Gebet für einen Sterbenden

Seite 4: Terrorist mit PTBS

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Den Handlungsstrang mit Docherty, der Fallon nach London folgt und ihn entweder nach Nordirland zurückbringen oder ihn liquidieren soll, gibt es nur im Film, nicht im Roman. Das Wiedersehen der beiden Freunde wurde im Victoria Park gedreht, der im Gedächtnis der Londoner mehr als andere Parkanlagen mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden ist. Dort waren Geschütze der Luftabwehr stationiert und nahmen die deutschen Flugzeuge ins Visier, die den Park überflogen, nachdem sie die Docks und Lagerhäuser in East London bombardiert hatten.

A Prayer for the Dying

Im Victoria Park gibt es den zweiten auf eine schmerzliche Weise intimen Moment, in dem wir einen Einblick in Fallons Seelenzustand erhalten (in der Kinoversion ist es der erste, weil die Beichtszene entkernt wurde). Fallon erzählt Docherty, dass er die Folgen des Bombenterrors nicht mehr verdrängen, die Gewalt vor sich selbst nicht länger rechtfertigen kann. Er wacht nachts auf, glaubt, die Schreie sterbender Kinder zu hören und kauert sich in einer Ecke zusammen wie ein kleiner Junge (oder als Erwachsener im Beichtstuhl), wenn vor seinem geistigen Auge Flashbacks mit blutgetränkten Bildern auftauchen.

Sich selbst sieht er als Leiche. Martin Fallon ist ein Killer mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Mickey Rourke legt eine Sensibilität und Zerbrechlichkeit an den Tag, die ihm vorher kaum jemand zugetraut hätte. In Liam Neeson hat er einen ebenbürtigen Partner. Mike Hodges erinnert sich, dass Rourke vom Drehbuch abwich und improvisierte. Er erklärt sich das mit der Rivalität unter Schauspielern. Rourke habe in Neeson den Herausforderer erkannt, den Anwärter auf künftig zu vergebende Hauptrollen. Darum habe er versucht, ihn aus der Fassung zu bringen und zu verunsichern. Gelungen ist ihm das nicht.

Rourke improvisiert. Neeson pariert. Ihn zwingt das, hellwach zu sein, sein Gegenüber genau zu beobachten, weil er nicht weiß, was kommt. Das Duell der Schauspieler macht die ohnehin als Duell inszenierte, von Mike Garfath mit einer Handkamera gefilmte Szene noch intensiver. Intensität ist allerdings nicht gleichzusetzen mit jenem das Intensive oft nur vortäuschenden Exhibitionismus der Darsteller, für den Hollywood so gern die Oscars vergibt. In der Firma von Goldwyn Jr. schrillten offenbar die Alarmglocken, als man die ersten Muster mit Mickey Rourke als Martin Fallon sah.

A Prayer for the Dying

Hodges erhielt ein Telex, in dem es um Rourkes schauspielerische Leistung ging. Der amerikanische Produzent fand sie "teilnahmslos". In einem weiteren Telex schlug Goldwyn vor, Rourke zu ersetzen. Er sei mental und körperlich nicht in der Lage, die Rolle zu meistern. Das Ganze war wohl ein großes Missverständnis. In Goldwyns Firma scheint man sich Fallon wie einen dieser irgendwie flamboyanten, zu Wutausbrüchen neigenden Mafiakiller mit Rampensau-Instinkt vorgestellt zu haben, die man aus Hollywoodfilmen kennt. Rourke vermittelt aber den Eindruck, als würde er unter Schock stehen.

Fallon wirkt abgrundtief traurig und zugleich wie ein Mann, mit dem man sich besser nicht anlegen sollte. Er strahlt etwas Bedrohliches aus, ohne dafür herumbrüllen und die Augen rollen zu müssen, steht unter einer inneren Spannung, die er nur sehr dosiert nach außen trägt. Hodges fühlte sich durch die Kritik aus Hollywood in seiner Überzeugung bestätigt, dass Rourke von der schwierigen Rolle keineswegs überfordert war: "Da Rourkes Charakterisierung auf der Idee von einem Mann basierte, der einen Zusammenbruch erlitten, der seinen Glauben verloren hat, war die Meinung der Produzenten die triumphale Bestätigung einer außergewöhnlichen schauspielerischen Leistung."

