Gebet für einen Sterbenden

Seite 5: Kreislauf der Gewalt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Liam Neeson wurde gleich zweimal von seinen Kameraden getötet: Zuerst als Liam Docherty und dann, im Film von Neil Jordan, als Michael Collins (und Verlobter von Julia Roberts). Bei der IRA hatte das eine blutige Tradition. Der echte Michael Collins war Mitglied der Delegation, die 1921 den Anglo-Irischen Vertrag aushandelte. Für den militanten Flügel der IRA war er nun ein Verräter, was er nicht lange überlebte. Die Ratifizierung des Vertrages durch die Briten und die Iren führte 1922 zur Gründung des irischen Freistaats, aus dem die Republik Irland hervorging.

Michael Collins

Die sechs mehrheitlich protestantischen Grafschaften im Norden (das heutige Nordirland) machten von ihrem vertraglich zugesicherten Recht Gebrauch, aus dem Freistaat auszutreten. Diese Teilung des Landes, eingeschränkte Hoheitsrechte sowie die Tatsache, dass König George V. formal das Staatsoberhaupt der Iren blieb (Mitglieder des neuen Parlaments mussten sowohl dem Freistaat als auch dem britischen Monarchen den Treueeid leisten) waren einige der wesentlichen Gründe für den irischen Bürgerkrieg von 1922/23. Collins bildete eine provisorische Regierung und wurde im August 1922 von Vertragsgegnern ermordet.

Man kann die Geschichte der IRA chronologisch erzählen oder in Zyklen. Letzteres passt besser zur Wirklichkeit, in der man einem schier endlosen Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt begegnet. Katholiken töten Protestanten und Protestanten töten Katholiken; wenn es gegen die Verräter in den eigenen Reihen geht töten Katholiken andere Katholiken, mit denen sie kurz davor Protestanten getötet haben; und irgendwann kommt noch das organisierte Verbrechen mit hinzu, weil Waffen keine Religion kennen und zwischen ideologischer und profitorientierter Gewalt nicht immer trennscharf zu unterscheiden ist.

A Prayer for the Dying

A Prayer for the Dying vermittelt davon einen guten Eindruck. Fallon und Docherty wollen britische Soldaten töten, sprengen aber nordirische Schulkinder in die Luft. Der Waffenhändler Kristou beliefert die IRA genauso wie die Londoner Unterwelt. Über Kristou kommt der Gangsterboss Jack Meehan an Martin Fallon heran, der für ihn im Stile eines Auftragskillers einen Konkurrenten beseitigt, den Gangster Krasko, der täglich am Grab seiner Mutter betet, wo er erschossen wird und sein Blut auf eine Marienstatue spritzt, weil es irgendwann auch mal um Religion ging in diesem Konflikt.

Fallon will eigentlich nicht mehr morden und wird deshalb zur Gefahr für die IRA, die nur Freunde oder Feinde kennt und Docherty beauftragt, ihn zu töten. Weil Docherty das nicht übers Herz bringt wird er selbst wie ein Verräter behandelt und von Siobhan Donovan erschossen. Siobhan tötet so professionell wie Fallon auf dem Friedhof, jetzt aber wieder aus ideologischen Gründen und nicht um des persönlichen Vorteils willen. Und der als Katholik aufgewachsene Meehan lässt sich einen Sprengsatz bauen, wie ihn die IRA verwendet, um damit einen ihm lästigen katholischen Priester zu beseitigen und den Verdacht auf die IRA zu lenken, oder, genauer gesagt, auf Fallon, den die IRA ermorden will, weil er ein Verräter ist.

Terror und Kultur

Die Gründung des irischen Freistaats führte zu einer der vielen Spaltungen in der Geschichte der IRA, weil ein Lager dafür war und ein Lager dagegen. Die Pragmatiker arrangierten sich mit der neuen Lage und gaben ihren Organisationen andere Namen. Für die Hardliner war alles Landesverrat, was sich als Akzeptanz des Status Quo interpretieren ließ, und der Abtrennung der sechs nördlichen Grafschaften. Sehr umstritten war die Frage, inwieweit das Ringen um Unabhängigkeit und Wiedervereinigung als Teil eines größeren Klassenkampfes zu verstehen war, ob es ein sozialistisches oder ein kapitalistisches Irland geben sollte.

