Gebet für einen Sterbenden

A Prayer for the Dying

Das Vereinigte Königreich, die IRA und ein Filmskandal

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Nach dem Brexit wird durch Irland eine EU-Außengrenze verlaufen. Pessimisten warnen bereits vor dem Wiederaufflammen eines alten, sehr blutigen Konflikts. Grund genug, sich an einen Film zu erinnern, der heute so aktuell ist wie vor 30 Jahren, als er für einen Skandal sorgte. Von A Prayer for the Dying gibt es die Kinoversion und die Fassung des Regisseurs Mike Hodges, über die schon viel geredet wurde, obwohl sie kaum jemand gesehen hat. Wodurch sich die beiden Fassungen unterscheiden, und was sich aus dem Film und der nun 100-jährigen Geschichte der IRA für die Terrorbekämpfung lernen lässt, erfährt man hier.

Bomben in Manchester

Die Folgen des Bombenterrors der IRA sind bis heute sehr präsent. Als sich am 22. Mai 2017 Salman Abedi in der Manchester Arena in die Luft sprengte und 22 Menschen mit in den Tod riss weckte das bei älteren Semestern schlimme Erinnerungen an den 15. Juni 1996. Damals wurde in der Innenstadt von Manchester die größte Bombe (1.500 Kilogramm) zur Detonation gebracht, die in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg je explodierte. Bei Fernsehsendern und der Polizei gingen vorher mehrere Warnungen der IRA ein. Die Behörden evakuierten 80.000 Menschen. Wie durch ein Wunder gab es keine Todesopfer (aber mehr als 200 Verletzte).

Zwei Jahre davor kam Salman Abedi in Manchester zur Welt. Seine libyschen Eltern waren vor dem Gewaltregime von Oberst Muammar al-Gaddafi nach England geflohen. Das ist voll bitterer Ironie. Die Opfer der 1996 in der Corporation Street hochgegangenen Autobombe versuchen seit geraumer Zeit, Schadenersatz von Libyen einzuklagen, weil sie überzeugt sind, dass Gaddafi der IRA das Semtex lieferte. Der 2011 ermordete Diktator ist damit auch Teil einer unter den Mancunians geführten Diskussion darüber, ob man sagen kann (und darf), dass sich der Anschlag der IRA langfristig positiv auf die Entwicklung ihrer Stadt auswirkte.

Die durch die gewaltige Explosion angerichteten Schäden an Gebäuden und Infrastruktur waren so groß, dass eine Neugestaltung der Innenstadt unumgänglich wurde. Manchester nutzte die Gelegenheit, sein Image als graue, grimmige und von Mangelerscheinungen geprägte Industriestadt aufzupolieren. Die neue City wurde zum Aushängeschild einer aufstrebenden, toleranten und lebensbejahenden Metropolregion mit großer Anziehungskraft auf junge Leute und die Arena zum logischen Veranstaltungsort für Events wie Ariana Grandes Dangerous Woman Tour.

Um das Manchester vor der Frischzellenkur hätte die Sängerin wahrscheinlich einen großen Bogen gemacht. Es besteht also - zugespitzt gesagt - ein Zusammenhang zwischen der 1996 detonierten Autobombe der IRA und Abedis Selbstmordanschlag bei Grandes Konzert. Leider haben die Planer die Bäume vergessen. Es ist bedrückend, die vielen jungen Obdachlosen zu sehen, die heute mit zum Stadtbild gehören (in einem Land, in dem den Sozial- und Bildungssystemen die Kosten der Finanzkrise aufgebürdet wurden). Trotzdem bleibt der prinzipielle Befund:

Das Manchester von 2017 ist ungleich lebendiger und optimistischer ist als der in Tristesse und Depression versunkene Ort von damals. Manche Mancs sind daher der Meinung, dass der Anschlag von 1996 auch etwas Gutes hatte. Andere lehnen solche Überlegungen ab, weil sie finden, dass man durch diese Sicht der Dinge die Verbrechen der IRA relativiert. Auf nicht weniger schwieriges Gelände begaben sich diejenigen, die nach Abedis Attentat den IRA-Bombenbauern von 1996 zugute hielten, dass sie die Öffentlichkeit zuvor warnten, statt gezielt Kinder und Jugendliche zu töten. Auch das, so die Kritiker, sei eine unzulässige Relativierung.

In der Tat kann man sich schwerlich damit herausreden, nur Sachen beschädigen und keine Menschen töten zu wollen, wenn man in der Innenstadt einen Wagen mit einer Bombe von dieser Sprengkraft parkt. Die damals und in den Jahrzehnten davor gerissenen Wunden, auch in der Psyche der direkt Betroffenen und im kollektiven Unbewussten des ganzen Landes, sind noch offen oder bestenfalls vernarbt. Damit lassen sie sich politisch instrumentalisieren, wie sich im zurückliegenden Wahlkampf zeigte, als einige Strategen der Konservativen und ihre Unterstützer auf persönliche Diffamierung umschalteten, weil es eng zu werden drohte.

Abedis Opfer waren noch nicht begraben, als die Tories unterstützende Zeitungen bereits versuchten, Jeremy Corbyn in die Nähe der IRA zu rücken, weil er in den 1980ern, als Mike Hodges seinen Film drehte (und ebenfalls in den Verdacht geriet, mit der IRA zu sympathisieren), mit Mitgliedern der Sinn Féin gesprochen und es nicht verheimlicht hatte, obwohl man so etwas als englischer Politiker zu der Zeit nur im Verborgenen tat. Die Corbyn-Verhinderer brachten diese 30 Jahre alten Gespräche gegen ihn in Stellung, weil sie sich davon erhofften, dass es ihn Wählerstimmen kosten würde.

Harfe und E-Gitarre

Wie fängt ein guter Film an? Zum Beispiel so: Ein Vorspann mit Titeln in weißer Schrift, auf schwarzem Untergrund. Einfacher geht es nicht, denkt man sich. Die Schlichtheit aber ist trügerisch. Man hört eine Harfe und eine E-Gitarre, die uns in der Gegenwart verankert, ehe wir in die verklärende Nostalgie der Folklore und in den Irland-Kitsch abdriften können. Der Komponist ist John Scott, der Gründer des Johnny Scott Quintet. In den 1960ern und 1970ern war er eine der einflussreichsten Figuren der britischen Jazzszene. Er und Mike Hodges arbeiteten zwei Jahre später auch bei Black Rainbow zusammen, einem Thriller, der Hellseherei mit Ökologie und der Ausbeutung der Arbeiter im Bible Belt kombiniert.

A Prayer for the Dying

Scotts Filmmusiken und Arrangements merkt man immer an, was er für künstlerische Wurzeln hat und dass er das Milieu berücksichtigt, in dem die Handlung angesiedelt ist. Der Hauptschauplatz von A Prayer for the Dying ist ein Londoner Arbeiterviertel. Hodges drehte in East London, in Canning Town und im von Mark Knopfler besungenen Silvertown: zwei langsam verrottenden Industriebezirken am Nordufer der Themse (dazwischen lagen die Royal Victoria Docks, einst die ersten speziell für große Dampfschiffe gebauten Dockanlagen der Welt), in die noch kaum ein Stadtentwickler und Spekulant eingefallen war.

Typisch für Scotts Herangehensweise ist das Martin Fallon und Anna da Costa begleitende Liebesthema, das von einer Tanzkapelle gespielt wird. Man hört eine akustische Gitarre, ein Schlagzeug, einen E-Bass, eine (einzelne!) Violine, eine Harfe. In einem Tanzschuppen im East London der 1980er könnte man sich eine Band mit einer solchen Besetzung sehr gut vorstellen. Scott hat in Absprache mit dem Regisseur eine zeitgenössische Musik geschrieben, die Hodges nicht als Klangteppich über die Bilder legt, sondern mit anderen Geräuschen kombiniert.

Hodges sagt von sich selbst, er sei besessen vom Ton. Er führt das darauf zurück, dass er in einer Zeit aufwuchs, als man in England ins Kino gehen und dort die Filme von David Lean sehen konnte, von Michael Powell und Emeric Pressburger, von Carol Reed. Ihnen allen war gemeinsam, dass sie den Ton sehr bewusst einsetzten und die Musik nur da, wo es einen Sinn ergab, statt das Publikum mit ihr zu überfluten und ihm aufzuzwingen, was es denken und fühlen soll. Für Hodges ist die Saturierung der Tonspur mit Musik ein Mittel, um die Unsicherheit des Regisseurs zu überdecken, der seinen Bildern nicht vertraut.

Ein Motor läuft. Ein Hund bellt. Wenn vor schwarzem Hintergrund der Filmtitel erscheint, A Prayer for the Dying, hören wir zum ersten Mal das Krächzen von Krähen, als Rabenvögel traditionell mit dem Tod assoziiert. Geräusche, signalisiert der Vorspann, werden ernst genommen, die Musik wird nicht zur Erzeugung künstlicher, dem Publikum oktroyierter Emotionen missbraucht in diesem Film, der den Zuschauer zum Mitdenken animieren will, statt eine Geschichte zu erzählen, die sich auf Dialoge und ebenso kalkulierbare wie kalkulierte, auf Effekt getrimmte Musikkompositionen reduzieren lässt.

Tragische Folklore

Der Prolog zur Haupthandlung spielt sich in Nordirland ab, informiert uns eine Schrift. Wir sind also in einer der sechs Grafschaften, die nach der Teilung Irlands beim Vereinigten Königreich verblieben waren und in denen protestantische Unionisten, katholische Nationalisten von der IRA und Polizeikräfte und Spezialeinsatztruppen der britischen Armee einen Konflikt austrugen, der in eine scheinbar nicht enden wollende Spirale der Gewalt gemündet war, als A Prayer for the Dying entstand. Dann folgt die erste Einstellung des Films.

Wir sehen Mickey Rourke (als IRA-Mann Martin Fallon) nah und leicht von unten. Aus dem schwarzen Hintergrund des Vorspanns sind die dunklen Äste eines Baums geworden. Ein grünes Blatt sticht heraus, weil es eines von den letzten ist, die noch an den Ästen hängen. Es ist Herbst, die Natur stirbt, der Tod steckt auch in diesem Anfangsbild. Am unteren Bildrand ist ein Stück vom Zielfernrohr des Gewehrs zu erkennen, das Rourke in den Händen hält. Ob die Krähen als Aasfresser wohl in der Baumkrone sitzen, um dort abzuwarten, was ihnen der Jäger liefern wird, tote Tiere oder tote Menschen?

Dieser Beginn ist ebenso atmosphärisch wie unheimlich. Wir befinden uns in einer Zwischenwelt. Bei einer Geschichte, die vom Sterben, von der Ermordung unschuldiger (und einiger nicht so unschuldiger) Menschen berichtet, vom christlichen Glauben an die Vergebung der Sünden sowie ein Weiterleben nach dem Tod und von einem Antihelden, der wie ein lebender Toter durch die Handlung wandert, ein Zombie auf der Suche nach einer Suizidmöglichkeit, sollte das so sein.

Stopp. Wer den Film kennt und sich noch an den Anfang erinnern kann muss jetzt denken, dass ich phantasiere. Auf den derzeit erwerbbaren DVDs und Blu-rays mit A Prayer for the Dying sind zu Beginn weder Krähen noch Motorengeräusche zu hören. Als Komponist wird Bill Conti genannt und nicht John Scott. Contis symphonisch orientierte, großzügig mit Streichern bestückte Musik hat mit der von Scott nur gemein, dass auch da gelegentlich eine Harfe zu hören ist, weil das zum Irland-Klischee mit dazugehört. Scotts Harfe aber ist Teil einer ganz anderen Welt.

