Gebet für einen Sterbenden
Seite 2: Flug durch den Nebel
Das wirklich Ärgerliche aber ist die neue Tonspur. Bill Conti knallt die Bilder mit seiner flächendeckenden Musik zu und akzentuiert den ersten Auftritt des Helden mit einem etwas verschüchtert klingenden "Pling". Ordentlich auf die Pauke zu hauen verbot sich dann doch, denn die Heroen auf dem Hügel werden jetzt gleich schuldig am Tod der Kinder. Bei Hodges und John Scott hört man kurz die Harfe, danach die Krähen als Todesvögel, den Wind, der die letzten Blätter von den Bäumen fegt und den laufenden Motor des Traktors. Das Motorengeräusch wird am Ende des Prologs wieder aufgenommen.
Da hört man den überdrehten Motor des Fluchtautos, mit dem Docherty und sein Fahrer türmen, während Fallon wie erstarrt zurückbleibt und schließlich in der Landschaft verschwindet. Fahrzeuge und ihre Motoren ziehen sich - im Bild wie auf der Tonspur - durch den gesamten Film, und stets werden sie mit dem Tod assoziiert, weil A Prayer for the Dying von der letzten Reise eines Sterbenden erzählt. In der Kinoversion sind davon nur noch Fragmente übrig. Der dämliche deutsche Verleihtitel, Auf den Schwingen des Todes, ersetzt (inspiriert durch Contis Musik?) die Motoren durch Flügelschlag und Pseudo-Poesie.
Produzenten möchten gern auf der Leinwand sehen, wo das Geld geblieben ist, das sie dem Regisseur anvertraut haben. Die Explosion lässt da viel zu wünschen übrig. Kein Schulbus wird von der Druckwelle durch die Luft geschleudert, es gibt kein Autowrack und keine verkohlten Leichen, nur einen Feuerball und Rauchschwaden. Hodges hielt das für ausreichend, Samuel Goldwyn Jr. offenbar nicht. Also musste wenigstens mehr Pulverdampf her. Hodges füllt das Bild fünf Sekunden lang mit Rauch, als Überleitung vom Prolog in Nordirland zum in London angesiedelten Hauptteil. In der Produzentenfassung sind fast 50 Sekunden daraus geworden.
Ich vergesse dabei regelmäßig, dass es sich um Rauchschwaden handelt und nicht um Nebel, in dem man sich verirrt, während die zweite Hälfte des Vorspanns mit den Anfangstiteln abläuft, der in der Kinofassung auf knapp fünf Minuten gestreckt wird, was damals als modern galt. Nur gut, dass Martin Fallon Nordire ist und kein Grieche. Sonst würde man todsicher mit einer Panflöte gequält, während man durch den Nebel tappt. Oder könnte es sein, dass man in den 50 Sekunden durch die Wolken nach London fliegt? Ich weiß es nicht.
Am Ende der Produzentenversion erfährt dieses Kunsthandwerk seine abstruse Apotheose. Nach einer neuerlichen Bombenexplosion steigen die Titel des Abspanns aus dem Dunkel hinter einem Rummelplatz auf wie einst Godzilla aus dem atomar verseuchten Meer. Auf meiner persönlichen Rangliste mit den schlimmsten Geschmacksverirrungen im Kinofilm rangiert das weit oben. Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn man die Leute, die für so etwas verantwortlich sind, für den Rest ihres Erwerbslebens zur Müllentsorgung abkommandieren könnte. Niemand, der Get Carter, Pulp oder Croupier gesehen hat, wird ernsthaft glauben, dass Hodges diesen Mist so haben wollte.
Fremder von außerhalb des Lagerfeuers
Der Romanvorlage ist zu entnehmen, dass "Fallon" im Irischen soviel heißt wie "stranger from outside the campfire". "Martin Fallon" war auch eines der Pseudonyme, unter denen der Vielschreiber Henry Patterson seine Bücher veröffentlichte. "Jack Higgins" war ein anderes. Patterson kam 1929 in Newcastle zur Welt. Bald nach seiner Geburt wurde seine (katholische) Mutter von seinem (protestantischen) Vater verlassen, worauf sie mit Henry zurück in ihre Heimatstadt Belfast zog. Als die Mutter wieder heiratete übersiedelte die Familie nach Leeds in Nordengland, wo Patterson die zweite Hälfte seiner Kindheit und Jugend verbrachte.