Die Folge dieses bis heute andauernden Streits waren weitere Zerwürfnisse, oft begleitet von Niederlagen der einen oder anderen Gruppe. Nehmen wir das Jahr 1956. Damals rekrutierte die IRA Freiwillige für einen Guerillakrieg. Der Plan: Flying Columns - also jene mobilen Einheiten, durch deren Etablierung die Gewalt ursprünglich aus dem Ruder gelaufen war - sollten von der (1949 gegründeten) Republik Irland aus im nordirischen Grenzgebiet militärische Einrichtungen der Briten und Polizeistationen angreifen und befreite Zonen schaffen.

Wieder starben Menschen, der Plan misslang, und im Februar 1962 erklärte die personell wie finanziell ausgeblutete IRA die Kampagne für beendet. Das ebnete den Erneuerern in der Organisation den Weg. Die neue Führung um Cathal Goulding beschloss, sich nach und nach vom bewaffneten Kampf zu verabschieden, nach links zu rücken und mit der Protest- und Bürgerrechtsbewegung, die damals auch in Ulster auf die Straße ging, eine Art Volksfront für ein besseres Irland zu bilden. Unterstützt wurde die neue Ausrichtung von den Wolf Tone Societies, die nach den Feiern zum 200. Geburtstag von Theodore Wolfe Tone mit Hilfe der IRA entstanden.

Der Anwalt Wolfe Tone, geboren 1763, war einer der Anführer der Rebellion von 1798 und gilt als Urvater des republikanischen Denkens in Irland. Die nach ihm benannten Diskussionsgruppen wollten ein vereintes Irland schaffen und das intellektuelle Fundament dafür legen, indem sie überall im Land zu Debatten über das kulturelle und politische Erbe der Iren einluden, um so das republikanische Bewusstsein zu fördern. Einer, der regelmäßig zu den Diskussionen ging und so in den Genuss von Bildung und Kultur kam war der junge Gerry Adams, früher bei den Provos (dazu gleich mehr) und heute Präsident der Sinn Féin.

A Prayer for the Dying

Martin Fallon in A Prayer for the Dying ist ein erstklassiger Organist und hat Musik studiert. Die Kritiker, die sich darüber erregten, wie dumm und unglaubwürdig das sei, wurden Opfer ihrer Vorurteile. Nicht jeder, der für die IRA Menschen in die Luft sprengte, war ein ungebildeter und verrohter Hinterwäldler, der nichts anderes gelernt hatte. Es gab da eine starke intellektuelle und auch künstlerische Strömung, repräsentiert durch die Wolfe Tone Society. Der Film geht ironisch mit den Klischees um, mit deren Hilfe wir die Welt einteilen. Ein gutes Beispiel ist die Szene, in der Fallon die Orgel in Pater da Costas Kirche stimmt.

Der wegen Mordes ermittelnde Superintendent Miller kommt dazu und ist Fallon gegenüber sofort misstrauisch. "Ich sehe gern einen Experten bei der Arbeit", sagt er und fordert Fallon auf, eine Probe seiner Kunst zu geben: "Let’s hear a tune." Fallon spielt ein Stück von Bach (Fuge in g-moll, BWV 578) und erweist sich zur allgemeinen Überraschung als ein Virtuose. Miller sieht enttäuscht aus, weil er damit einen Verdächtigen verloren hat. Jemand, der so Orgel spielt, kann kein Mörder sein, denkt der Polizist. Fallon ist aber beides: ein virtuoser Organist und ein virtuoser Killer.