Bill Conti gilt als ein Meister der großen Gefühle. Wer mal in Philadelphia war, die 72 Stufen zum Museum of Art hinauflief und dabei glaubte, die Musik zu hören, zu der Sylvester Stallone das in Rocky macht, kann dem nur zustimmen. Contis Trompeten scheinen Rocky Balboa, dem ewigen Underdog, Flügel zu verleihen: "Getting strong now/gonna fly now". Ein grandioser Moment, aus der Filmgeschichte nicht mehr wegzudenken. Es ist also höchstes Lob, wenn viele Fans des Komponisten der Meinung sind, dass er selten besser war als bei A Prayer for the Dying.

Das Problem ist nur, dass diese Musik so gar nicht zu dem Film passt, den Mike Hodges den Produzenten übergab und den man als Kinozuschauer nie sehen durfte. Das Recht der Geldgeber auf ihr Investment war wieder einmal mehr wert als das Recht der Kreativen auf ihr Kunstwerk. Leider gewöhnt man sich an alles. Wenn man Scotts Musik mit der von Conti vergleicht wird einem erst richtig klar, wie gnadenlos und ohne Rücksicht auf Verluste letztere einen zudröhnt, auch wenn sie sehr melodisch und einschmeichelnd klingen mag. Hodges’ Sound-Design, eine der großen Stärken des Director’s Cut, schlägt sie glatt tot, weil für den Klang der vom Film gezeigten Welt kein Platz mehr bleibt.

Das war ganz im Sinne der Produzenten, denen offenbar daran gelegen war, der traurigen, trotz der melodramatischen Elemente ohne falsche Sentimentalität erzählten Geschichte durch süßliche "Romantik" auf der Tonspur den Stachel zu nehmen. Irgendwo habe ich gelesen, dass Contis Musik die Handlung mit "tragischer Folklore" begleite. Mit "tragischer Folklore" hat man es demnach zu tun, wenn Harfe, Pennywhistle und Hackbrett so kombiniert werden, dass ein Musiksyrup dabei herauskommt, der einem auch mal - besonders in der letzten Viertelstunde - die Gehörgänge verkleben kann.

Wohlgemerkt: Conti schuf genau das, was von ihm verlangt wurde, um den vom US-Produzenten als zu "europäisch" und deshalb verstörend empfundenen, von Hodges abgelieferten Film zu "retten". Besser kann man das kaum hinkriegen. Wer pompöse, alle Bremsen lösende Filmmusiken mag, wird mit dem auf CD veröffentlichten Soundtrack perfekt bedient. Hodges’ Film wird durch Contis Musik beschädigt, weil sie die Handlung nicht begleitet, sondern kapert und schlicht erdrückt. Ich stelle an mir selber fest, dass ich Pennywhistle und Hackbrett in der Erinnerung sogar an Stellen höre, wo es sie nicht gibt.

Das ist wohl ein Beleg für die manipulatorische, die Wahrnehmung dominierende Kraft der tragischen Folklore. Schade um die Musik von John Scott, die ebenfalls auf CD erschienen ist (Bonus zum Soundtrack von Winter People), aber nie auf einer DVD mit dem Film, für den sie geschrieben wurde. Auf den Director’s Cut wartet man vergeblich. Im Windschatten von Croupier, mit dem Hodges 1999 ein Überraschungserfolg gelang, plante die MGM, die ursprüngliche Version von Prayer wiederherzustellen. Seit die Firma in andere Hände überging ist davon nicht mehr die Rede. Von Hodges’ Fassung gibt es nur eine Videokopie im 4:3-Format, mit schlechter Bild- und Tonqualität, auf die ich mich hier beziehe.

Gibt es richtige und falsche Opfer?

Der von Rourke gespielte Martin Fallon steht auf einem Hügel, von dem aus er wie ein Feldherr eine anscheinend generalstabsmäßig geplante Kommandoaktion überwacht. Vor ihm schlängelt sich eine mit Hecken umrandete Landstraße durch die grünen Wiesen. Am Wegesrand steht ein Traktor mit einer Ladung Stroh. Der Traktor dient der Tarnung des IRA-Manns, der gerade dabei ist, eine Sprengfalle scharf zu machen. Das Ziel sind zwei britische Militärfahrzeuge. Hinter ihnen taucht ein Schulbus auf.

A Prayer for the Dying

Die Soldaten lassen den Bus überholen, kurz vor der Sprengfalle. Anstelle der beiden Land Rover fliegt der Schulbus in die Luft. Fallon hat die Sonnenbrille abgenommen und kann nur hilflos dabei zuschauen. Der Traktor, eben noch eine gute Tarnung, muss jetzt als Fluchtfahrzeug für den falschen Bauern herhalten, weil die Soldaten den Anschlag überlebt haben und zu seinen Jägern geworden sind. Der Mann erkennt die Aussichtslosigkeit des Unterfangens, versucht es zu Fuß und wird erschossen. Was als Szenario für das Attentat auf einen Militärkonvoi beginnt wird zur grimmigen Groteske, weil sich die Rahmenbedingungen geändert haben.

A Prayer for the Dying

A Prayer for the Dying ist kein Film, der uns einlädt, perfekt geplante und durchgeführte Aktionen zu bewundern, was meistens auf Kosten der Opfer geht, weil man als Zuschauer leicht in eine Lage gerät, in der man sich mit den professionell agierenden Tätern identifiziert. Ein nicht mit einberechnetes Detail genügt, um aus einem zumindest noch irgendwie begründbaren Anschlag ein sinnloses Gemetzel zu machen. Hodges zeigt uns eine vermurkste Operation der IRA. Es passt ins Bild, dass die Soldaten dem Mann mit dem Traktor in den Rücken schießen, wenn er wegrennt wie ein Hase.

A Prayer for the Dying

Dabei darf man sich auch gleich noch fragen, ob es wirklich so viel besser gelaufen wäre, wenn beim Sprengstoffanschlag englische Soldaten getötet worden wären statt der irischen Kinder? Ist ein Blutbad besser als das andere? Nein, sagt der Film, alles ein sinnentleertes Morden. Dementsprechend ist Fallon ein Mann, der das Ziel, die Wiedervereinigung Irlands, nicht aufgibt, aber die Methoden der IRA nach dem einleitenden Desaster nicht mehr mittragen will und kann.

A Prayer for the Dying

Mickey Rourke, auf dem Feldherrnhügel stehend und aus Untersicht: Das ist eine der traditionellen Möglichkeiten, den Helden einzuführen. Die Zeit hat den Effekt noch verstärkt, weil der damals unbekannte Liam Neeson, der als Docherty in die Einstellung tritt, durch die Hauptrolle in Schindlers Liste (1993) selbst weltberühmt wurde. Jetzt hat man zwei Stars in einem Bild. Im Vergleich zu Hodges’ Montage ist die der Kinofassung konventioneller und auf klare Orientierung ausgerichtet, statt durch Verstöße gegen die uns antrainierten Sehgewohnheiten ein kaum wahrnehmbares Gefühl der Unsicherheit zu erzeugen, und eine ironische Brechung, die in der Kinoversion geringer geworden ist.

Flug durch den Nebel

Das wirklich Ärgerliche aber ist die neue Tonspur. Bill Conti knallt die Bilder mit seiner flächendeckenden Musik zu und akzentuiert den ersten Auftritt des Helden mit einem etwas verschüchtert klingenden "Pling". Ordentlich auf die Pauke zu hauen verbot sich dann doch, denn die Heroen auf dem Hügel werden jetzt gleich schuldig am Tod der Kinder. Bei Hodges und John Scott hört man kurz die Harfe, danach die Krähen als Todesvögel, den Wind, der die letzten Blätter von den Bäumen fegt und den laufenden Motor des Traktors. Das Motorengeräusch wird am Ende des Prologs wieder aufgenommen.

Da hört man den überdrehten Motor des Fluchtautos, mit dem Docherty und sein Fahrer türmen, während Fallon wie erstarrt zurückbleibt und schließlich in der Landschaft verschwindet. Fahrzeuge und ihre Motoren ziehen sich - im Bild wie auf der Tonspur - durch den gesamten Film, und stets werden sie mit dem Tod assoziiert, weil A Prayer for the Dying von der letzten Reise eines Sterbenden erzählt. In der Kinoversion sind davon nur noch Fragmente übrig. Der dämliche deutsche Verleihtitel, Auf den Schwingen des Todes, ersetzt (inspiriert durch Contis Musik?) die Motoren durch Flügelschlag und Pseudo-Poesie.

A Prayer for the Dying

Produzenten möchten gern auf der Leinwand sehen, wo das Geld geblieben ist, das sie dem Regisseur anvertraut haben. Die Explosion lässt da viel zu wünschen übrig. Kein Schulbus wird von der Druckwelle durch die Luft geschleudert, es gibt kein Autowrack und keine verkohlten Leichen, nur einen Feuerball und Rauchschwaden. Hodges hielt das für ausreichend, Samuel Goldwyn Jr. offenbar nicht. Also musste wenigstens mehr Pulverdampf her. Hodges füllt das Bild fünf Sekunden lang mit Rauch, als Überleitung vom Prolog in Nordirland zum in London angesiedelten Hauptteil. In der Produzentenfassung sind fast 50 Sekunden daraus geworden.

Ich vergesse dabei regelmäßig, dass es sich um Rauchschwaden handelt und nicht um Nebel, in dem man sich verirrt, während die zweite Hälfte des Vorspanns mit den Anfangstiteln abläuft, der in der Kinofassung auf knapp fünf Minuten gestreckt wird, was damals als modern galt. Nur gut, dass Martin Fallon Nordire ist und kein Grieche. Sonst würde man todsicher mit einer Panflöte gequält, während man durch den Nebel tappt. Oder könnte es sein, dass man in den 50 Sekunden durch die Wolken nach London fliegt? Ich weiß es nicht.

A Prayer for the Dying

Am Ende der Produzentenversion erfährt dieses Kunsthandwerk seine abstruse Apotheose. Nach einer neuerlichen Bombenexplosion steigen die Titel des Abspanns aus dem Dunkel hinter einem Rummelplatz auf wie einst Godzilla aus dem atomar verseuchten Meer. Auf meiner persönlichen Rangliste mit den schlimmsten Geschmacksverirrungen im Kinofilm rangiert das weit oben. Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn man die Leute, die für so etwas verantwortlich sind, für den Rest ihres Erwerbslebens zur Müllentsorgung abkommandieren könnte. Niemand, der Get Carter, Pulp oder Croupier gesehen hat, wird ernsthaft glauben, dass Hodges diesen Mist so haben wollte.

Fremder von außerhalb des Lagerfeuers

Der Romanvorlage ist zu entnehmen, dass "Fallon" im Irischen soviel heißt wie "stranger from outside the campfire". "Martin Fallon" war auch eines der Pseudonyme, unter denen der Vielschreiber Henry Patterson seine Bücher veröffentlichte. "Jack Higgins" war ein anderes. Patterson kam 1929 in Newcastle zur Welt. Bald nach seiner Geburt wurde seine (katholische) Mutter von seinem (protestantischen) Vater verlassen, worauf sie mit Henry zurück in ihre Heimatstadt Belfast zog. Als die Mutter wieder heiratete übersiedelte die Familie nach Leeds in Nordengland, wo Patterson die zweite Hälfte seiner Kindheit und Jugend verbrachte.

