (und darf), dass sich der Anschlag der IRA langfristig positiv auf die Entwicklung ihrer Stadt auswirkte.
Die durch die gewaltige Explosion angerichteten Schäden an Gebäuden und Infrastruktur waren so groß, dass eine Neugestaltung der Innenstadt unumgänglich wurde. Manchester nutzte die Gelegenheit, sein Image als graue, grimmige und von Mangelerscheinungen geprägte Industriestadt aufzupolieren. Die neue City wurde zum Aushängeschild einer aufstrebenden, toleranten und lebensbejahenden Metropolregion mit großer Anziehungskraft auf junge Leute und die Arena zum logischen Veranstaltungsort für Events wie Ariana Grandes Dangerous Woman Tour.
Um das Manchester vor der Frischzellenkur hätte die Sängerin wahrscheinlich einen großen Bogen gemacht. Es besteht also - zugespitzt gesagt - ein Zusammenhang zwischen der 1996 detonierten Autobombe der IRA und Abedis Selbstmordanschlag bei Grandes Konzert. Leider haben die Planer die Bäume vergessen. Es ist bedrückend, die vielen jungen Obdachlosen zu sehen, die heute mit zum Stadtbild gehören (in einem Land, in dem den Sozial- und Bildungssystemen die Kosten der Finanzkrise aufgebürdet wurden). Trotzdem bleibt der prinzipielle Befund:
Das Manchester von 2017 ist ungleich lebendiger und optimistischer ist als der in Tristesse und Depression versunkene Ort von damals. Manche Mancs sind daher der Meinung, dass der Anschlag von 1996 auch etwas Gutes hatte. Andere lehnen solche Überlegungen ab, weil sie finden, dass man durch diese Sicht der Dinge die Verbrechen der IRA relativiert. Auf nicht weniger schwieriges Gelände begaben sich diejenigen, die nach Abedis Attentat den IRA-Bombenbauern von 1996 zugute hielten, dass sie die Öffentlichkeit zuvor warnten, statt gezielt Kinder und Jugendliche zu töten. Auch das, so die Kritiker, sei eine unzulässige Relativierung.
In der Tat kann man sich schwerlich damit herausreden, nur Sachen beschädigen und keine Menschen töten zu wollen, wenn man in der Innenstadt einen Wagen mit einer Bombe von dieser Sprengkraft parkt. Die damals und in den Jahrzehnten davor gerissenen Wunden, auch in der Psyche der direkt Betroffenen und im kollektiven Unbewussten des ganzen Landes, sind noch offen oder bestenfalls vernarbt. Damit lassen sie sich politisch instrumentalisieren, wie sich im zurückliegenden Wahlkampf zeigte, als einige Strategen der Konservativen und ihre Unterstützer auf persönliche Diffamierung umschalteten, weil es eng zu werden drohte.
Abedis Opfer waren noch nicht begraben, als die Tories unterstützende Zeitungen bereits versuchten, Jeremy Corbyn in die Nähe der IRA zu rücken, weil er in den 1980ern, als Mike Hodges seinen Film drehte (und ebenfalls in den Verdacht geriet, mit der IRA zu sympathisieren), mit Mitgliedern der Sinn Féin gesprochen und es nicht verheimlicht hatte, obwohl man so etwas als englischer Politiker zu der Zeit nur im Verborgenen tat. Die Corbyn-Verhinderer brachten diese 30 Jahre alten Gespräche gegen ihn in Stellung, weil sie sich davon erhofften, dass es ihn Wählerstimmen kosten würde.
Harfe und E-Gitarre
Wie fängt ein guter Film an? Zum Beispiel so: Ein Vorspann mit Titeln in weißer Schrift, auf schwarzem Untergrund. Einfacher geht es nicht, denkt man sich. Die Schlichtheit aber ist trügerisch. Man hört eine Harfe und eine E-Gitarre, die uns in der Gegenwart verankert, ehe wir in die verklärende Nostalgie der Folklore und in den Irland-Kitsch abdriften können. Der Komponist ist John Scott, der Gründer des Johnny Scott Quintet. In den 1960ern und 1970ern war er eine der einflussreichsten Figuren der britischen Jazzszene. Er und Mike Hodges arbeiteten zwei Jahre später auch bei Black Rainbow zusammen, einem Thriller, der Hellseherei mit Ökologie und der Ausbeutung der Arbeiter im Bible Belt kombiniert.
