Vergessene Migration aus Belarus in die EU

Symbolbild: Chrisi Elliot/Pixabay.

Kalte Grenze im Schatten des Krieges: Deutlich mehr versuchte Grenzübertritte nach Polen, Litauen und Lettland. Es herrschen Minusgrade und Ablehnung.

Die Westgrenze von Belarus war vor einem Jahr Schauplatz dramatischer Szenen. Staatspräsident Aleksander Lukaschenko versprach Menschen in Afrika sowie im Nahen Osten einen problemlosen Transfer nach Westen.

Die EU- und NATO-Mitglieder Polen, Litauen und Lettland ließen die Migranten jedoch nicht hinein, sie bauten Zäune; dabei kam es zu gewalttätigen Szenen, die Bilder der verzweifelten Flüchtlinge gingen um die Welt (siehe dazu Festung EU: Die kalte Grenze).

Mit der russischen Invasion verschwand diese Grenze aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit. Zu Unrecht. Es mehren sich die Vorfälle von versuchten Grenzübertritten in allen drei Ländern. Und dies bei Minustemperaturen.

So meldet der polnische Grenzschutz allein für den 14. Dezember 50 Versuche. Die meisten Personen seien aus Syrien und Afghanistan. Ein 21-jähriger Mann aus dem Sudan wurde in Ostpolen nach muslimischen Ritus von Polen tatarischer Abstammung in der vergangenen Woche begraben. Der Afrikaner hatte von Belarus aus die Grenze überwinden können, er überlebte jedoch nicht die Kälte in dem verbliebenen polnischen Waldstück.

Dies schaffte Öffentlichkeit.

Die BBC berichtete aus der Ferne, wobei sie die polnische Aktivistin Kalina Czwarnog von der "Fundacja Ocalenie" (Stiftung Errettung) interviewte. Obwohl die Grenze durch einen über fünf Meter hohen Zaun gesichert ist, schafften es Flüchtlinge, die Absperrung zu überwinden, oder sie versuchten, durch den Fluss Bug zu kommen.

Pushback-Vorwürfe

Zudem fehlt im Bialoweza Urwald der Zaun. Die Aktivistin wirft den Grenzbeamten auf polnischer Seite Pushbacks vor, den weißrussischen Beamten nicht weiter definierte Brutalität. Viele Hilfsorganisationen schlagen ebenfalls Alarm. So auch die polnische Organisation "Grupa Granica" (Grenzgruppe): Sie sieht an der Grenze dringenden Handlungsbedarf.

"Wir erteilen mehreren Dutzend Personen jeden Tag Hilfestellung", so Marysia Zlonkiewicz, eine Aktivistin der "Grenzgruppe" gegenüber dem Autor dieses Beitrags. Die meisten Migranten würden aus Syrien und dem Jemen kommen.

Weiterhin erwarten wir von der polnischen Regierung, dass mit der Pushback-Praktik aufgehört wird. Sie ist unrechtmäßig und gefährdet das Leben der Flüchtlinge.

Marysia Zlonkiewicz

Besonders akut sei Hilfe notwendig, wenn Menschen durch den Bug schwimmen, was auch bei diesen Temperaturen noch geschehe.

Im Oktober und November habe die "Grenzgruppe" 1.104 Notrufe erhalten, 629 Personen sei geholfen worden. In dieser Zeit wurden 200 "Pushbacks" von ihnen dokumentiert. Einige dieser Praktiken wurden nachträglich von Gerichten als unrechtmäßig beurteilt. Seit der Migrationskrise im Mai 2021 seien 21 Personen in Polen im Grenzgebiet zu Tode gekommen sein.

Gegründet wurde die Organisation im Sommer vergangenen Jahres; als sich die humanitäre Krise anbahnte. Polen, Litauen, Lettland setzten gegen die Unwillkommen, Schlagstöcke, Wasserwerfer ein. Die Beamten wurden auf der anderen Seite durch Wurfgeschosse der Migranten und Latten verletzt.

Ungleichbehandlung und Propaganda

Während Ukrainer, die vor dem Krieg und zunehmend vor der Kälte in ihrem Land flüchten, in Polen Unterkunft und eine Personalnummer bekommen, um arbeiten zu können, ist die Grenze im Norden eine andere Welt. Um die tobt auch ein Propaganda-Krieg.

Das Innenministerium in Belarus beschwerte sich kürzlich, dass Polen und Litauen paramilitärische Truppen ausrüsten würden, um die russlandnahe Republik zu destabilisieren.

Auch zeigen die staatsnahen Medien in Minsk Migranten, die behaupten, von litauischen Grenzern geschlagen worden zu sein.

Der Vorsitzende des Menschenrechtskomitees des litauischen Parlaments, Vytautas Bakas, verlangt eine unabhängige Organisation, die mögliche Menschenrechtsverletzungen an der Grenze untersucht. Angeregt wurde dies auch von Amnesty International.

Doch von der EU-Kommission kommt bislang keine offizielle Kritik an den Pushback-Praktiken. Die Linke im Europaparlament sieht eine Systematik bei den Menschenrechtsverletzungen und sammelt Unterschriften, um ein Umdenken bei der EU-Kommission zu bewegen.

Litauen setzt bei seinem Grenzschutz auf CCTV – das Land will bis Ende des Jahres, die komplette Grenze mit der russlandaffinen Republik mit Kameraüberwachung abgedeckt haben.

Auch der in Finnland geplante Grenzzaun soll weniger mögliche russische Soldaten aufhalten, die mit schweren Fahrzeugen anrücken würden, als Migranten, die aus Russland anreisen könnten.

Auch Lettland registriert ein Ansteigen an illegalen Grenzübertritten.

Für diese drei Länder, die bereits viele Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen haben, kommt noch eine weitere Herausforderung hinzu.

Nach dem sogenannten Dubliner Übereinkommen von 1997 ist jedes Land im Schengenraum verpflichtet, den Asylantrag eines Migranten entgegenzunehmen, wenn dieser die EU-Grenze dort übertreten hat.

Über 350 Personen, welche zuerst nach Polen geflüchtet waren, wurden darum in den letzten Monaten aus Ländern wie Deutschland, Norwegen und Schweden wieder nach Polen überstellt, damit deren Verfahren dort stattfinden können.