In Leeds spielt der größte Teil der Handlung von A Prayer for the Dying. Higgins’ Vorbild war Ted Lewis, der Autor von Get Carter. An ihm und an Graham Greene schulte er seinen Schreibstil, von beiden lieh er sich Plotelemente aus. Der 1973 erschienene Roman beginnt in London. Fallon braucht falsche Papiere, um Europa verlassen zu können. Higgins verfasste das Buch unter dem Eindruck des von ihm hautnah erlebten Nordirlandkonflikts und zweier Sensationsprozesse der 1960er, gegen die Richardson-Brüder und die Kray-Zwillinge, die sich in London einen Bandenkrieg geliefert hatten.
Letzteres fand seinen Niederschlag in der Gestalt des schwulen Gangsters Jack Meehan, hinter dessen bürgerlicher Fassade als Bestattungsunternehmer sich der Chef eines Drogen- und Prostitutionsimperiums im Norden von England verbirgt. Sein Bruder Billy ist ein sexbesessener Sadist. Jack verspricht Fallon eine Schiffspassage von Hull nach Australien, wenn er dafür seinen Konkurrenten ermordet, den Gangsterboss Jan Krasko. Fallon ist schließlich einverstanden und reist nach Norden wie der Profikiller Jack Carter bei Ted Lewis.
Er erschießt Krasko am Grab von dessen Mutter, wird aber vom katholischen Priester Michael da Costa dabei gesehen. Um den Priester an einer Aussage zu hindern legt Fallon die Beichte bei ihm ab. Higgins hat das von Hitchcocks I Confess übernommen und um einen Dreh erweitert. Das Beichtgeheimnis soll Fallon vor der Polizei schützen und den Priester vor den Gangstern, was jedoch misslingt, weil Meehan den Zeugen trotzdem beseitigt sehen will. Auch da Costas blinde Nichte Anna, die ihm den Haushalt führt und in der Kirche Orgel spielt, gerät ins Visier der Gangster. Fallon muss nun die da Costas vor den Gangstern schützen.
Natürlich ist es die Blinde, die zuerst erkennt, was für ein wertvoller und sensibler Mensch sich in dem Killer von der IRA verbirgt. Weil Jack Meehan ihn in einem seiner Bordelle unterbringt, bei der jungen Jenny Fox, steht Fallon außerdem zwischen der Jungfrau und der Hure, und im Hintergrund lauert Billy, der an Jenny seine sadistischen Gelüste auslebt und unbedingt Sex mit einer Blinden haben will. Es sage niemand, dass Higgins Angst vor melodramatischen Versatzstücken hatte. Das gefiel einer amerikanischen Produktionsfirma, die eine Option auf die Filmrechte erwarb, jedoch mit dem Versuch scheiterte, die Handlung in die USA zu verlegen.
Dabei wäre es vielleicht geblieben, wenn Higgins nicht mit The Eagle Has Landed (1975), einer Mischung aus The Day of the Jackal und Alberto Cavalcantis Invasionsthriller Went the Day Well?, zum internationalen Bestsellerautor aufgestiegen wäre. In der Verfilmung von John Sturges spielt Michael Caine den deutschen Offizier, der Winston Churchill entführen oder ermorden soll und von Donald Sutherland als IRA-Mann Liam Devlin unterstützt wird. Der phänomenale Erfolg von The Eagle Has Landed weckte neues Interesse an A Prayer for the Dying.
Der in Yorkshire ansässige Produzent Stan Walker plante, den Roman komplett in Leeds zu verfilmen und hoffte, Lee Marvin als Martin Fallon engagieren zu können. Das Drehbuch schreiben und inszenieren sollte der Hollywoodveteran Edward Dmytryk. Im Mai 1977 kam Dmytryk nach Leeds, um mögliche Drehorte zu besichtigen. Warum das Projekt dann abgebrochen wurde weiß man nicht genau. Die Idee, Lee Marvin zu engagieren, wirkt gar nicht so dumm, wenn man an dessen Rolle als Killer in John Boormans das chronologische Erzählen zertrümmerndem Film Point Blank denkt, den man als Todesphantasie der Hauptfigur verstehen kann.