In Leeds spielt der größte Teil der Handlung von A Prayer for the Dying. Higgins’ Vorbild war Ted Lewis, der Autor von Get Carter. An ihm und an Graham Greene schulte er seinen Schreibstil, von beiden lieh er sich Plotelemente aus. Der 1973 erschienene Roman beginnt in London. Fallon braucht falsche Papiere, um Europa verlassen zu können. Higgins verfasste das Buch unter dem Eindruck des von ihm hautnah erlebten Nordirlandkonflikts und zweier Sensationsprozesse der 1960er, gegen die Richardson-Brüder und die Kray-Zwillinge, die sich in London einen Bandenkrieg geliefert hatten.

Letzteres fand seinen Niederschlag in der Gestalt des schwulen Gangsters Jack Meehan, hinter dessen bürgerlicher Fassade als Bestattungsunternehmer sich der Chef eines Drogen- und Prostitutionsimperiums im Norden von England verbirgt. Sein Bruder Billy ist ein sexbesessener Sadist. Jack verspricht Fallon eine Schiffspassage von Hull nach Australien, wenn er dafür seinen Konkurrenten ermordet, den Gangsterboss Jan Krasko. Fallon ist schließlich einverstanden und reist nach Norden wie der Profikiller Jack Carter bei Ted Lewis.

Er erschießt Krasko am Grab von dessen Mutter, wird aber vom katholischen Priester Michael da Costa dabei gesehen. Um den Priester an einer Aussage zu hindern legt Fallon die Beichte bei ihm ab. Higgins hat das von Hitchcocks I Confess übernommen und um einen Dreh erweitert. Das Beichtgeheimnis soll Fallon vor der Polizei schützen und den Priester vor den Gangstern, was jedoch misslingt, weil Meehan den Zeugen trotzdem beseitigt sehen will. Auch da Costas blinde Nichte Anna, die ihm den Haushalt führt und in der Kirche Orgel spielt, gerät ins Visier der Gangster. Fallon muss nun die da Costas vor den Gangstern schützen.

Natürlich ist es die Blinde, die zuerst erkennt, was für ein wertvoller und sensibler Mensch sich in dem Killer von der IRA verbirgt. Weil Jack Meehan ihn in einem seiner Bordelle unterbringt, bei der jungen Jenny Fox, steht Fallon außerdem zwischen der Jungfrau und der Hure, und im Hintergrund lauert Billy, der an Jenny seine sadistischen Gelüste auslebt und unbedingt Sex mit einer Blinden haben will. Es sage niemand, dass Higgins Angst vor melodramatischen Versatzstücken hatte. Das gefiel einer amerikanischen Produktionsfirma, die eine Option auf die Filmrechte erwarb, jedoch mit dem Versuch scheiterte, die Handlung in die USA zu verlegen.

Dabei wäre es vielleicht geblieben, wenn Higgins nicht mit The Eagle Has Landed (1975), einer Mischung aus The Day of the Jackal und Alberto Cavalcantis Invasionsthriller Went the Day Well?, zum internationalen Bestsellerautor aufgestiegen wäre. In der Verfilmung von John Sturges spielt Michael Caine den deutschen Offizier, der Winston Churchill entführen oder ermorden soll und von Donald Sutherland als IRA-Mann Liam Devlin unterstützt wird. Der phänomenale Erfolg von The Eagle Has Landed weckte neues Interesse an A Prayer for the Dying.

Der in Yorkshire ansässige Produzent Stan Walker plante, den Roman komplett in Leeds zu verfilmen und hoffte, Lee Marvin als Martin Fallon engagieren zu können. Das Drehbuch schreiben und inszenieren sollte der Hollywoodveteran Edward Dmytryk. Im Mai 1977 kam Dmytryk nach Leeds, um mögliche Drehorte zu besichtigen. Warum das Projekt dann abgebrochen wurde weiß man nicht genau. Die Idee, Lee Marvin zu engagieren, wirkt gar nicht so dumm, wenn man an dessen Rolle als Killer in John Boormans das chronologische Erzählen zertrümmerndem Film Point Blank denkt, den man als Todesphantasie der Hauptfigur verstehen kann.

Das lässt ahnen, dass Higgins’ Roman, obwohl von der Machart her nicht sehr experimentierfreudig, viel Stoff für einen auf der Grenze zwischen Leben und Tod wandelnden Film bietet. Das chronologisch voranschreitende Erzählen muss nicht immer der Maßstab sein, weil sich auch das menschliche Bewusstsein, zumal im Augenblick des Todes, nicht an den Regeln von Hollywood orientiert (wenngleich man das dort gern ändern würde). Mike Hodges sah es so ähnlich, als ihm das Projekt angeboten wurde, hatte aber das Pech, für Produzenten zu arbeiten, die dann doch lieber einen konventionellen Hollywoodthriller haben wollten, als sein sich an den Rändern des Mainstream bewegender Film fertig war.

Pay or Play

Im Sommer 1986, als das Projekt an Hodges herangetragen wurde, war die Handlung von Nordengland nach London verlegt worden. Peter Snell, der neue Produzent, hatte in Samuel Goldwyn Jr. einen finanzstarken amerikanischen Partner. Als Regisseur hatten die beiden Franc Roddam (Quadrophenia, The Bride) angeheuert und dann gefeuert, weil er das von Edmund Ward verfasste Drehbuch umgekrempelt und mit nicht abgesprochenen Gewaltszenen angereichert hatte. Die Produzenten hatten nun nicht viel mehr als einen Hauptdarsteller und ein Drehbuch, das erneut umgeschrieben werden musste.

A Prayer for the Dying

Das war ein ernstes Problem, weil Goldwyn mit Mickey Rourke einen der damals üblichen Pay-or-Play-Deals abgeschlossen hatte. Unabhängig davon, ob gedreht wurde oder nicht, erhielt der Star eine Gage in Höhe von einer Million Dollar. Rourkes enger Terminplan ließ es nicht zu, den Film zu verschieben. In dieser Situation fiel Snell Mike Hodges ein, der ihm 1984 schon einmal aus der Patsche geholfen hatte, als er keinen Regisseur für ein schwer verfilmbares Buch von Tom Stoppard finden konnte (Squaring the Circle ist eine mitunter surreale TV-Satire über Lech Walesa, Bürokratie und Politik).

Trotz des professionellen Risikos, kurzfristig ein Projekt zu übernehmen, das innerhalb von zwölf Wochen fertiggestellt werden musste, akzeptierte Hodges das Angebot, weil Prayer einige Themenbereiche vereinte, für die er sich schon immer interessiert hatte. Er hatte für das Fernsehen eine Dokumentation über das Bestattungswesen produziert und mit Get Carter einen erfolgreichen Gangsterfilm inszeniert. Als vom Glauben abgefallener Katholik konnte er viel mit den religiösen Aspekten des Plots anfangen, und es reizte ihn, mit Alan Bates und Bob Hoskins zu arbeiten, die er zur Mitwirkung überredete, indem er sie gegen die Erwartung besetzte: Bates als Gangsterboss, Hoskins als Priester.

A Prayer for the Dying

Rourke war zur Vorbereitung nach Belfast gereist, um mit einem Sprachcoach an Fallons nordirischem Akzent zu arbeiten. Überschwängliches Lob erhielt er dafür nicht. Besonders die amerikanischen Kritiker, die das offenbar gut beurteilen konnten, fanden den Akzent ganz fürchterlich. Mir kommt er gelegentlich ein wenig manieriert vor, mehr wie ein Zitat denn eine realitätsgetreue Nachahmung. Davon unabhängig habe ich den Eindruck, dass der Akzent dafür herhalten musste, Rourkes beunruhigend gute schauspielerische Leistung, mit der kaum jemand gerechnet hatte, einzuhegen, indem man sich über seine Sprache lustig machte.

Mike Garfath, der Kameramann, ist ein Gentleman und meint, dass man sich mit der Zeit an den Akzent gewöhnt. Garfath erinnert sich, dass Rourke seinen Aufenthalt in Belfast vorzeitig abbrach, weil ihm die Lage dort zu sehr an die Nieren ging. Rourkes Darstellung des Martin Fallon hat das nicht geschadet, ganz im Gegenteil. User, die den Sprachcoach zu banal finden, dürfen sich an dem Gerücht erfreuen, dass Rourke nach Belfast fuhr, um bei der IRA eine Art Praktikum zu absolvieren. Jedenfalls lernte er in Nordirland den Dramatiker Martin Lynch kennen. Auf Rourkes Wunsch hin wurde Lynch engagiert, um die Dialoge zu überarbeiten und dem Drehbuch mehr Authentizität zu geben.

Transpiration und Bügelfalte

Mickey Rourke als Martin Fallon hat rote Haare und trägt eine Sonnenbrille. Amerikanische Kritiker hatten daran zu bemängeln, dass ein IRA-Mann nicht so aussehe. Aber wie sieht er sonst aus, ein Killer von der IRA? Ich bin nie einem begegnet, oder zumindest nicht bewusst, und kann dazu nichts sagen. Die nordirischen IRA-Kämpfer in F. L. Greens Roman Odd Man Out (1945) sind eher abgerissene und jedenfalls mörderische, vom Hass zerfressene Fanatiker, von denen es heißt, sie hätten sich nie getraut, ihre kleine Insel zu verlassen und ihr beschränkter Horizont reiche über diese Insel auch nicht hinaus. Das ist vernichtend.

Odd Man Out, A Prayer for the Dying

Mein Bild vom IRA-Mann allerdings ist geprägt vom sanften, der Gewalt überdrüssigen James Mason, der sich in Carol Reeds Verfilmung von Greens Roman als romantischer Held durch eine stilisierte, vom expressionistischen Kino der Weimarer Republik beeinflusste Noir-Welt schleppt (Robert Krasker, Reeds Kameramann, photographierte danach das nicht minder stilisierte Wien von The Third Man), im Delirium aus den Korintherbriefen zitiert und von Kathleen Ryan geliebt wird, die damals als eine der schönsten Frauen Irlands galt. Eine Partnerin wie diese hatte wohl auch Mickey Rourke im Sinn, nur moderner.

Hodges suchte eine junge Schauspielerin, die eine naive Unschuld ausstrahlte, gepaart mit einer gewissen Bodenständigkeit, und die Anna da Costa so glaubwürdig verkörpern konnte, dass das Publikum über das Melodramatische in Higgins’ Vorlage hinwegsehen würde. Rourke dagegen wünschte sich eine Laufstegschönheit mit wallendem Haar und hatte sich bei der Besetzung der Hauptrollen ein Mitspracherecht gesichert, wovon der Regisseur erst erfuhr, nachdem er unterschrieben hatte.

Man stelle sich also einen Film mit einem Priester vor, der eine blinde Nichte hat, die Orgel spielt, aussieht wie ein Supermodel und eine stürmische Liebesnacht mit einem IRA-Mann verbringt. Glücklicherweise setzte Hodges schließlich durch, dass Sammi Davis engagiert wurde, die soeben als blutjunge Prostituierte in Neil Jordans Mona Lisa überzeugt hatte (mit Bob Hoskins als Gangster) und auch die schwierige Rolle als blinde Nichte meisterte. Außerdem traf er Vorkehrungen, um alles Glamouröse, das nur zur Travestie hätte werden können, aus dem Film zu verbannen.