A Prayer for the Dying

Über den Tasten der Orgel ist ein Spiegel angebracht. Hodges hat die Szene so inszeniert, dass sich jeder der Akteure mindestens einmal darin reflektiert. Wir alle, heißt das, haben einen Doppelgänger, sind gespaltene Persönlichkeiten oder spielen Rollen, hinter denen wir unser wahres Wesen gelegentlich verbergen. Jeder hat eine dunkle Seite, und gelegentlich haben die Mörder auch eine gute. Zum Rollenspiel passt, dass Hodges die Bach-Fuge in der St. Paul’s Church in der Bedford Street aufgenommen hat, der Kirche der Schauspieler in Covent Garden.

"The Troubles"

Als Cathal Goulding die IRA nach links rückte gab es eine eklatante Diskriminierung der in Nordirland lebenden Katholiken. Bei der Zuteilung von Sozialwohnungen wurden sie ebenso benachteiligt wie bei der Vergabe von Jobs im öffentlichen Sektor. Wahlkreise waren so zugeschnitten, dass eine katholische Stimme weniger zählte als eine protestantische. Nicht zuletzt aufgrund der Wohnungsnot lebten in katholischen Haushalten mehr Menschen als in protestantischen. Bei Regionalwahlen hatte nicht jede Person eine Stimme, sondern jeder Haushalt. Derry, die zweitgrößte Stadt Nordirlands, wählte mehrheitlich nationalistisch, wurde aber wegen des kreativen Umgangs mit dem Wahlrecht von Unionisten regiert.

Eine gegenseitige Paranoia gab es auch. Bereits durch den friedlichen Protest katholischer Bürgerrechtler fühlten sich protestantische Unionisten so bedroht, dass sie glaubten, sich in einer neuen paramilitärischen Gruppe organisieren zu müssen. Bald nach ihrer Gründung, im Mai 1966, begann die Ulster Volunteer Force (UVF) damit, Katholiken zu ermorden, um einem bewaffneten Aufstand der IRA zuvorzukommen, der weder geplant war noch je stattfand.

Hauptschauplatz der euphemistisch als "The Troubles" bezeichneten Auseinandersetzungen war zunächst Derry, wo die Diskriminierung der Katholiken am schlimmsten war. Im Rückblick stellt sich die Lage so dar, dass es damals noch möglich gewesen wäre, einen lokalen Konflikt durch kluge Zugeständnisse und ein vernünftiges Krisenmanagement einzudämmen. Stattdessen sprang der Funke auf andere Landesteile über, als im Sommer 1969 für die Traditionsvereine die Marschsaison begann. Am 12. Juli 1969 veranstalteten die Mitglieder des Oranier-Ordens ihre auch durch katholische Wohnviertel führenden Paraden.

Der 12. Juli ist der Tag, an dem die Oranier alljährlich den Sieg in der Schlacht am Boyne feiern. Nach der "Glorreichen Revolution" von 1688/89 löste der Protestant Wilhelm III. von Oranien den zum Katholizismus konvertierten Jakob II. auf dem englischen Thron ab. 1690 brachte Wilhelm seinem Vorgänger am irischen Fluss Boyne die entscheidende Niederlage bei. Damit war auch Schluss mit der von Jakob praktizierten Politik der religiösen Toleranz gegenüber den Katholiken. In Nordirland wurden Zehntausende von Presbyterianern angesiedelt, um die protestantische Herrschaft zu sichern. Für die Katholiken sind die Paraden der Protestanten eine Provokation.

1969 kam es in Derry und in Belfast zu schweren Zusammenstößen. Dem 12. Juli folgten Tage einer trügerischen Ruhe, dann eskalierte die Gewalt. In den Nächten des 2. und 3. August 1969 wurden Brandsätze geworfen, Autos angezündet, Polizeistationen und auch Menschen. In Straßen, in denen sie in der Minderheit waren, wurden katholische Familien von einem protestantischen Mob gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Ein katholischer Mob zog durch Straßen mit einer protestantischen Minderheit und machte umgekehrt dasselbe. Bei den Ausschreitungen und Zerstörungen der nächsten Tage, in Belfast wie in Derry, verloren Tausende ihre Wohnungen, überwiegend Katholiken. Tote gab es ebenfalls.