Scotts Filmmusiken und Arrangements merkt man immer an, was er für künstlerische Wurzeln hat und dass er das Milieu berücksichtigt, in dem die Handlung angesiedelt ist. Der Hauptschauplatz von A Prayer for the Dying ist ein Londoner Arbeiterviertel. Hodges drehte in East London, in Canning Town und im von Mark Knopfler besungenen Silvertown: zwei langsam verrottenden Industriebezirken am Nordufer der Themse (dazwischen lagen die Royal Victoria Docks, einst die ersten speziell für große Dampfschiffe gebauten Dockanlagen der Welt), in die noch kaum ein Stadtentwickler und Spekulant eingefallen war.
Typisch für Scotts Herangehensweise ist das Martin Fallon und Anna da Costa begleitende Liebesthema, das von einer Tanzkapelle gespielt wird. Man hört eine akustische Gitarre, ein Schlagzeug, einen E-Bass, eine (einzelne!) Violine, eine Harfe. In einem Tanzschuppen im East London der 1980er könnte man sich eine Band mit einer solchen Besetzung sehr gut vorstellen. Scott hat in Absprache mit dem Regisseur eine zeitgenössische Musik geschrieben, die Hodges nicht als Klangteppich über die Bilder legt, sondern mit anderen Geräuschen kombiniert.
Hodges sagt von sich selbst, er sei besessen vom Ton. Er führt das darauf zurück, dass er in einer Zeit aufwuchs, als man in England ins Kino gehen und dort die Filme von David Lean sehen konnte, von Michael Powell und Emeric Pressburger, von Carol Reed. Ihnen allen war gemeinsam, dass sie den Ton sehr bewusst einsetzten und die Musik nur da, wo es einen Sinn ergab, statt das Publikum mit ihr zu überfluten und ihm aufzuzwingen, was es denken und fühlen soll. Für Hodges ist die Saturierung der Tonspur mit Musik ein Mittel, um die Unsicherheit des Regisseurs zu überdecken, der seinen Bildern nicht vertraut.
Ein Motor läuft. Ein Hund bellt. Wenn vor schwarzem Hintergrund der Filmtitel erscheint, A Prayer for the Dying, hören wir zum ersten Mal das Krächzen von Krähen, als Rabenvögel traditionell mit dem Tod assoziiert. Geräusche, signalisiert der Vorspann, werden ernst genommen, die Musik wird nicht zur Erzeugung künstlicher, dem Publikum oktroyierter Emotionen missbraucht in diesem Film, der den Zuschauer zum Mitdenken animieren will, statt eine Geschichte zu erzählen, die sich auf Dialoge und ebenso kalkulierbare wie kalkulierte, auf Effekt getrimmte Musikkompositionen reduzieren lässt.
Tragische Folklore
Der Prolog zur Haupthandlung spielt sich in Nordirland ab, informiert uns eine Schrift. Wir sind also in einer der sechs Grafschaften, die nach der Teilung Irlands beim Vereinigten Königreich verblieben waren und in denen protestantische Unionisten, katholische Nationalisten von der IRA und Polizeikräfte und Spezialeinsatztruppen der britischen Armee einen Konflikt austrugen, der in eine scheinbar nicht enden wollende Spirale der Gewalt gemündet war, als A Prayer for the Dying entstand. Dann folgt die erste Einstellung des Films.
Wir sehen Mickey Rourke (als IRA-Mann Martin Fallon) nah und leicht von unten. Aus dem schwarzen Hintergrund des Vorspanns sind die dunklen Äste eines Baums geworden. Ein grünes Blatt sticht heraus, weil es eines von den letzten ist, die noch an den Ästen hängen. Es ist Herbst, die Natur stirbt, der Tod steckt auch in diesem Anfangsbild. Am unteren Bildrand ist ein Stück vom Zielfernrohr des Gewehrs zu erkennen, das Rourke in den Händen hält. Ob die Krähen als Aasfresser wohl in der Baumkrone sitzen, um dort abzuwarten, was ihnen der Jäger liefern wird, tote Tiere oder tote Menschen?