A Prayer for the Dying

Ein schönes Beispiel ist die Szene mit den da Costas im Wohnzimmer. Der Priester steht mit nackten Beinen und in kurzen Socken da (im Hintergrund der Papst und der gekreuzigte Heiland), weil er noch rasch seine Hose bügelt, bevor er zur Beichte muss. Anna empfiehlt, das Hemd zu wechseln, weil sie nicht sehen, wohl aber riechen kann. Das Melodramatische (und auch das Transzendentale) wird glaubwürdiger, wenn es in den Realismus des Alltags eingebettet ist. Im Beichtstuhl ist Transpiration wichtiger als die Bügelfalte.

Zwischen Kreuz und Beichtstuhl

An der Beichtszene mit Fallon und da Costa kann man sehen, wie sorgfältig Hodges seinen Film gearbeitet hat. Durch die Eingriffe der Produzenten hat sie stark gelitten. Neben dem Beichtstuhl, über einem alten Heizkörper, hängt ein Bild mit dem letzten Abendmahl. Da Costa hat zur Arbeit heißen Tee in einer Thermoskanne mitgebracht, weil es kalt ist in seiner Kirche. Die Zentralheizung funktioniert nicht mehr. Der Priester hat sich gerade eine Tasse eingeschenkt, als Fallon den Beichtstuhl betritt. Fallon ist gekommen, um den von da Costa beobachteten Mord zu beichten, damit der Priester nicht mehr gegen ihn aussagen kann.

A Prayer for the Dying

In der Kinoversion lässt sich Fallon versichern, dass das Beichtgeheimnis für die katholische Kirche heilig ist (auch als Information für die Nicht-Katholiken im Publikum). Er sagt, dass er sich das Ganze leichter vorgestellt hätte und beichtet dann sofort den Mord. Da Costa wird klar, mit wem er es zu tun hat. Wütend über den Missbrauch der Beichte springt er auf, um Fallon hinauszuwerfen. Im Beichtstuhl kauert ein Häuflein Elend. Das versteht man gar nicht, weil Fallon soeben noch der Mann war, der trotz bekundeter Schwierigkeiten plangemäß den Mord gebeichtet hat, um den Zeugen mundtot zu machen.

Bei Hodges ist die Szene länger und von einer quälenden Intimität. Fallon ist ein Mensch in einer existentiellen Krise, der Probleme mit sich herumträgt, die er sich dringend von der Seele reden müsste. Statt gleich den Mord zu beichten fängt er an, aus seiner Kindheit zu erzählen, als er Süßigkeiten stahl. Da Costa erlebt das öfter und hat nicht ewig Zeit. In solchen Dingen ganz der Profi legt er Fallon nahe, zum Punkt zu kommen und aktuellere Sünden zu beichten. Das bringt eine (freundliche) Geschäftsmäßigkeit ins Spiel, die Fallon daran erinnert, zu welchem Zweck er den Beichtstuhl betreten hat.

Ohne da Costas seelsorgerische Professionalität würde Fallon womöglich noch zu weinen anfangen und schluchzend berichten, wie es einem Terroristen geht, der im Namen höherer Werte (und irgendwie auch der katholischen Religion) Menschen tötet. Igitt. Die Produzenten wollten offenbar einen mannhafteren Helden und griffen zur Schere. In ihrer Version ist aus einer zentralen und sehr starken Szene eine geworden, die eher schwach ist. Sie nimmt die Charaktere nicht ernst und degradiert die Beichte zum reinen Plotelement. Der kauernde Mann ist ein nun deplatziert wirkendes Überbleibsel aus dem Director’s Cut.

A Prayer for the Dying

Während Fallon vor dem Beichtstuhl wartet, bis er an der Reihe ist, telefoniert Docherty, als Abgesandter der IRA, mit einem Kontaktmann, der ihm hilft, einen Judas zu finden, der bereit ist, für ein Kuvert voller Pfundnoten Fallons Versteck zu verraten. Der Judas im Bild vom letzten Abendmahl tat es für 30 Silberlinge. Im Film arbeitet der Verräter in Meehans Bestattungsinstitut. Ainsley hat versucht, mit falschen Abrechnungen Geld abzuzweigen. Dafür wird er bestraft - nach Art der Krays, die Leuten, über die sie sich geärgert hatten, auch mal eine Hand an den Fußboden nagelten.

A Prayer for the Dying

Hodges ist sehr gut darin, das Christentum und seine Ikonographie mit der Handlung des IRA-Dramas zu verweben und alte Geschichten in neue Zusammenhänge zu stellen. In der Sargwerkstatt lässt Meehan dem betrügerischen Ainsley zwei Stichel durch die Handflächen treiben wie bei einer Kreuzigung. Dann wird der Mann zum Arzt gebracht, damit er bald wieder Beerdigungen verkaufen und Umsatz machen kann. Meehan ist ein Kapitalist und seine Religion das Geld, das sich wie ein (blut)roter Faden durch die Handlung zieht. Obwohl er feine Anzüge trägt, sagt der Film, ist der Gangster im Grunde nur ein Metzger.

A Prayer for the Dying

Den melodramatischen Exzessen der Vorlage begegnet Hodges mit dem Mittel der assoziativen Verknüpfung, das uns fest in einer wenig erfreulichen Wirklichkeit verankert. Dochertys Kontaktmann, der die Verbindung zu Ainsley herstellt, dem Judas mit den Wundmalen, arbeitet im Schlachthof. An einer Scheibe hängt ein Blatt Papier mit einem Hinweis für die Käufer: Das rohe Fleisch muss bezahlt werden, bevor es das Gebäude verlässt. Das könnte das Motto der brutalen, profitorientierten Welt sein, die der Film uns zeigt.

A Prayer for the Dying

Hodges hätte sicher nichts dagegen, wenn der Zuschauer dabei an das Vereinigte Königreich des Thatcherismus denkt. Margaret Thatcher war seit 1979 an der Macht, hatte das Land unter marktradikalen Gesichtspunkten umgebaut und die soziale Ungleichheit vergrößert wie Ronald Reagan, ihr Bruder im Geiste, in den USA. In Prayer wird alles zur Ware. Für die von Meehan bestatteten Leichen gilt das ebenso wie für die Prostituierte Jenny Fox, an der Billy herumdrückt wie ein Händler auf dem Viehmarkt (im echten Leben übrigens waren der gewohnt intensive Christopher Fulford und Camille Coduri ein Paar). Zum Ärger mancher Produzenten schreckte Hodges vor unangenehmen Befunden nie zurück.

Sinnbild der Gesellschaft in seinem Film ist die Schwingtür des Bordells. Sie verbindet Huren, Terroristen, Gangster, gekaufte Informanten und von Meehan bestochene Politiker, die alle dort zu sehen sind. Auch Fallon kann sich den Gesetzen des Marktes nicht entziehen. Was immer man von der IRA halten mag: Seine Mörderkarriere beginnt er als Idealist, der für die irische Wiedervereinigung und gegen die Diskriminierung der Katholiken kämpft. Am Ende seiner Laufbahn ist er ein Auftragskiller, der um des persönlichen Vorteils willen tötet. Den Gangster Krasko erschießt er für Geld und falsche Papiere, die ihm die Flucht nach Amerika ermöglichen sollen.

Osteraufstand

Mit etwas Zynismus könnte man sagen, dass die Geschichte der Irish Republican Army vor hundert Jahren mit einem zu Ostern dargebrachten Blutopfer begann, wie es sich für die Terrororganisation aus einem Land gehört, das sowohl heidnische wie katholische Wurzeln hat. Die Ereignisse der Osterwoche 1916 hatten mit religiösem Fanatismus (und religiös bedingter Diskriminierung) zu tun, mit kulturellem Nationalismus und mit dem Ersten Weltkrieg, in dem die Streitkräfte des Vereinigten Königreichs gebunden waren. Die Führer der Irish Republican Brotherhood, der Irish Volunteers (einer nationalistischen Miliz) und der zur Arbeiterbewegung gehörenden Irish Citizen Army glaubten an eine günstige Gelegenheit, die Unabhängigkeit von Großbritannien zu erzwingen.

Am Ostermontag besetzten rund 1000 Rebellen das Hauptpostamt und andere Gebäude in Dublin und proklamierten die Republik Irland. Innerhalb einer Woche wurde der Aufstand niedergeschlagen. Es gab mehrere hundert Tote, überwiegend auf Seiten der Aufständischen und unter Zivilisten. Neil Jordans Biopic Michael Collins beginnt wie ein Kriegsfilm. Soldaten schießen mit Kanonen und Maschinengewehren auf das Postamt, das Hauptquartier der schlecht bewaffneten Rebellen, denen nur die Kapitulation bleibt. Einige Männer werden als Rädelsführer identifiziert und standrechtlich erschossen.

Michael Collins

So geht eine Kolonialarmee gegen aufständische Eingeborene vor. In der Wirklichkeit war es noch schlimmer als im Film, wo durch die dramatische Verdichtung der Eindruck entsteht, die Exekutionen hätten rasch hintereinander stattgefunden. Die Hinrichtungen der sieben Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung (darunter mehrere Poeten, ein Lehrer, ein sozialistischer Arbeiterführer und zwei Mitglieder der Gälischen Liga, die sich die Wiederbelebung der gälischen Sprache und Kultur zum Ziel gesetzt hatte) erstreckten sich jedoch über zehn Tage.

Der Gewerkschafter James Connolly konnte nicht mehr stehen, weil sich sein verwundetes Bein entzündet hatte. Also stellte man ihm einen Stuhl hin, auf dem er sitzen durfte, als das Erschießungskommando auf ihn anlegte. Über die sich quälend lange hinziehenden Exekutionen konnte man detailliert in der Zeitung lesen. Das sollte abschrecken und den Iren ein für allemal den Gedanken an die Unabhängigkeit austreiben. Das Gegenteil war der Fall. Nach Connolly sind heute ein Bahnhof und ein Krankenhaus benannt; vor der Liberty Hall in Dublin ist er als Statue zu besichtigen.

Michael Collins

Die Anführer der Rebellion hatten darauf gesetzt, dass sie auch im Falle einer Niederlage nur gewinnen konnten, weil ihnen ihr österlicher Opfergang viele Sympathien bei den mit solchen Dingen bestens vertrauten Katholiken einbringen werde. Das hätte sich beinahe als eine Fehlspekulation erwiesen. Der Rückhalt für die Aufständischen in der Bevölkerung war zunächst gering. Insbesondere bei den irischen Frauen, deren Männer in der britischen Armee gegen Deutschland kämpften, stieß die Rebellion auf wenig Gegenliebe. Erst das harte Durchgreifen, durch das die Briten als brutale Besatzungsmacht wahrgenommen wurden, änderte die Stimmungslage.

Militärischer Sieg und politisches Desaster

Die Niederlage der Osterrebellen wurde zum Wendepunkt in der Geschichte des Landes, weil die Briten die militärische Auseinandersetzung gewannen, politisch aber ein Desaster erlebten. Die Hinrichtungen bewirkten eine Radikalisierung. Die dafür Verantwortlichen leisteten so einen Beitrag zu der Blutspur, die sich durch die folgenden Jahrzehnte der irischen (und der britischen) Geschichte zieht. Als Laie in Sachen Terrorbekämpfung denkt man sich, dass die Lektion daraus ganz klar ist: Es kann nur eine politische Lösung für solche Konflikte geben, weil auch deren Ursachen politisch sind.

In Irland gab es ein starkes Lager von konstitutionellen Nationalisten, die durch ihre Mitwirkung in den Parlamenten und innerhalb eines durch die Verfassung vorgegebenen Rahmens Veränderungen herbeiführen wollten. Ihr Ziel war die Selbstverwaltung, mit Irland als einem Teil von Großbritannien. Die militanten Separatisten lehnten das ab und bestritten die Zugehörigkeit Irlands zum Vereinigten Königreich, dessen Regeln und Gesetze deshalb für die Iren nicht bindend sein könnten. Durch die Nachwirkungen des Osteraufstands, durch Hinrichtungen, Einkerkerungen und massenhafte Hausdurchsuchungen, verschoben sich die Gewichte.