Bürgerkrieg

Der nordirische Bürgerkrieg, resümieren Brian Mawhinney und Ronald Wells in Conflict and Christianity in Northern Ireland (1971), habe am 14. August 1969 in Belfast begonnen: "In dieser Nacht lieferten sich Extremisten auf beiden Seiten und B-Specials, eine - überwiegend protestantische - Reserveeinheit der Polizei, eine Gewaltorgie mit Schießereien und Brandstiftungen. […] Das Spektakel in der Bombay Street, zwischen der protestantischen Shankill Road und der katholischen Falls Road, die von einem Ende bis zum anderen brannte, signalisierte die totale Unfähigkeit der Regierung, Recht und Gesetz Geltung zu verschaffen oder die Bürger zu schützen."

An diesem 14. August wurden britische Truppen entsandt, nachdem die nordirische Regierung London um Hilfe gebeten und eingeräumt hatte, dass die Polizei die Lage nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte. Damit war nun die Armee in einen Konflikt involviert, aus dem sie so bald nicht mehr herauskommen sollte. In der Shankill Road, einem der Brennpunkte, hatte als Kind Jack Higgins gewohnt, der einige Jahre später mit A Prayer for the Dying einen Roman schrieb, dessen Held im Leben keinen Sinn mehr sieht, nachdem er bei einem missglückten Anschlag auf die Armee unschuldige Kinder getötet hat.

Das ist Higgins’ Kommentar zu einer Situation, die nun weiter eskalierte. Die schrecklichsten Gewaltszenen und die meisten Opfer gab es vom 14. bis zum 16. August. Katholische Familien wurden weiter von Protestanten aus ihren Häusern geworfen. Zeugen berichteten, dass die Polizei untätig dabeistand. Das steigerte die Wut auf die königlichen Ordnungshüter. Am Morgen des 16. August fielen die B-Specials in Ardoyne ein, einem primär von Katholiken bewohnten Arbeiterviertel im Norden von Belfast, um fürchterlich zu wüten. Wie oft bei Polizeibrutalität wurden die Vorfälle nie aufgeklärt.

Für viele nordirische Katholiken waren die bürgerkriegsähnlichen Szenen im August 1969 der Beweis dafür, dass sie in einem Land leben mussten, das sie wie Feinde behandelte und dessen Polizeikräfte sie nicht nur nicht schützten, sondern selbst Aggressoren waren. Viele Protestanten fühlten sich in ihrer Ansicht bestätigt, dass die Angst vor einem Aufstand der Katholiken wohlbegründet war. Bei Katholiken wie Protestanten, meint English in Armed Struggle, "verstärkte die Gewalt genau die Art von Wahrnehmung, welche sie erst hervorgebracht hatte".

In der IRA stärkte der August 1969 republikanische, von den Erneuerern zur Disposition gestellte Dogmen. Sie lauteten: Der nordirische Staat war in seinen Strukturen durch und durch konfessionell (protestantisch) geprägt und musste das auch bleiben, um weiter existieren zu können. Damit war er nicht reformierbar, etwa durch die Teilhabe der Katholiken am politischen Prozess; er konnte nur gewaltsam entfernt werden. Die Katholiken in diesem Staat waren von Feinden umzingelt und mussten von der IRA geschützt werden.

Diese Schutzfunktion, sagten die Widersacher der Erneuerer um Goulding, habe die IRA vernachlässigt, weil sie sich zu sehr auf politische Illusionen konzentriert habe und zu wenig auf das Militärische. Die Beschäftigung mit der Politik sei auf Kosten der Disziplin und der Kampfkraft gegangen. Fortan sollten wieder die Waffen sprechen. Goulding und seine Unterstützer hatten durch die Ereignisse so sehr an Autorität eingebüßt, dass sie eine Abspaltung der Befürworter eines neuerlichen Guerillakrieges nicht mehr verhindern konnten.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.