Gebet für einen Sterbenden

Seite 6: Kneipenterror

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Im Dezember 1969 zerfiel die IRA in eine Official IRA und eine Provisional IRA. Martin Fallon, Docherty und Siobhan Donovan gehören zu den Provos, die in den folgenden Jahrzehnten das öffentliche Bild der IRA prägten. Vielen Menschen brachte ihr neu belebter Kampf den Tod. In Prayer gibt es eine Szene, die unspektakulärer nicht sein könnte und doch voller Schrecken steckt. Docherty sitzt mit Siobhan in einem Pub, trinkt Bier, wird sentimental und blickt auf die schöne Zeit zurück, die er mit seinem Freund Fallon hatte, bis dieser nicht mehr mitmachen wollte.

A Prayer for the Dying

"Mein Gott", sagt er. "1974. Zwölf Jahre, Siobhan. Zwölf gute Jahre." Zwölf Jahre, das ist die Zeit von 1974 bis 1986, als der Film gedreht wurde. 1974 war das Jahr, in dem ein IRA-Kommando in zwei von britischen Soldaten besuchten Pubs in Guildford (südwestlich von London) Sprengsätze zündete. Dabei starben zwei Soldatinnen, zwei Soldaten und ein Bauarbeiter. 65 Menschen wurden verletzt. Die Anschläge in Guildford waren der Auftakt zu einer einjährigen Kampagne, bei der die Provisional IRA Pubs im Großraum London und in den Midlands als Ziele wählte. In zwei Pubs in Birmingham rissen Bomben 21 Menschen in den Tod, mehr als 150 wurden verletzt.

Wer denkt, dass man dem Terror durch immer neue Einschränkungen der Bürgerrechte und erweiterte Polizeibefugnisse erfolgreich begegnen kann sollte sich das Jahr 1974 genauer anschauen. Die Bombenkampagne der IRA beschleunigte die Verabschiedung von Antiterrorgesetzen, die sich zur Aushebelung des Rechtsstaats verwenden ließen. Was vorher höchst umstritten gewesen war kam nun ohne nennenswerten Widerstand durch das Parlament. Die IRA wurde dadurch nicht etwa eingeschüchtert oder zur Umkehr bewegt. Die Provos fühlten sich in der Überzeugung bestärkt, auf dem richtigen Weg zu sein.

Die Reaktion der britischen Regierung schien zu bestätigen, dass Anschläge in England viel wirkungsvoller waren als solche in Nordirland. Die IRA bombte deshalb weiter, während das, was mehr Sicherheit bringen sollte, neue Opfer produzierte und eine zusätzliche Verhärtung der Fronten. Die Antiterrorgesetze ermöglichten es den unter enormem Druck stehenden Behörden, "Schuldige" für die Anschläge in Guildford und Birmingham zu präsentieren. Auf Grundlage fragwürdiger Indizien und von der Polizei erpresster Geständnisse wurden 1975/76 zehn Angeklagte zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.

Die Anschläge von Guildford und Birmingham stießen auf so große Empörung in der britischen Öffentlichkeit, dass die IRA erst 1985 zugab, dafür verantwortlich zu sein (ein Jahr, bevor Hodges die Pubszene drehte), was die Erinnerung an die damaligen Bluttaten wieder sehr lebendig machte. Zugleich half ihr das Fehlverhalten von Polizeibehörden und Justiz beim Rekrutieren neuer Mitglieder. Es wiederholte sich, was man auch 1916 schon erlebt hatte. Ein Staat, der zu sehr auf Härte und ein durch fragwürdige Gesetze erzeugtes Gefühl von Sicherheit baut, stärkt den Terrorismus, den er bekämpfen will.

Die Anschläge auf die Pubs, konstatiert Richard English, hinterließen ein doppelbödiges Erbe: "In der Phantasie und im allgemeinen Gedächtnis wurde das durch die Bomben verursachte Leid durch die völlig verständliche Wut über die langjährige Einkerkerung von Menschen für Verbrechen, die sie nicht begangen hatten, teilweise in den Schatten gestellt. Ironischerweise (angesichts der schrecklichen Ereignisse bei der Bombenkampagne der IRA in den letzten Monaten des Jahres 1974) ist es wahrscheinlicher, dass Leute zuerst an die britische Misshandlung von Iren denken, wenn Birmingham oder Guildford erwähnt werden, und nicht an die Menschenleben, die durch mitleidlose Bombenanschläge zerstört wurden."

Tödliche Teatime

Die Guildford Four kamen 1989 frei, die Birmingham Six erst 1991. Der Justizskandal wurde dadurch noch größer, dass es so lange dauerte, bis Gerichte die Urteile endlich aufhoben, obwohl Alibis unterdrückt oder ignoriert worden waren und es schon seit vielen Jahren mehr als berechtigte Zweifel an der Schuld der Angeklagten gab. Einer, der sich in den 1980ern vehement für die Freilassung der zu Unrecht Verurteilten einsetzte, war der Labour-Abgeordnete Jeremy Corbyn. Damit schuf er sich nicht nur Freunde, obwohl er eigentlich auf der richtigen Seite war, nämlich der des Rechts.

Corbyn wurde bezichtigt, das Vereinigte Königreich zu verraten (also ein Land, das sich die von ihm eingeforderte Rechtsstaatlichkeit auf die Fahnen geschrieben hatte) und für die Belange einer Terrororganisation einzutreten (obwohl die Justizopfer, für die er sich verwendete, keine Terroristen waren). Wie schnell man in den Verdacht geraten konnte, ein Sympathisant der IRA zu sein, erfuhr damals auch Mike Hodges. 30 Jahre danach, im Wahlkampf 2017, wurden die alten Vorwürfe gegen Corbyn aus der Schublade geholt, obwohl sich kaum mehr jemand fand, der behauptet hätte, dass die Birmingham Six und die Guildford Four schuldig waren.