Wer einer von großen Teilen der Bevölkerung als ungerecht empfundenen Situation mit Repression begegnet und Gewalt mit noch mehr Gewalt beantwortet schafft sich neue Feinde, die er dann wieder bekämpfen muss. Das Vorgehen der Briten sorgte für eine Eskalation des Konflikts, statt ihn beizulegen. Republikanische Gruppierungen, die sich bis dahin überwiegend auf friedliche Formen des Protests beschränkt hatten, überdachten nun ihr Verhältnis zur Gewalt. Republikaner zu sein bedeutete zunehmend, im Staat einen Feind zu sehen, den es mit der Waffe in der Hand zu bekämpfen galt.

Michael Collins (1919). Bild: Encyclopædia Britannica, Inc. Public Domain

Michael Collins, einer der Überlebenden des Osteraufstandes, sprach auch vielen bis dahin gemäßigten Landsleuten aus der Seele, wenn er sagte, die Ereignisse des Jahres 1916 seien der Beweis dafür, dass Irland eben kein Teil von Großbritannien sei, sondern das Opfer imperialistischer Machtpolitik. Die Strategie, durch parlamentarische Arbeit und Abstimmungen mehr Freiheiten zu erlangen und gerechter regiert zu werden, könne darum keinen Erfolg haben. Die konstitutionellen Nationalisten verloren an Einfluss und wurden durch militante Separatisten verdrängt.

Die Folgen sind bis heute spürbar. Die republikanische Sinn Féin, die man wohl als den politischen Arm der IRA bezeichnen darf (auch wenn ihr Vorsitzender Gerry Adams das nicht gern hört), nimmt zwar inzwischen an den britischen Parlamentswahlen teil, weigert sich aber nach wie vor, die ihr zustehenden Sitze einzunehmen, obwohl das ihre Gegenspieler von der protestantischen Democratic Unionist Party weiter aufwertet. Derzeit hätte die Sinn Féin sieben Stimmen, was angesichts der Mehrheitsverhältnisse in Westminster beim Brexit eine große Rolle spielen könnte. Die Partei beteiligt sich aber nicht an den Abstimmungen.

Bonnie & Clyde gehen zur IRA

1917 ging aus der Neuorganisation der nach dem Aufstand zerschlagenen Irish Volunteers die IRA hervor, die sich nun an die Spitze des bewaffneten Kampfes stellte. Da der Osteraufstand wieder einmal gezeigt hatte, dass man den Briten militärisch nicht beikommen konnte verlegte man sich auf Guerillaaktionen oder auf das, was man heute als asymmetrischen Krieg bezeichnet. Eine neue Qualität erhielt der Konflikt im Frühjahr 1920, als - zunächst noch spontan - die ersten Flying Columns der IRA entstanden. Ein halbes Jahr später wurden diese kleinen, sehr beweglichen und unabhängig voneinander operierenden Einheiten planmäßig aufgestellt und zur tragenden Säule im Guerillakrieg.

"Bis zum Herbst 1920", schreibt Richard English in Armed Struggle, einem Standardwerk zur Geschichte der IRA, "lebten die meisten Volunteers noch zuhause, und sie wurden bei gewaltfreien IRA-Aktivitäten eingesetzt; nur eine kleine Zahl von IRA-Leuten waren in dieser Phase darüber hinausgegangen." Das sollte sich jetzt ändern. Aus der Zeit der ersten Flying Columns stammt das romantisierte, in den Medien verbreitete Bild vom bewaffneten IRA-Mann im Trenchcoat, der im Untergrund das Leben eines Gesetzlosen führt.

Mickey Rourke kleidet sich in A Prayer for the Dying zeitgemäß, in Jeans und Parka beispielsweise. Doch auf dem Plakat steckte man Fallon in einen Trenchcoat als wäre er ein Retro-Fan, zu einem Kostümball unterwegs oder ein Exhibitionist auf der Suche nach einem Opfer. Mit Uralt-Klischees, dürften sich die Verantwortlichen für diese Kreation gedacht haben, verkauft man Filme immer noch am besten. Auch der Held der Romanvorlage greift zum Trench. Jack Higgins weiß, was sich gehört. Sein Protagonist steht in einer Tradition, in der die Grenzen zwischen Terroristen und Gangstern fließend waren.

Manch ein Vorgänger von Martin Fallon legte sich ein Bonnie-&-Clyde-Image zu, ehe Clyde Barrow und Bonnie Parker ihren ersten Raubüberfall begangen hatten. Der IRA-Kommandant Tomás Malone heiratete 1920 Peig Hogan. Bevor der Bräutigam zu seiner Flying Column zurückkehrte gönnte sich das Paar revolutionäre Flitterwochen, in denen die Braut eine im Ersten Weltkrieg für die britische Armee entwickelte Mills-Granate und eine Parabellum-Pistole bei sich trug. Für die IRA waren solche Selbstinszenierungen eine gute PR.

Die Realität war weniger romantisch. Bei denen, die ihre heimatliche Umgebung verlassen hatten, stieg die Gewaltbereitschaft. Auf die in der IRA engagierten Teilzeit-Revolutionäre hatte der inmitten von Nachbarn und Familie verbrachte Alltag eine mäßigende Wirkung. Wer sich einer Flying Column anschloss wurde Vollzeit-Aktivist, löste sich aus seinem vertrauten Umfeld und legte weite Strecken zurück, um in einer oft fremden Region Anschläge zu verüben. An die Stelle familiärer und nachbarschaftlicher Beziehungen trat die Gemeinschaft mit den gleichgesinnten Kameraden in einer aufeinander eingeschworenen Truppe.

Terrorist mit PTBS

Den Handlungsstrang mit Docherty, der Fallon nach London folgt und ihn entweder nach Nordirland zurückbringen oder ihn liquidieren soll, gibt es nur im Film, nicht im Roman. Das Wiedersehen der beiden Freunde wurde im Victoria Park gedreht, der im Gedächtnis der Londoner mehr als andere Parkanlagen mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden ist. Dort waren Geschütze der Luftabwehr stationiert und nahmen die deutschen Flugzeuge ins Visier, die den Park überflogen, nachdem sie die Docks und Lagerhäuser in East London bombardiert hatten.

A Prayer for the Dying

Im Victoria Park gibt es den zweiten auf eine schmerzliche Weise intimen Moment, in dem wir einen Einblick in Fallons Seelenzustand erhalten (in der Kinoversion ist es der erste, weil die Beichtszene entkernt wurde). Fallon erzählt Docherty, dass er die Folgen des Bombenterrors nicht mehr verdrängen, die Gewalt vor sich selbst nicht länger rechtfertigen kann. Er wacht nachts auf, glaubt, die Schreie sterbender Kinder zu hören und kauert sich in einer Ecke zusammen wie ein kleiner Junge (oder als Erwachsener im Beichtstuhl), wenn vor seinem geistigen Auge Flashbacks mit blutgetränkten Bildern auftauchen.

Sich selbst sieht er als Leiche. Martin Fallon ist ein Killer mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Mickey Rourke legt eine Sensibilität und Zerbrechlichkeit an den Tag, die ihm vorher kaum jemand zugetraut hätte. In Liam Neeson hat er einen ebenbürtigen Partner. Mike Hodges erinnert sich, dass Rourke vom Drehbuch abwich und improvisierte. Er erklärt sich das mit der Rivalität unter Schauspielern. Rourke habe in Neeson den Herausforderer erkannt, den Anwärter auf künftig zu vergebende Hauptrollen. Darum habe er versucht, ihn aus der Fassung zu bringen und zu verunsichern. Gelungen ist ihm das nicht.

Rourke improvisiert. Neeson pariert. Ihn zwingt das, hellwach zu sein, sein Gegenüber genau zu beobachten, weil er nicht weiß, was kommt. Das Duell der Schauspieler macht die ohnehin als Duell inszenierte, von Mike Garfath mit einer Handkamera gefilmte Szene noch intensiver. Intensität ist allerdings nicht gleichzusetzen mit jenem das Intensive oft nur vortäuschenden Exhibitionismus der Darsteller, für den Hollywood so gern die Oscars vergibt. In der Firma von Goldwyn Jr. schrillten offenbar die Alarmglocken, als man die ersten Muster mit Mickey Rourke als Martin Fallon sah.

A Prayer for the Dying

Hodges erhielt ein Telex, in dem es um Rourkes schauspielerische Leistung ging. Der amerikanische Produzent fand sie "teilnahmslos". In einem weiteren Telex schlug Goldwyn vor, Rourke zu ersetzen. Er sei mental und körperlich nicht in der Lage, die Rolle zu meistern. Das Ganze war wohl ein großes Missverständnis. In Goldwyns Firma scheint man sich Fallon wie einen dieser irgendwie flamboyanten, zu Wutausbrüchen neigenden Mafiakiller mit Rampensau-Instinkt vorgestellt zu haben, die man aus Hollywoodfilmen kennt. Rourke vermittelt aber den Eindruck, als würde er unter Schock stehen.

Fallon wirkt abgrundtief traurig und zugleich wie ein Mann, mit dem man sich besser nicht anlegen sollte. Er strahlt etwas Bedrohliches aus, ohne dafür herumbrüllen und die Augen rollen zu müssen, steht unter einer inneren Spannung, die er nur sehr dosiert nach außen trägt. Hodges fühlte sich durch die Kritik aus Hollywood in seiner Überzeugung bestätigt, dass Rourke von der schwierigen Rolle keineswegs überfordert war: "Da Rourkes Charakterisierung auf der Idee von einem Mann basierte, der einen Zusammenbruch erlitten, der seinen Glauben verloren hat, war die Meinung der Produzenten die triumphale Bestätigung einer außergewöhnlichen schauspielerischen Leistung."

Anders gesagt: Nicht Rourke ist mental und körperlich völlig ausgelaugt. Er spielt einen Mann, der das ist, und er macht es so überzeugend, dass der erschrockene Goldwyn Jr. offenbar den Darsteller mit der Rolle verwechselte. Mickey Rourke kommentierte den späteren Eklat mit der Bemerkung, dass die Produzenten nicht ihn, sondern Chuck Norris hätten engagieren sollen. Wenn man annimmt, dass Goldwyn einen eher eindimensionalen Actionhelden haben wollte und nicht einen Ex-Killer mit einem PTBS-Problem, der den Boden unter den Füßen verloren hat, wird verständlich, warum er Rourke am liebsten gefeuert hätte.

Wasser und Gebete für die Armen

Im Director’s Cut beginnt die Szene im Victoria Park mit Docherty, der - als Ire eingeführt durch ein paar sparsam eingesetzte Harfenklänge - unter Bäumen durch verwelktes Laub geht. Das Wehen des Windes und das Rascheln der Blätter sind gut zu hören. Hodges war das so wichtig, dass er eine Einstellung mit Dochertys Füßen im toten Laub einfügte. Hier wird vom Sterben und vom Tod erzählt. Man hört auch die Autos, die im Hintergrund vorbeifahren. Bei Hodges sind das Bild und der Ton auf eine sinnvolle, durch die Handlung legitimierte Weise verbunden. Es wird nicht geschummelt.