Dieser Beginn ist ebenso atmosphärisch wie unheimlich. Wir befinden uns in einer Zwischenwelt. Bei einer Geschichte, die vom Sterben, von der Ermordung unschuldiger (und einiger nicht so unschuldiger) Menschen berichtet, vom christlichen Glauben an die Vergebung der Sünden sowie ein Weiterleben nach dem Tod und von einem Antihelden, der wie ein lebender Toter durch die Handlung wandert, ein Zombie auf der Suche nach einer Suizidmöglichkeit, sollte das so sein.
Stopp. Wer den Film kennt und sich noch an den Anfang erinnern kann muss jetzt denken, dass ich phantasiere. Auf den derzeit erwerbbaren DVDs und Blu-rays mit A Prayer for the Dying sind zu Beginn weder Krähen noch Motorengeräusche zu hören. Als Komponist wird Bill Conti genannt und nicht John Scott. Contis symphonisch orientierte, großzügig mit Streichern bestückte Musik hat mit der von Scott nur gemein, dass auch da gelegentlich eine Harfe zu hören ist, weil das zum Irland-Klischee mit dazugehört. Scotts Harfe aber ist Teil einer ganz anderen Welt.
Bill Conti gilt als ein Meister der großen Gefühle. Wer mal in Philadelphia war, die 72 Stufen zum Museum of Art hinauflief und dabei glaubte, die Musik zu hören, zu der Sylvester Stallone das in Rocky macht, kann dem nur zustimmen. Contis Trompeten scheinen Rocky Balboa, dem ewigen Underdog, Flügel zu verleihen: "Getting strong now/gonna fly now". Ein grandioser Moment, aus der Filmgeschichte nicht mehr wegzudenken. Es ist also höchstes Lob, wenn viele Fans des Komponisten der Meinung sind, dass er selten besser war als bei A Prayer for the Dying.
Das Problem ist nur, dass diese Musik so gar nicht zu dem Film passt, den Mike Hodges den Produzenten übergab und den man als Kinozuschauer nie sehen durfte. Das Recht der Geldgeber auf ihr Investment war wieder einmal mehr wert als das Recht der Kreativen auf ihr Kunstwerk. Leider gewöhnt man sich an alles. Wenn man Scotts Musik mit der von Conti vergleicht wird einem erst richtig klar, wie gnadenlos und ohne Rücksicht auf Verluste letztere einen zudröhnt, auch wenn sie sehr melodisch und einschmeichelnd klingen mag. Hodges’ Sound-Design, eine der großen Stärken des Director’s Cut, schlägt sie glatt tot, weil für den Klang der vom Film gezeigten Welt kein Platz mehr bleibt.
Das war ganz im Sinne der Produzenten, denen offenbar daran gelegen war, der traurigen, trotz der melodramatischen Elemente ohne falsche Sentimentalität erzählten Geschichte durch süßliche "Romantik" auf der Tonspur den Stachel zu nehmen. Irgendwo habe ich gelesen, dass Contis Musik die Handlung mit "tragischer Folklore" begleite. Mit "tragischer Folklore" hat man es demnach zu tun, wenn Harfe, Pennywhistle und Hackbrett so kombiniert werden, dass ein Musiksyrup dabei herauskommt, der einem auch mal - besonders in der letzten Viertelstunde - die Gehörgänge verkleben kann.
Wohlgemerkt: Conti schuf genau das, was von ihm verlangt wurde, um den vom US-Produzenten als zu "europäisch" und deshalb verstörend empfundenen, von Hodges abgelieferten Film zu "retten". Besser kann man das kaum hinkriegen. Wer pompöse, alle Bremsen lösende Filmmusiken mag, wird mit dem auf CD veröffentlichten Soundtrack perfekt bedient. Hodges’ Film wird durch Contis Musik beschädigt, weil sie die Handlung nicht begleitet, sondern kapert und schlicht erdrückt. Ich stelle an mir selber fest, dass ich Pennywhistle und Hackbrett in der Erinnerung sogar an Stellen höre, wo es sie nicht gibt.