Beim Nordirlandkonflikt ist die Gemengelage so komplex und mitunter verwirrend, dass es oft die Emotionen sind, die die Reaktion des Publikums bestimmen und nicht die kritischen, auf Informationen basierenden Urteile. Wer da klare Frontlinien zwischen Gut und Böse ziehen will wird scheitern. Wie fast immer in diesem Konflikt war es auch in den 1970ern so, dass die IRA nicht einfach nur bombte, weil sie bomben wollte, sondern zumindest behaupten konnte, ein von der Gegenseite begangenes Unrecht zu rächen. So töteten die einen oder die anderen, und während noch über die Ursache gestritten wurde folgte schon der Gegenschlag.

Im Kreislauf der Gewalt zu erwähnen wäre etwa der 17. Mai 1974. An diesem Tag explodierten Sprengsätze in Dublin und Monaghan, also in der Republik Irland. 33 Menschen starben oder erlagen im Krankenhaus ihren Verletzungen. Die Verantwortung übernahm die Ulster Volunteer Force, die Terrororganisation nordirischer Protestanten. Die sehr professionelle Durchführung und Koordination der Anschläge war aber eher untypisch für die UVF. Darum glaubten viele (und glauben es bis heute), dass britische Spezialisten technische und logistische Unterstützung geleistet hätten.

In Verdacht geriet der Special Air Service (SAS), eine Sondereinheit der britischen Armee, die so geheim war, dass deren Existenz erst 1980 offiziell bestätigt wurde, nachdem ein SAS-Kommando, live im Fernsehen übertragen, die iranische Botschaft in London gestürmt hatte, um eine Geiselnahme zu beenden. In Nordirland bekämpfte der SAS die IRA - zumeist verdeckt und auch auf dem Staatsgebiet der Republik Irland. In einem Klima allgemeinen Misstrauens wurde die SAS-Theorie dadurch gestützt, dass am 22. April 1974 in Crossmaglen (Nordirland) der 18-jährige Mohammed Abdul Khalid getötet worden war.

Khalids Mörder hatten auf das Auto, in dem er saß, aus nächster Nähe 30 bis 40 Schüsse abgegeben. Die IRA behauptete, dass der junge Pakistani Mitglied des SAS gewesen sei. Tatsächlich hatte er in einer Armeekantine gearbeitet und dort den Tee serviert. Die IRA hatte weder das erste noch das letzte Mal Mist gebaut, und darum war ein Mensch gestorben. Mit etwas Phantasie allerdings ließ sich auch das in die eigene Version von der Geschichte einbauen.

Wer nicht wahrhaben wollte, dass wieder ein Unschuldiger ermordet worden war, konnte die Bomben von Dublin und Monaghan als Vergeltungsaktion für Khalids Tod interpretieren und daraus folgern, dass der Pakistani doch beim SAS gewesen war. Da der Nordirlandkonflikt längst eine Eigendynamik entwickelt hatte ist auch nicht ganz auszuschließen, dass SAS-Leute Khalids Tod tatsächlich rächen wollten. Der junge Mann hatte zwar nur den Tee serviert, aber die Kugeln hatten ihn und sein Auto durchsiebt, weil ihn die IRA für einen SAS-Mann hielt.

Die zwölf guten Jahre, an die sich Docherty in einer sentimentalen Anwandlung erinnert, waren zwölf Jahre, in denen er und Fallon zahlreiche Menschen getötet haben, auch völlig unschuldige Zivilisten und die Schulkinder, die in der für britische Soldaten gedachten Sprengfalle zerfetzt wurden. Docherty gelingt es, das zu verdrängen und weiterzumachen mit dem Töten. Mit so etwas muss man eben klarkommen, sagt er beim Wiedersehen mit seinem Freund im Victoria Park. Fallon kann das nicht mehr. Das ist - moralisch betrachtet - gut für ihn, bringt aber die Welt zum Einsturz, in der er bisher gelebt hat.

Als Terrorist, würde man heute sagen, steckt man mit seinen Gesinnungsgenossen in einer Blase, die bestimmt, wie man die Welt wahrnimmt, das eigene Handeln beurteilt, zwischen Freund und Feind unterscheidet, zwischen Gut und Böse, und wie man sein Gewissen so betäubt, dass man andere Leute umbringen kann. A Prayer for the Dying untersucht, was passiert, wenn die Blase platzt. Zur Versuchsanordnung gehören Martin Fallon, der nicht mehr morden will; Docherty, der es nicht schafft, seinen besten Freund zu erschießen, nur weil er jetzt der Feind sein soll; und die von Alison Doody als kühle Femme fatale gespielte Siobhan Donovan, die weiter in der Blase steckt.

Ein Vierteljahrhundert nach dem zur Abspaltung der Provisionals führenden Abfackeln der Bombay Street, am 31. August 1994, gab die IRA bekannt, dass sie sich dem in Gang gekommenen Friedensprozess nicht länger verweigern wolle und ihre Einheiten angewiesen habe, alle militärischen Operationen vorerst einzustellen. Der Belfast Telegraph machte an diesem Tag mit folgender Schlagzeile auf: "Nach 3.168 Toten und 25 Jahren des Terrors sagt die IRA … Es ist vorbei."

1986, als Hodges Higgins’ Roman verfilmte, war nichts vorbei. 1987 ging wenige Tage vor der England-Premiere von A Prayer for the Dying eine Bombe hoch und richtete ein Blutbad an. Mehr dazu im zweiten (und letzten) Teil: Vergebung für einen Terroristen.

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