A Prayer for the Dying

In der Kinoversion leitet das unvermeidliche Hackbrett zu einer - immerhin halbwegs dezenten - Erregungsmusik über (Typ: "Vibrierende Spannung"), die den Film beschädigt, statt ihm zu nützen, weil man sie nicht braucht. Die Spannung steckt in den Bildern. Das Laub fällt auch in der Produzentenfassung noch von den Bäumen, doch das Rascheln der Blätter ist minimiert, genauso wie der Wind. Wer will schon Morbidität in einem Film, der vom Sterben handelt und von der Todessehnsucht eines Profikillers in der Sinnkrise, der das Morden nicht mehr ertragen kann? Also darf man jetzt das Zwitschern eines Vogels hören.

Der Director’s Cut ist ein Film der extremen, jedoch nie aufdringlichen Kontraste. Zwei Männer treffen sich in einem Park und reden über die vielen Toten, die sie auf dem Gewissen haben. Der eine hat eine Pistole mit Schalldämpfer einstecken. Man muss damit rechnen, dass er gleich versuchen wird, den anderen zu erschießen, obwohl sie beste Freunde sind. Hinter dem Gitter, das den Park von der Straße trennt, fahren pausenlos Autos vorbei. Der Alltag geht immer weiter. In der Produzentenfassung hat die Spannungsmusik den Verkehrslärm verdrängt. Das ist nicht derselbe Film.

Docherty möchte Fallon dazu bewegen, zurück nach Nordirland zu kommen und sich - als Abtrünniger, der zurück in die Gruppe will - einem Gericht der IRA zu stellen. Fallon versucht, Docherty zu erklären, warum er das nicht kann. Am Ende zieht der eine der beiden Freunde seine Waffe. Der andere kehrt ihm den Rücken zu, als könne ihm die Pistole nichts anhaben - oder als wäre es nicht mehr so wichtig, ob ihn die Kugel trifft oder nicht. "It’s alright", sagt Fallon mehrfach, aber natürlich ist gar nichts in Ordnung, weshalb diese Szene zwischen den beiden Freunden so abgrundtief traurig ist.

A Prayer for the Dying

Fallon geht mit schweren Schritten davon, gezeichnet von der Last der Vergangenheit (im Director’s Cut sind die Schritte schwerer, die seelische wie körperliche Erschöpfung größer). Docherty steckt frustriert und ratlos die Waffe wieder weg. Das ist so, als würde er sich selber in den Kopf schießen. In einiger Entfernung beobachtet Siobhan Donovan, was geschieht (Alison Doody wurde später als Nazi-Blondine in Indiana Jones and the Last Crusade bekannt). Im Director’s Cut hören wir das Krächzen von Krähen (Todesvögeln), wenn Docherty den Park verlässt. In der Kinoversion steuert Contis Spannungsmusik auf ein Crescendo zu, damit es wenigstens auf der Tonspur "Peng!" macht.

A Prayer for the Dying

Das extravagante Bauwerk im gotischen Stil, auf dessen Sockel Siobhan steht, ist ein Brunnen, der 1862 der Öffentlichkeit übergeben wurde. Als Hodges dort drehte hatte der Victoria Park etwas Morbides, weil kaum Geld da war, um den Verfall aufzuhalten. Der Brunnen war noch nicht renoviert und frei zugänglich; heute ist er eingezäunt, aus Angst vor Vandalismus. Gestiftet wurde er einst von der schwerreichen Philanthropin Angela Burdett-Coutts, deren Vater eines der ältesten Bankhäuser der Welt leitete (Stevensons Dr. Jekyll ist genauso Kunde bei Coutts & Co. wie Bram Stokers Dracula).

Den Bewohnern des East End, die sich im Victoria Park von ihrem harten Dasein erholten, sollte der Brunnen sauberes Trinkwasser spenden, und er sollte der Erbauung dienen. Darum ist er mit religiösen Sinnsprüchen verziert. Das Volk war undankbar, machte den Brunnen zum Versammlungsort bei Protestdemonstrationen gegen die menschenunwürdigen Lebensumstände im East End, die im als Brutstätte des Sozialismus geltenden Victoria Park ihren Ausgang nahmen. Im Londoner Osten war angesiedelt, was schlecht roch und giftig war und wodurch die Mittel- und die Oberschicht, die den Slumbewohnern zur Selbstoptimierung mittels des christlichen Glaubens rieten, nicht belästigt werden wollten.

Im Victoria Park wurde deshalb auch gegen die Heilsversprechen einer Religion agitiert, die es zuließ, dass die Kinder der Arbeiter in einer Welt leben mussten, in der es außerhalb des Parks kein Grün gab, nur qualvolle Enge, Elend und industrielle Verschmutzung. Prayer überträgt das in die Gegenwart. Man sieht ein London, das überwiegend dreckig ist. Religion und soziale Ungleichheit sind eng verbunden. Am saubersten ist es im Bordell, in dem die von Meehan bestochenen Politiker verkehren und in Meehans Bestattungsinstitut, in dem die Armen ihr Geld ausgeben, damit ihre Angehörigen wenigstens anständig beerdigt werden.

Tod im Hotel

Docherty also hat versagt. In der Lobby des Hotels, in dem Siobhan mit ihm abgestiegen ist, telefoniert sie mit ihren Chefs, um Instruktionen zu erhalten. Dann lässt sie die Rechnung fertig machen und geht in das Zimmer, in dem Docherty fernsieht und sich betrinkt. Sie schießt ihm in den Kopf, packt die Mordwaffe in ihre Reisetasche und verlässt das Zimmer, um auszuchecken. Vorher macht sie noch den Fernseher aus, in dem "For he’s a jolly good fellow" gesungen wird. In der Kinoversion läuft eine andere Sendung, ohne die guten Wünsche zum Geburtstag. Wahrscheinlich fanden die Produzenten das zu zynisch.

Zynisch ist aber die dargestellte Welt, nicht Hodges’ Film. Auch das Morden hat eine banale Seite. Siobhan könnte eine Geschäftsfrau sein, die noch einmal mit der Firmenzentrale Rücksprache hält, ehe sie einen Vertragsabschluss tätigt und dann nach Hause fährt. Im Director’s Cut endet die Szene mit einem Bild der absoluten Einsamkeit. Siobhan macht die Tür hinter sich zu. Zurück bleibt Docherty, der tot und mit einer Flasche Whisky in einer Ecke sitzt. In der Kinoversion wird auf eine halbnahe Einstellung mit Docherty geschnitten, ehe Siobhan die Zimmertür erreicht. Man sieht das Loch in seiner Stirn.

A Prayer for the Dying

Die Montage ist ziemlich ungelenk, mehr schlechtes Handwerk als geplanter Shock Cut. Mir kommt die Einstellung vor, als wäre sie für eine - im Schneideraum verworfene? - Szene mit dem Auffinden der Leiche gedacht gewesen. In der Fassung des Regisseurs gibt es sie nicht. Nichts lenkt da von Dochertys traurigem Ende ab. Die Produzenten waren vielleicht der Meinung, dass der Zuschauer sehen sollte, wo ihr Geld geblieben war. Jedenfalls wurde diese Maskenbildnereinstellung mit dem Einschussloch eingefügt, die an der Stelle mehr mit Schauwerten zu tun hat als mit Dramaturgie. Die Akzentverschiebung ist erheblich.

Hodges war die Nebenhandlung mit Docherty und Siobhan Donovan wichtig, weil sie jeden Versuch, die IRA zu romantisieren, wirkungsvoll unterläuft. Wer in dieser Organisation nicht bereit ist, den besten Freund zu erschießen, wenn die Führungsebene es verlangt, wird selbst wie ein Verräter behandelt, ermordet und zurückgelassen wie der Abfall, um den sich der Room Service kümmern kann. Romantisch ist da nichts. Man braucht kein ins Bild gerücktes Loch in der Stirn, um das zu verstehen. Wenn die Kugel in Dochertys Hinterkopf wieder austritt fliegen Federn aus seinem durchlöcherten Kopfkissen davon. Das reicht.

Kreislauf der Gewalt

Liam Neeson wurde gleich zweimal von seinen Kameraden getötet: Zuerst als Liam Docherty und dann, im Film von Neil Jordan, als Michael Collins (und Verlobter von Julia Roberts). Bei der IRA hatte das eine blutige Tradition. Der echte Michael Collins war Mitglied der Delegation, die 1921 den Anglo-Irischen Vertrag aushandelte. Für den militanten Flügel der IRA war er nun ein Verräter, was er nicht lange überlebte. Die Ratifizierung des Vertrages durch die Briten und die Iren führte 1922 zur Gründung des irischen Freistaats, aus dem die Republik Irland hervorging.

Michael Collins

Die sechs mehrheitlich protestantischen Grafschaften im Norden (das heutige Nordirland) machten von ihrem vertraglich zugesicherten Recht Gebrauch, aus dem Freistaat auszutreten. Diese Teilung des Landes, eingeschränkte Hoheitsrechte sowie die Tatsache, dass König George V. formal das Staatsoberhaupt der Iren blieb (Mitglieder des neuen Parlaments mussten sowohl dem Freistaat als auch dem britischen Monarchen den Treueeid leisten) waren einige der wesentlichen Gründe für den irischen Bürgerkrieg von 1922/23. Collins bildete eine provisorische Regierung und wurde im August 1922 von Vertragsgegnern ermordet.

Man kann die Geschichte der IRA chronologisch erzählen oder in Zyklen. Letzteres passt besser zur Wirklichkeit, in der man einem schier endlosen Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt begegnet. Katholiken töten Protestanten und Protestanten töten Katholiken; wenn es gegen die Verräter in den eigenen Reihen geht töten Katholiken andere Katholiken, mit denen sie kurz davor Protestanten getötet haben; und irgendwann kommt noch das organisierte Verbrechen mit hinzu, weil Waffen keine Religion kennen und zwischen ideologischer und profitorientierter Gewalt nicht immer trennscharf zu unterscheiden ist.

A Prayer for the Dying

A Prayer for the Dying vermittelt davon einen guten Eindruck. Fallon und Docherty wollen britische Soldaten töten, sprengen aber nordirische Schulkinder in die Luft. Der Waffenhändler Kristou beliefert die IRA genauso wie die Londoner Unterwelt. Über Kristou kommt der Gangsterboss Jack Meehan an Martin Fallon heran, der für ihn im Stile eines Auftragskillers einen Konkurrenten beseitigt, den Gangster Krasko, der täglich am Grab seiner Mutter betet, wo er erschossen wird und sein Blut auf eine Marienstatue spritzt, weil es irgendwann auch mal um Religion ging in diesem Konflikt.

Fallon will eigentlich nicht mehr morden und wird deshalb zur Gefahr für die IRA, die nur Freunde oder Feinde kennt und Docherty beauftragt, ihn zu töten. Weil Docherty das nicht übers Herz bringt wird er selbst wie ein Verräter behandelt und von Siobhan Donovan erschossen. Siobhan tötet so professionell wie Fallon auf dem Friedhof, jetzt aber wieder aus ideologischen Gründen und nicht um des persönlichen Vorteils willen. Und der als Katholik aufgewachsene Meehan lässt sich einen Sprengsatz bauen, wie ihn die IRA verwendet, um damit einen ihm lästigen katholischen Priester zu beseitigen und den Verdacht auf die IRA zu lenken, oder, genauer gesagt, auf Fallon, den die IRA ermorden will, weil er ein Verräter ist.