Anders gesagt: Nicht Rourke ist mental und körperlich völlig ausgelaugt. Er spielt einen Mann, der das ist, und er macht es so überzeugend, dass der erschrockene Goldwyn Jr. offenbar den Darsteller mit der Rolle verwechselte. Mickey Rourke kommentierte den späteren Eklat mit der Bemerkung, dass die Produzenten nicht ihn, sondern Chuck Norris hätten engagieren sollen. Wenn man annimmt, dass Goldwyn einen eher eindimensionalen Actionhelden haben wollte und nicht einen Ex-Killer mit einem PTBS-Problem, der den Boden unter den Füßen verloren hat, wird verständlich, warum er Rourke am liebsten gefeuert hätte.

Wasser und Gebete für die Armen

Im Director’s Cut beginnt die Szene im Victoria Park mit Docherty, der - als Ire eingeführt durch ein paar sparsam eingesetzte Harfenklänge - unter Bäumen durch verwelktes Laub geht. Das Wehen des Windes und das Rascheln der Blätter sind gut zu hören. Hodges war das so wichtig, dass er eine Einstellung mit Dochertys Füßen im toten Laub einfügte. Hier wird vom Sterben und vom Tod erzählt. Man hört auch die Autos, die im Hintergrund vorbeifahren. Bei Hodges sind das Bild und der Ton auf eine sinnvolle, durch die Handlung legitimierte Weise verbunden. Es wird nicht geschummelt.

A Prayer for the Dying

In der Kinoversion leitet das unvermeidliche Hackbrett zu einer - immerhin halbwegs dezenten - Erregungsmusik über (Typ: "Vibrierende Spannung"), die den Film beschädigt, statt ihm zu nützen, weil man sie nicht braucht. Die Spannung steckt in den Bildern. Das Laub fällt auch in der Produzentenfassung noch von den Bäumen, doch das Rascheln der Blätter ist minimiert, genauso wie der Wind. Wer will schon Morbidität in einem Film, der vom Sterben handelt und von der Todessehnsucht eines Profikillers in der Sinnkrise, der das Morden nicht mehr ertragen kann? Also darf man jetzt das Zwitschern eines Vogels hören.

Der Director’s Cut ist ein Film der extremen, jedoch nie aufdringlichen Kontraste. Zwei Männer treffen sich in einem Park und reden über die vielen Toten, die sie auf dem Gewissen haben. Der eine hat eine Pistole mit Schalldämpfer einstecken. Man muss damit rechnen, dass er gleich versuchen wird, den anderen zu erschießen, obwohl sie beste Freunde sind. Hinter dem Gitter, das den Park von der Straße trennt, fahren pausenlos Autos vorbei. Der Alltag geht immer weiter. In der Produzentenfassung hat die Spannungsmusik den Verkehrslärm verdrängt. Das ist nicht derselbe Film.

Docherty möchte Fallon dazu bewegen, zurück nach Nordirland zu kommen und sich - als Abtrünniger, der zurück in die Gruppe will - einem Gericht der IRA zu stellen. Fallon versucht, Docherty zu erklären, warum er das nicht kann. Am Ende zieht der eine der beiden Freunde seine Waffe. Der andere kehrt ihm den Rücken zu, als könne ihm die Pistole nichts anhaben - oder als wäre es nicht mehr so wichtig, ob ihn die Kugel trifft oder nicht. "It’s alright", sagt Fallon mehrfach, aber natürlich ist gar nichts in Ordnung, weshalb diese Szene zwischen den beiden Freunden so abgrundtief traurig ist.

A Prayer for the Dying

Fallon geht mit schweren Schritten davon, gezeichnet von der Last der Vergangenheit (im Director’s Cut sind die Schritte schwerer, die seelische wie körperliche Erschöpfung größer). Docherty steckt frustriert und ratlos die Waffe wieder weg. Das ist so, als würde er sich selber in den Kopf schießen. In einiger Entfernung beobachtet Siobhan Donovan, was geschieht (Alison Doody wurde später als Nazi-Blondine in Indiana Jones and the Last Crusade bekannt). Im Director’s Cut hören wir das Krächzen von Krähen (Todesvögeln), wenn Docherty den Park verlässt. In der Kinoversion steuert Contis Spannungsmusik auf ein Crescendo zu, damit es wenigstens auf der Tonspur "Peng!" macht.

A Prayer for the Dying

Das extravagante Bauwerk im gotischen Stil, auf dessen Sockel Siobhan steht, ist ein Brunnen, der 1862 der Öffentlichkeit übergeben wurde. Als Hodges dort drehte hatte der Victoria Park etwas Morbides, weil kaum Geld da war, um den Verfall aufzuhalten. Der Brunnen war noch nicht renoviert und frei zugänglich; heute ist er eingezäunt, aus Angst vor Vandalismus. Gestiftet wurde er einst von der schwerreichen Philanthropin Angela Burdett-Coutts, deren Vater eines der ältesten Bankhäuser der Welt leitete (Stevensons Dr. Jekyll ist genauso Kunde bei Coutts & Co. wie Bram Stokers Dracula).