Das ist wohl ein Beleg für die manipulatorische, die Wahrnehmung dominierende Kraft der tragischen Folklore. Schade um die Musik von John Scott, die ebenfalls auf CD erschienen ist (Bonus zum Soundtrack von Winter People), aber nie auf einer DVD mit dem Film, für den sie geschrieben wurde. Auf den Director’s Cut wartet man vergeblich. Im Windschatten von Croupier, mit dem Hodges 1999 ein Überraschungserfolg gelang, plante die MGM, die ursprüngliche Version von Prayer wiederherzustellen. Seit die Firma in andere Hände überging ist davon nicht mehr die Rede. Von Hodges’ Fassung gibt es nur eine Videokopie im 4:3-Format, mit schlechter Bild- und Tonqualität, auf die ich mich hier beziehe.
Gibt es richtige und falsche Opfer?
Der von Rourke gespielte Martin Fallon steht auf einem Hügel, von dem aus er wie ein Feldherr eine anscheinend generalstabsmäßig geplante Kommandoaktion überwacht. Vor ihm schlängelt sich eine mit Hecken umrandete Landstraße durch die grünen Wiesen. Am Wegesrand steht ein Traktor mit einer Ladung Stroh. Der Traktor dient der Tarnung des IRA-Manns, der gerade dabei ist, eine Sprengfalle scharf zu machen. Das Ziel sind zwei britische Militärfahrzeuge. Hinter ihnen taucht ein Schulbus auf.
Die Soldaten lassen den Bus überholen, kurz vor der Sprengfalle. Anstelle der beiden Land Rover fliegt der Schulbus in die Luft. Fallon hat die Sonnenbrille abgenommen und kann nur hilflos dabei zuschauen. Der Traktor, eben noch eine gute Tarnung, muss jetzt als Fluchtfahrzeug für den falschen Bauern herhalten, weil die Soldaten den Anschlag überlebt haben und zu seinen Jägern geworden sind. Der Mann erkennt die Aussichtslosigkeit des Unterfangens, versucht es zu Fuß und wird erschossen. Was als Szenario für das Attentat auf einen Militärkonvoi beginnt wird zur grimmigen Groteske, weil sich die Rahmenbedingungen geändert haben.
A Prayer for the Dying ist kein Film, der uns einlädt, perfekt geplante und durchgeführte Aktionen zu bewundern, was meistens auf Kosten der Opfer geht, weil man als Zuschauer leicht in eine Lage gerät, in der man sich mit den professionell agierenden Tätern identifiziert. Ein nicht mit einberechnetes Detail genügt, um aus einem zumindest noch irgendwie begründbaren Anschlag ein sinnloses Gemetzel zu machen. Hodges zeigt uns eine vermurkste Operation der IRA. Es passt ins Bild, dass die Soldaten dem Mann mit dem Traktor in den Rücken schießen, wenn er wegrennt wie ein Hase.
Dabei darf man sich auch gleich noch fragen, ob es wirklich so viel besser gelaufen wäre, wenn beim Sprengstoffanschlag englische Soldaten getötet worden wären statt der irischen Kinder? Ist ein Blutbad besser als das andere? Nein, sagt der Film, alles ein sinnentleertes Morden. Dementsprechend ist Fallon ein Mann, der das Ziel, die Wiedervereinigung Irlands, nicht aufgibt, aber die Methoden der IRA nach dem einleitenden Desaster nicht mehr mittragen will und kann.
Mickey Rourke, auf dem Feldherrnhügel stehend und aus Untersicht: Das ist eine der traditionellen Möglichkeiten, den Helden einzuführen. Die Zeit hat den Effekt noch verstärkt, weil der damals unbekannte Liam Neeson, der als Docherty in die Einstellung tritt, durch die Hauptrolle in Schindlers Liste (1993) selbst weltberühmt wurde. Jetzt hat man zwei Stars in einem Bild. Im Vergleich zu Hodges’ Montage ist die der Kinofassung konventioneller und auf klare Orientierung ausgerichtet, statt durch Verstöße gegen die uns antrainierten Sehgewohnheiten ein kaum wahrnehmbares Gefühl der Unsicherheit zu erzeugen, und eine ironische Brechung, die in der Kinoversion geringer geworden ist.
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