Terror und Kultur

Die Gründung des irischen Freistaats führte zu einer der vielen Spaltungen in der Geschichte der IRA, weil ein Lager dafür war und ein Lager dagegen. Die Pragmatiker arrangierten sich mit der neuen Lage und gaben ihren Organisationen andere Namen. Für die Hardliner war alles Landesverrat, was sich als Akzeptanz des Status Quo interpretieren ließ, und der Abtrennung der sechs nördlichen Grafschaften. Sehr umstritten war die Frage, inwieweit das Ringen um Unabhängigkeit und Wiedervereinigung als Teil eines größeren Klassenkampfes zu verstehen war, ob es ein sozialistisches oder ein kapitalistisches Irland geben sollte.

Die Folge dieses bis heute andauernden Streits waren weitere Zerwürfnisse, oft begleitet von Niederlagen der einen oder anderen Gruppe. Nehmen wir das Jahr 1956. Damals rekrutierte die IRA Freiwillige für einen Guerillakrieg. Der Plan: Flying Columns - also jene mobilen Einheiten, durch deren Etablierung die Gewalt ursprünglich aus dem Ruder gelaufen war - sollten von der (1949 gegründeten) Republik Irland aus im nordirischen Grenzgebiet militärische Einrichtungen der Briten und Polizeistationen angreifen und befreite Zonen schaffen.

Wieder starben Menschen, der Plan misslang, und im Februar 1962 erklärte die personell wie finanziell ausgeblutete IRA die Kampagne für beendet. Das ebnete den Erneuerern in der Organisation den Weg. Die neue Führung um Cathal Goulding beschloss, sich nach und nach vom bewaffneten Kampf zu verabschieden, nach links zu rücken und mit der Protest- und Bürgerrechtsbewegung, die damals auch in Ulster auf die Straße ging, eine Art Volksfront für ein besseres Irland zu bilden. Unterstützt wurde die neue Ausrichtung von den Wolf Tone Societies, die nach den Feiern zum 200. Geburtstag von Theodore Wolfe Tone mit Hilfe der IRA entstanden.

Der Anwalt Wolfe Tone, geboren 1763, war einer der Anführer der Rebellion von 1798 und gilt als Urvater des republikanischen Denkens in Irland. Die nach ihm benannten Diskussionsgruppen wollten ein vereintes Irland schaffen und das intellektuelle Fundament dafür legen, indem sie überall im Land zu Debatten über das kulturelle und politische Erbe der Iren einluden, um so das republikanische Bewusstsein zu fördern. Einer, der regelmäßig zu den Diskussionen ging und so in den Genuss von Bildung und Kultur kam war der junge Gerry Adams, früher bei den Provos (dazu gleich mehr) und heute Präsident der Sinn Féin.

A Prayer for the Dying

Martin Fallon in A Prayer for the Dying ist ein erstklassiger Organist und hat Musik studiert. Die Kritiker, die sich darüber erregten, wie dumm und unglaubwürdig das sei, wurden Opfer ihrer Vorurteile. Nicht jeder, der für die IRA Menschen in die Luft sprengte, war ein ungebildeter und verrohter Hinterwäldler, der nichts anderes gelernt hatte. Es gab da eine starke intellektuelle und auch künstlerische Strömung, repräsentiert durch die Wolfe Tone Society. Der Film geht ironisch mit den Klischees um, mit deren Hilfe wir die Welt einteilen. Ein gutes Beispiel ist die Szene, in der Fallon die Orgel in Pater da Costas Kirche stimmt.

Der wegen Mordes ermittelnde Superintendent Miller kommt dazu und ist Fallon gegenüber sofort misstrauisch. "Ich sehe gern einen Experten bei der Arbeit", sagt er und fordert Fallon auf, eine Probe seiner Kunst zu geben: "Let’s hear a tune." Fallon spielt ein Stück von Bach (Fuge in g-moll, BWV 578) und erweist sich zur allgemeinen Überraschung als ein Virtuose. Miller sieht enttäuscht aus, weil er damit einen Verdächtigen verloren hat. Jemand, der so Orgel spielt, kann kein Mörder sein, denkt der Polizist. Fallon ist aber beides: ein virtuoser Organist und ein virtuoser Killer.

A Prayer for the Dying

Über den Tasten der Orgel ist ein Spiegel angebracht. Hodges hat die Szene so inszeniert, dass sich jeder der Akteure mindestens einmal darin reflektiert. Wir alle, heißt das, haben einen Doppelgänger, sind gespaltene Persönlichkeiten oder spielen Rollen, hinter denen wir unser wahres Wesen gelegentlich verbergen. Jeder hat eine dunkle Seite, und gelegentlich haben die Mörder auch eine gute. Zum Rollenspiel passt, dass Hodges die Bach-Fuge in der St. Paul’s Church in der Bedford Street aufgenommen hat, der Kirche der Schauspieler in Covent Garden.

"The Troubles"

Als Cathal Goulding die IRA nach links rückte gab es eine eklatante Diskriminierung der in Nordirland lebenden Katholiken. Bei der Zuteilung von Sozialwohnungen wurden sie ebenso benachteiligt wie bei der Vergabe von Jobs im öffentlichen Sektor. Wahlkreise waren so zugeschnitten, dass eine katholische Stimme weniger zählte als eine protestantische. Nicht zuletzt aufgrund der Wohnungsnot lebten in katholischen Haushalten mehr Menschen als in protestantischen. Bei Regionalwahlen hatte nicht jede Person eine Stimme, sondern jeder Haushalt. Derry, die zweitgrößte Stadt Nordirlands, wählte mehrheitlich nationalistisch, wurde aber wegen des kreativen Umgangs mit dem Wahlrecht von Unionisten regiert.

Eine gegenseitige Paranoia gab es auch. Bereits durch den friedlichen Protest katholischer Bürgerrechtler fühlten sich protestantische Unionisten so bedroht, dass sie glaubten, sich in einer neuen paramilitärischen Gruppe organisieren zu müssen. Bald nach ihrer Gründung, im Mai 1966, begann die Ulster Volunteer Force (UVF) damit, Katholiken zu ermorden, um einem bewaffneten Aufstand der IRA zuvorzukommen, der weder geplant war noch je stattfand.

Hauptschauplatz der euphemistisch als "The Troubles" bezeichneten Auseinandersetzungen war zunächst Derry, wo die Diskriminierung der Katholiken am schlimmsten war. Im Rückblick stellt sich die Lage so dar, dass es damals noch möglich gewesen wäre, einen lokalen Konflikt durch kluge Zugeständnisse und ein vernünftiges Krisenmanagement einzudämmen. Stattdessen sprang der Funke auf andere Landesteile über, als im Sommer 1969 für die Traditionsvereine die Marschsaison begann. Am 12. Juli 1969 veranstalteten die Mitglieder des Oranier-Ordens ihre auch durch katholische Wohnviertel führenden Paraden.

Der 12. Juli ist der Tag, an dem die Oranier alljährlich den Sieg in der Schlacht am Boyne feiern. Nach der "Glorreichen Revolution" von 1688/89 löste der Protestant Wilhelm III. von Oranien den zum Katholizismus konvertierten Jakob II. auf dem englischen Thron ab. 1690 brachte Wilhelm seinem Vorgänger am irischen Fluss Boyne die entscheidende Niederlage bei. Damit war auch Schluss mit der von Jakob praktizierten Politik der religiösen Toleranz gegenüber den Katholiken. In Nordirland wurden Zehntausende von Presbyterianern angesiedelt, um die protestantische Herrschaft zu sichern. Für die Katholiken sind die Paraden der Protestanten eine Provokation.

1969 kam es in Derry und in Belfast zu schweren Zusammenstößen. Dem 12. Juli folgten Tage einer trügerischen Ruhe, dann eskalierte die Gewalt. In den Nächten des 2. und 3. August 1969 wurden Brandsätze geworfen, Autos angezündet, Polizeistationen und auch Menschen. In Straßen, in denen sie in der Minderheit waren, wurden katholische Familien von einem protestantischen Mob gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Ein katholischer Mob zog durch Straßen mit einer protestantischen Minderheit und machte umgekehrt dasselbe. Bei den Ausschreitungen und Zerstörungen der nächsten Tage, in Belfast wie in Derry, verloren Tausende ihre Wohnungen, überwiegend Katholiken. Tote gab es ebenfalls.

Bürgerkrieg

Der nordirische Bürgerkrieg, resümieren Brian Mawhinney und Ronald Wells in Conflict and Christianity in Northern Ireland (1971), habe am 14. August 1969 in Belfast begonnen: "In dieser Nacht lieferten sich Extremisten auf beiden Seiten und B-Specials, eine - überwiegend protestantische - Reserveeinheit der Polizei, eine Gewaltorgie mit Schießereien und Brandstiftungen. […] Das Spektakel in der Bombay Street, zwischen der protestantischen Shankill Road und der katholischen Falls Road, die von einem Ende bis zum anderen brannte, signalisierte die totale Unfähigkeit der Regierung, Recht und Gesetz Geltung zu verschaffen oder die Bürger zu schützen."

An diesem 14. August wurden britische Truppen entsandt, nachdem die nordirische Regierung London um Hilfe gebeten und eingeräumt hatte, dass die Polizei die Lage nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte. Damit war nun die Armee in einen Konflikt involviert, aus dem sie so bald nicht mehr herauskommen sollte. In der Shankill Road, einem der Brennpunkte, hatte als Kind Jack Higgins gewohnt, der einige Jahre später mit A Prayer for the Dying einen Roman schrieb, dessen Held im Leben keinen Sinn mehr sieht, nachdem er bei einem missglückten Anschlag auf die Armee unschuldige Kinder getötet hat.

Das ist Higgins’ Kommentar zu einer Situation, die nun weiter eskalierte. Die schrecklichsten Gewaltszenen und die meisten Opfer gab es vom 14. bis zum 16. August. Katholische Familien wurden weiter von Protestanten aus ihren Häusern geworfen. Zeugen berichteten, dass die Polizei untätig dabeistand. Das steigerte die Wut auf die königlichen Ordnungshüter. Am Morgen des 16. August fielen die B-Specials in Ardoyne ein, einem primär von Katholiken bewohnten Arbeiterviertel im Norden von Belfast, um fürchterlich zu wüten. Wie oft bei Polizeibrutalität wurden die Vorfälle nie aufgeklärt.

Für viele nordirische Katholiken waren die bürgerkriegsähnlichen Szenen im August 1969 der Beweis dafür, dass sie in einem Land leben mussten, das sie wie Feinde behandelte und dessen Polizeikräfte sie nicht nur nicht schützten, sondern selbst Aggressoren waren. Viele Protestanten fühlten sich in ihrer Ansicht bestätigt, dass die Angst vor einem Aufstand der Katholiken wohlbegründet war. Bei Katholiken wie Protestanten, meint English in Armed Struggle, "verstärkte die Gewalt genau die Art von Wahrnehmung, welche sie erst hervorgebracht hatte".

In der IRA stärkte der August 1969 republikanische, von den Erneuerern zur Disposition gestellte Dogmen. Sie lauteten: Der nordirische Staat war in seinen Strukturen durch und durch konfessionell (protestantisch) geprägt und musste das auch bleiben, um weiter existieren zu können. Damit war er nicht reformierbar, etwa durch die Teilhabe der Katholiken am politischen Prozess; er konnte nur gewaltsam entfernt werden. Die Katholiken in diesem Staat waren von Feinden umzingelt und mussten von der IRA geschützt werden.