Den Bewohnern des East End, die sich im Victoria Park von ihrem harten Dasein erholten, sollte der Brunnen sauberes Trinkwasser spenden, und er sollte der Erbauung dienen. Darum ist er mit religiösen Sinnsprüchen verziert. Das Volk war undankbar, machte den Brunnen zum Versammlungsort bei Protestdemonstrationen gegen die menschenunwürdigen Lebensumstände im East End, die im als Brutstätte des Sozialismus geltenden Victoria Park ihren Ausgang nahmen. Im Londoner Osten war angesiedelt, was schlecht roch und giftig war und wodurch die Mittel- und die Oberschicht, die den Slumbewohnern zur Selbstoptimierung mittels des christlichen Glaubens rieten, nicht belästigt werden wollten.

Im Victoria Park wurde deshalb auch gegen die Heilsversprechen einer Religion agitiert, die es zuließ, dass die Kinder der Arbeiter in einer Welt leben mussten, in der es außerhalb des Parks kein Grün gab, nur qualvolle Enge, Elend und industrielle Verschmutzung. Prayer überträgt das in die Gegenwart. Man sieht ein London, das überwiegend dreckig ist. Religion und soziale Ungleichheit sind eng verbunden. Am saubersten ist es im Bordell, in dem die von Meehan bestochenen Politiker verkehren und in Meehans Bestattungsinstitut, in dem die Armen ihr Geld ausgeben, damit ihre Angehörigen wenigstens anständig beerdigt werden.

Tod im Hotel

Docherty also hat versagt. In der Lobby des Hotels, in dem Siobhan mit ihm abgestiegen ist, telefoniert sie mit ihren Chefs, um Instruktionen zu erhalten. Dann lässt sie die Rechnung fertig machen und geht in das Zimmer, in dem Docherty fernsieht und sich betrinkt. Sie schießt ihm in den Kopf, packt die Mordwaffe in ihre Reisetasche und verlässt das Zimmer, um auszuchecken. Vorher macht sie noch den Fernseher aus, in dem "For he’s a jolly good fellow" gesungen wird. In der Kinoversion läuft eine andere Sendung, ohne die guten Wünsche zum Geburtstag. Wahrscheinlich fanden die Produzenten das zu zynisch.

Zynisch ist aber die dargestellte Welt, nicht Hodges’ Film. Auch das Morden hat eine banale Seite. Siobhan könnte eine Geschäftsfrau sein, die noch einmal mit der Firmenzentrale Rücksprache hält, ehe sie einen Vertragsabschluss tätigt und dann nach Hause fährt. Im Director’s Cut endet die Szene mit einem Bild der absoluten Einsamkeit. Siobhan macht die Tür hinter sich zu. Zurück bleibt Docherty, der tot und mit einer Flasche Whisky in einer Ecke sitzt. In der Kinoversion wird auf eine halbnahe Einstellung mit Docherty geschnitten, ehe Siobhan die Zimmertür erreicht. Man sieht das Loch in seiner Stirn.

A Prayer for the Dying

Die Montage ist ziemlich ungelenk, mehr schlechtes Handwerk als geplanter Shock Cut. Mir kommt die Einstellung vor, als wäre sie für eine - im Schneideraum verworfene? - Szene mit dem Auffinden der Leiche gedacht gewesen. In der Fassung des Regisseurs gibt es sie nicht. Nichts lenkt da von Dochertys traurigem Ende ab. Die Produzenten waren vielleicht der Meinung, dass der Zuschauer sehen sollte, wo ihr Geld geblieben war. Jedenfalls wurde diese Maskenbildnereinstellung mit dem Einschussloch eingefügt, die an der Stelle mehr mit Schauwerten zu tun hat als mit Dramaturgie. Die Akzentverschiebung ist erheblich.

Hodges war die Nebenhandlung mit Docherty und Siobhan Donovan wichtig, weil sie jeden Versuch, die IRA zu romantisieren, wirkungsvoll unterläuft. Wer in dieser Organisation nicht bereit ist, den besten Freund zu erschießen, wenn die Führungsebene es verlangt, wird selbst wie ein Verräter behandelt, ermordet und zurückgelassen wie der Abfall, um den sich der Room Service kümmern kann. Romantisch ist da nichts. Man braucht kein ins Bild gerücktes Loch in der Stirn, um das zu verstehen. Wenn die Kugel in Dochertys Hinterkopf wieder austritt fliegen Federn aus seinem durchlöcherten Kopfkissen davon. Das reicht.

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