Das lässt ahnen, dass Higgins’ Roman, obwohl von der Machart her nicht sehr experimentierfreudig, viel Stoff für einen auf der Grenze zwischen Leben und Tod wandelnden Film bietet. Das chronologisch voranschreitende Erzählen muss nicht immer der Maßstab sein, weil sich auch das menschliche Bewusstsein, zumal im Augenblick des Todes, nicht an den Regeln von Hollywood orientiert (wenngleich man das dort gern ändern würde). Mike Hodges sah es so ähnlich, als ihm das Projekt angeboten wurde, hatte aber das Pech, für Produzenten zu arbeiten, die dann doch lieber einen konventionellen Hollywoodthriller haben wollten, als sein sich an den Rändern des Mainstream bewegender Film fertig war.
Pay or Play
Im Sommer 1986, als das Projekt an Hodges herangetragen wurde, war die Handlung von Nordengland nach London verlegt worden. Peter Snell, der neue Produzent, hatte in Samuel Goldwyn Jr. einen finanzstarken amerikanischen Partner. Als Regisseur hatten die beiden Franc Roddam (Quadrophenia, The Bride) angeheuert und dann gefeuert, weil er das von Edmund Ward verfasste Drehbuch umgekrempelt und mit nicht abgesprochenen Gewaltszenen angereichert hatte. Die Produzenten hatten nun nicht viel mehr als einen Hauptdarsteller und ein Drehbuch, das erneut umgeschrieben werden musste.
Das war ein ernstes Problem, weil Goldwyn mit Mickey Rourke einen der damals üblichen Pay-or-Play-Deals abgeschlossen hatte. Unabhängig davon, ob gedreht wurde oder nicht, erhielt der Star eine Gage in Höhe von einer Million Dollar. Rourkes enger Terminplan ließ es nicht zu, den Film zu verschieben. In dieser Situation fiel Snell Mike Hodges ein, der ihm 1984 schon einmal aus der Patsche geholfen hatte, als er keinen Regisseur für ein schwer verfilmbares Buch von Tom Stoppard finden konnte (Squaring the Circle ist eine mitunter surreale TV-Satire über Lech Walesa, Bürokratie und Politik).
Trotz des professionellen Risikos, kurzfristig ein Projekt zu übernehmen, das innerhalb von zwölf Wochen fertiggestellt werden musste, akzeptierte Hodges das Angebot, weil Prayer einige Themenbereiche vereinte, für die er sich schon immer interessiert hatte. Er hatte für das Fernsehen eine Dokumentation über das Bestattungswesen produziert und mit Get Carter einen erfolgreichen Gangsterfilm inszeniert. Als vom Glauben abgefallener Katholik konnte er viel mit den religiösen Aspekten des Plots anfangen, und es reizte ihn, mit Alan Bates und Bob Hoskins zu arbeiten, die er zur Mitwirkung überredete, indem er sie gegen die Erwartung besetzte: Bates als Gangsterboss, Hoskins als Priester.
Rourke war zur Vorbereitung nach Belfast gereist, um mit einem Sprachcoach an Fallons nordirischem Akzent zu arbeiten. Überschwängliches Lob erhielt er dafür nicht. Besonders die amerikanischen Kritiker, die das offenbar gut beurteilen konnten, fanden den Akzent ganz fürchterlich. Mir kommt er gelegentlich ein wenig manieriert vor, mehr wie ein Zitat denn eine realitätsgetreue Nachahmung. Davon unabhängig habe ich den Eindruck, dass der Akzent dafür herhalten musste, Rourkes beunruhigend gute schauspielerische Leistung, mit der kaum jemand gerechnet hatte, einzuhegen, indem man sich über seine Sprache lustig machte.
Mike Garfath, der Kameramann, ist ein Gentleman und meint, dass man sich mit der Zeit an den Akzent gewöhnt. Garfath erinnert sich, dass Rourke seinen Aufenthalt in Belfast vorzeitig abbrach, weil ihm die Lage dort zu sehr an die Nieren ging. Rourkes Darstellung des Martin Fallon hat das nicht geschadet, ganz im Gegenteil. User, die den Sprachcoach zu banal finden, dürfen sich an dem Gerücht erfreuen, dass Rourke nach Belfast fuhr, um bei der IRA eine Art Praktikum zu absolvieren. Jedenfalls lernte er in Nordirland den Dramatiker Martin Lynch kennen. Auf Rourkes Wunsch hin wurde Lynch engagiert, um die Dialoge zu überarbeiten und dem Drehbuch mehr Authentizität zu geben.
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