Diese Schutzfunktion, sagten die Widersacher der Erneuerer um Goulding, habe die IRA vernachlässigt, weil sie sich zu sehr auf politische Illusionen konzentriert habe und zu wenig auf das Militärische. Die Beschäftigung mit der Politik sei auf Kosten der Disziplin und der Kampfkraft gegangen. Fortan sollten wieder die Waffen sprechen. Goulding und seine Unterstützer hatten durch die Ereignisse so sehr an Autorität eingebüßt, dass sie eine Abspaltung der Befürworter eines neuerlichen Guerillakrieges nicht mehr verhindern konnten.

Kneipenterror

Im Dezember 1969 zerfiel die IRA in eine Official IRA und eine Provisional IRA. Martin Fallon, Docherty und Siobhan Donovan gehören zu den Provos, die in den folgenden Jahrzehnten das öffentliche Bild der IRA prägten. Vielen Menschen brachte ihr neu belebter Kampf den Tod. In Prayer gibt es eine Szene, die unspektakulärer nicht sein könnte und doch voller Schrecken steckt. Docherty sitzt mit Siobhan in einem Pub, trinkt Bier, wird sentimental und blickt auf die schöne Zeit zurück, die er mit seinem Freund Fallon hatte, bis dieser nicht mehr mitmachen wollte.

A Prayer for the Dying

"Mein Gott", sagt er. "1974. Zwölf Jahre, Siobhan. Zwölf gute Jahre." Zwölf Jahre, das ist die Zeit von 1974 bis 1986, als der Film gedreht wurde. 1974 war das Jahr, in dem ein IRA-Kommando in zwei von britischen Soldaten besuchten Pubs in Guildford (südwestlich von London) Sprengsätze zündete. Dabei starben zwei Soldatinnen, zwei Soldaten und ein Bauarbeiter. 65 Menschen wurden verletzt. Die Anschläge in Guildford waren der Auftakt zu einer einjährigen Kampagne, bei der die Provisional IRA Pubs im Großraum London und in den Midlands als Ziele wählte. In zwei Pubs in Birmingham rissen Bomben 21 Menschen in den Tod, mehr als 150 wurden verletzt.

Wer denkt, dass man dem Terror durch immer neue Einschränkungen der Bürgerrechte und erweiterte Polizeibefugnisse erfolgreich begegnen kann sollte sich das Jahr 1974 genauer anschauen. Die Bombenkampagne der IRA beschleunigte die Verabschiedung von Antiterrorgesetzen, die sich zur Aushebelung des Rechtsstaats verwenden ließen. Was vorher höchst umstritten gewesen war kam nun ohne nennenswerten Widerstand durch das Parlament. Die IRA wurde dadurch nicht etwa eingeschüchtert oder zur Umkehr bewegt. Die Provos fühlten sich in der Überzeugung bestärkt, auf dem richtigen Weg zu sein.

Die Reaktion der britischen Regierung schien zu bestätigen, dass Anschläge in England viel wirkungsvoller waren als solche in Nordirland. Die IRA bombte deshalb weiter, während das, was mehr Sicherheit bringen sollte, neue Opfer produzierte und eine zusätzliche Verhärtung der Fronten. Die Antiterrorgesetze ermöglichten es den unter enormem Druck stehenden Behörden, "Schuldige" für die Anschläge in Guildford und Birmingham zu präsentieren. Auf Grundlage fragwürdiger Indizien und von der Polizei erpresster Geständnisse wurden 1975/76 zehn Angeklagte zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.

Die Anschläge von Guildford und Birmingham stießen auf so große Empörung in der britischen Öffentlichkeit, dass die IRA erst 1985 zugab, dafür verantwortlich zu sein (ein Jahr, bevor Hodges die Pubszene drehte), was die Erinnerung an die damaligen Bluttaten wieder sehr lebendig machte. Zugleich half ihr das Fehlverhalten von Polizeibehörden und Justiz beim Rekrutieren neuer Mitglieder. Es wiederholte sich, was man auch 1916 schon erlebt hatte. Ein Staat, der zu sehr auf Härte und ein durch fragwürdige Gesetze erzeugtes Gefühl von Sicherheit baut, stärkt den Terrorismus, den er bekämpfen will.

Die Anschläge auf die Pubs, konstatiert Richard English, hinterließen ein doppelbödiges Erbe: "In der Phantasie und im allgemeinen Gedächtnis wurde das durch die Bomben verursachte Leid durch die völlig verständliche Wut über die langjährige Einkerkerung von Menschen für Verbrechen, die sie nicht begangen hatten, teilweise in den Schatten gestellt. Ironischerweise (angesichts der schrecklichen Ereignisse bei der Bombenkampagne der IRA in den letzten Monaten des Jahres 1974) ist es wahrscheinlicher, dass Leute zuerst an die britische Misshandlung von Iren denken, wenn Birmingham oder Guildford erwähnt werden, und nicht an die Menschenleben, die durch mitleidlose Bombenanschläge zerstört wurden."

Tödliche Teatime

Die Guildford Four kamen 1989 frei, die Birmingham Six erst 1991. Der Justizskandal wurde dadurch noch größer, dass es so lange dauerte, bis Gerichte die Urteile endlich aufhoben, obwohl Alibis unterdrückt oder ignoriert worden waren und es schon seit vielen Jahren mehr als berechtigte Zweifel an der Schuld der Angeklagten gab. Einer, der sich in den 1980ern vehement für die Freilassung der zu Unrecht Verurteilten einsetzte, war der Labour-Abgeordnete Jeremy Corbyn. Damit schuf er sich nicht nur Freunde, obwohl er eigentlich auf der richtigen Seite war, nämlich der des Rechts.

Corbyn wurde bezichtigt, das Vereinigte Königreich zu verraten (also ein Land, das sich die von ihm eingeforderte Rechtsstaatlichkeit auf die Fahnen geschrieben hatte) und für die Belange einer Terrororganisation einzutreten (obwohl die Justizopfer, für die er sich verwendete, keine Terroristen waren). Wie schnell man in den Verdacht geraten konnte, ein Sympathisant der IRA zu sein, erfuhr damals auch Mike Hodges. 30 Jahre danach, im Wahlkampf 2017, wurden die alten Vorwürfe gegen Corbyn aus der Schublade geholt, obwohl sich kaum mehr jemand fand, der behauptet hätte, dass die Birmingham Six und die Guildford Four schuldig waren.

Beim Nordirlandkonflikt ist die Gemengelage so komplex und mitunter verwirrend, dass es oft die Emotionen sind, die die Reaktion des Publikums bestimmen und nicht die kritischen, auf Informationen basierenden Urteile. Wer da klare Frontlinien zwischen Gut und Böse ziehen will wird scheitern. Wie fast immer in diesem Konflikt war es auch in den 1970ern so, dass die IRA nicht einfach nur bombte, weil sie bomben wollte, sondern zumindest behaupten konnte, ein von der Gegenseite begangenes Unrecht zu rächen. So töteten die einen oder die anderen, und während noch über die Ursache gestritten wurde folgte schon der Gegenschlag.

Im Kreislauf der Gewalt zu erwähnen wäre etwa der 17. Mai 1974. An diesem Tag explodierten Sprengsätze in Dublin und Monaghan, also in der Republik Irland. 33 Menschen starben oder erlagen im Krankenhaus ihren Verletzungen. Die Verantwortung übernahm die Ulster Volunteer Force, die Terrororganisation nordirischer Protestanten. Die sehr professionelle Durchführung und Koordination der Anschläge war aber eher untypisch für die UVF. Darum glaubten viele (und glauben es bis heute), dass britische Spezialisten technische und logistische Unterstützung geleistet hätten.

In Verdacht geriet der Special Air Service (SAS), eine Sondereinheit der britischen Armee, die so geheim war, dass deren Existenz erst 1980 offiziell bestätigt wurde, nachdem ein SAS-Kommando, live im Fernsehen übertragen, die iranische Botschaft in London gestürmt hatte, um eine Geiselnahme zu beenden. In Nordirland bekämpfte der SAS die IRA - zumeist verdeckt und auch auf dem Staatsgebiet der Republik Irland. In einem Klima allgemeinen Misstrauens wurde die SAS-Theorie dadurch gestützt, dass am 22. April 1974 in Crossmaglen (Nordirland) der 18-jährige Mohammed Abdul Khalid getötet worden war.

Khalids Mörder hatten auf das Auto, in dem er saß, aus nächster Nähe 30 bis 40 Schüsse abgegeben. Die IRA behauptete, dass der junge Pakistani Mitglied des SAS gewesen sei. Tatsächlich hatte er in einer Armeekantine gearbeitet und dort den Tee serviert. Die IRA hatte weder das erste noch das letzte Mal Mist gebaut, und darum war ein Mensch gestorben. Mit etwas Phantasie allerdings ließ sich auch das in die eigene Version von der Geschichte einbauen.

Wer nicht wahrhaben wollte, dass wieder ein Unschuldiger ermordet worden war, konnte die Bomben von Dublin und Monaghan als Vergeltungsaktion für Khalids Tod interpretieren und daraus folgern, dass der Pakistani doch beim SAS gewesen war. Da der Nordirlandkonflikt längst eine Eigendynamik entwickelt hatte ist auch nicht ganz auszuschließen, dass SAS-Leute Khalids Tod tatsächlich rächen wollten. Der junge Mann hatte zwar nur den Tee serviert, aber die Kugeln hatten ihn und sein Auto durchsiebt, weil ihn die IRA für einen SAS-Mann hielt.

Die zwölf guten Jahre, an die sich Docherty in einer sentimentalen Anwandlung erinnert, waren zwölf Jahre, in denen er und Fallon zahlreiche Menschen getötet haben, auch völlig unschuldige Zivilisten und die Schulkinder, die in der für britische Soldaten gedachten Sprengfalle zerfetzt wurden. Docherty gelingt es, das zu verdrängen und weiterzumachen mit dem Töten. Mit so etwas muss man eben klarkommen, sagt er beim Wiedersehen mit seinem Freund im Victoria Park. Fallon kann das nicht mehr. Das ist - moralisch betrachtet - gut für ihn, bringt aber die Welt zum Einsturz, in der er bisher gelebt hat.

Als Terrorist, würde man heute sagen, steckt man mit seinen Gesinnungsgenossen in einer Blase, die bestimmt, wie man die Welt wahrnimmt, das eigene Handeln beurteilt, zwischen Freund und Feind unterscheidet, zwischen Gut und Böse, und wie man sein Gewissen so betäubt, dass man andere Leute umbringen kann. A Prayer for the Dying untersucht, was passiert, wenn die Blase platzt. Zur Versuchsanordnung gehören Martin Fallon, der nicht mehr morden will; Docherty, der es nicht schafft, seinen besten Freund zu erschießen, nur weil er jetzt der Feind sein soll; und die von Alison Doody als kühle Femme fatale gespielte Siobhan Donovan, die weiter in der Blase steckt.

Ein Vierteljahrhundert nach dem zur Abspaltung der Provisionals führenden Abfackeln der Bombay Street, am 31. August 1994, gab die IRA bekannt, dass sie sich dem in Gang gekommenen Friedensprozess nicht länger verweigern wolle und ihre Einheiten angewiesen habe, alle militärischen Operationen vorerst einzustellen. Der Belfast Telegraph machte an diesem Tag mit folgender Schlagzeile auf: "Nach 3.168 Toten und 25 Jahren des Terrors sagt die IRA … Es ist vorbei."

1986, als Hodges Higgins’ Roman verfilmte, war nichts vorbei. 1987 ging wenige Tage vor der England-Premiere von A Prayer for the Dying eine Bombe hoch und richtete ein Blutbad an. Mehr dazu im zweiten (und letzten) Teil: Vergebung für einen Terroristen.

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